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„Wollt ihr den totalen Krieg?“

Immer zahlreicher und immer erschreckender häufen sich die Parallelen des russischen Ukraine-Krieges zu früheren großen Konflikten. Ohne einem Geschichts-Determinismus das Wort zu reden und ohne die Unterschiede zu übersehen, sollte man sich spätestens seit Wladimir Putins Mobilisierung der beklemmenden, aber auch ermutigenden Fülle an historischen Assoziationen bewusst sein.

Die auffallendsten dieser Parallelen zeigen zumindest, dass man viel aus der Geschichte lernen könnte, dass sich einige Konstellationen auch wiederholen, wenngleich klar bleiben muss, dass sich die Geschichte nie sklavisch repetiert.

1. Es geht immer nur um den einen Mann

So wie Adolf Hitler macht Putin ein ganzes Land zur Geisel seiner imperialistischen Wahnideen. Putin behauptet, es ginge um Russland, so wie Hitler behauptet hatte, es ginge um Deutschland. Aber es ging jedes Mal immer ganz eindeutig nur um das Schicksal der Diktatoren und ihres engsten Klüngels, die zumindest ab der für sie negativen Wende des Krieges zu ahnen begannen, dass es für sie ganz persönlich kein gutes Ende mehr geben kann. Sie treiben den Krieg daher lieber bis zum bitteren Ende, statt die Notbremse zu ziehen, also als Verlierer, aber ohne weiteres Blutbad aus dem Krieg auszusteigen.

2. Die Selbstinszenierung

Hitler wie Putin haben sehr viel Wert auf die eigene Inszenierung gelegt. Diese war eine Mischung aus aufgesetztem persönlichen Charme und der zynischen Ausstrahlung von machistischer Brutalität. Vor allem gab es hinter ihnen keinen zweiten oder dritten Mann, ebensowenig wie ein Gremium, das sie absetzen hätte können, wie es im Kommunismus zumindest theoretisch das Politbüro gewesen ist.

3. Der totale Krieg

Je schlechter es Hitler beziehungsweise Putin auf dem Schlachtfeld ging, umso mehr trieben sie ihr Land in immer noch verheerendere Eskalationsstufen.

  • Bei den Nazis waren das etwa das Gebell "Wollt ihr den totalen Krieg?" durch Propagandachef Goebbels im Februar 1943, die im Laufe des Krieges immer mehr (jüngere und ältere) Jahrgänge erfassenden Einberufungsbefehle und schließlich der alle Männer erfassende "Volkssturm" am Ende.
  • Bei Putin war es zuerst der Versuch, über Söldnertruppen (die an die SS erinnern) und die Anwerbung von Kriminellen in Gefängnissen genügend Soldaten zu akquirieren. Und jetzt ist es die "Teilmobilisierung" als "erster Schritt". Was ganz eindeutig heißt, dass Putin selbst schon an weitere Schritte denkt, denken muss.

4. Die Mitschuld des Westens

Die Mitschuld der gesamten Außenwelt bestand bei beiden Diktatoren darin, dass eine ganze Reihe von Rechtsbrüchen und Aggressionen jahrelang mit Wegschauen beantwortet worden ist. Man wollte sich lange nicht in seinem bequemen Leben gestört sehen. Erst dieses Fehlen jedes frühen Widerstandes hat dann Hitler wie Putin zum großen Krieg so richtig ermuntert. Sie glaubten, es könne für sie und ihre Eroberungen immer so weitergehen.

5. Georgien und das Rheinland

Beispiele für diese lange in einer kurzsichtigen Appeasement-Politik ungestraft bleibenden Eroberungen:

  • Bei Hitler begann es 1936 mit der Besetzung des Rheinlandes, dann mit dem Einmarsch in Österreich und schließlich dem in der Tschechoslowakei.
  • Bei Russland begann es 2008 mit der Eroberung von zwei Teilen Georgiens (Südossetien und Abchasien), und dann 2014/15 durch die Eroberung der Krim und von Teilen der ostukrainischen Regionen Luhansk und Donezk.

6. Der erste Weltkrieg und Gorbatschow

Neben wirren nationalistischen Vorstellungen über die angebliche historische Herrschafts-Rolle der eigenen Nation und ihre übertriebene Bedeutung in früheren Jahrhunderten sind beide Diktatoren psychisch massiv von den Rückschlägen für die eigene Nation während ihrer früheren Lebensjahre geprägt. Beide waren – sei es als Weltkriegs-Soldat, sei es als KGB-Agent – jahrelang für diese Nation im Einsatz gewesen. Beide wollten die dabei verspürten Rückschläge und Demütigungen dann später kompensieren, als sie an der Machtspitze angekommen waren.

  • Für Hitler waren das die Niederlage im ersten Weltkrieg (die angeblich nur durch einen "Dolchstoß" im Rücken der kämpfenden Front zustande gekommen sei) und die (zum Teil tatsächlich bedenklichen) Pariser Vororteverträge.
  • Für Putin war es der fast lautlose Zerfall der Sowjetunion als Folge innerrussischer Vorgänge (die vor allem in der Reaktion Jelzins auf einen kommunistischen Putschversuch bestanden). Im Gegensatz zu Putins Geschichtsklitterungen spielte das Ausland, spielten die osteuropäischen Freiheitsbewegungen und die westliche Reaktion auf die sowjetische Rüstung zwar 1989 beim von Gorbatschow gnehmigten Zerfall des Kolonialreiches von Polen über die DDR bis Ungarn und Bulgarien eine Rolle, 1991 beim Zerfall der Sowjetunion selbst aber überhaupt nicht. Unklar ist nur, ob die beiden Ereignisse in Putins Rhetorik aus propagandistischer Absicht oder wegen einer psychologischen Selbsttäuschung durcheinanderkommen.

7. Hass auf die Demokratie - und Angst vor ihr

Hitler wie Putin schäumten vor Hass auf die westlichen Demokratien über. Einerseits, weil der Westen der einzige relevante Gegner war und ist, andererseits aber auch aus Angst davor, dass das eigene Volk selbst nach Demokratie verlangen könnte. Zugleich sind aber beide anfangs auf relativ demokratischem Weg an die Macht gekommen, den sie dann jedoch bald verlassen haben.

8. Die Lügen

Alle Propaganda-Lügen der beiden aufzuzählen, würde Bücher füllen. In den letzten Stunden ist mit besonderer Lautstärke vor dem ganzen russischen Volk durch den Mobilisierungsbefehl die Lüge Putins geplatzt, man führe keinen Krieg, sondern nur eine militärische Operation. Dabei sind zahlreiche Russen von Putins Schergen bisher bestraft worden, nur weil sie den Krieg als Krieg bezeichnet haben.

9. Die fünfte Kolonne der Diktatoren

Bis zum Ausbruch des Weltkrieges gab es durchaus aktive Gruppen von Nazi-Sympathisanten vor allem in Großbritannien und den USA. Putin hatte sogar noch nach Kriegsausbruch Sympathisanten, vor allem in deutschsprachigen Ländern, sowohl auf der äußersten Linken wie auch äußersten Rechten (die sich bekanntlich in der Geschichte oft inhaltlich berührt haben). Siehe etwa die Konflikte in der deutschen Linkspartei zum Russland-Krieg. Siehe auch die seltsame Rolle von FPÖ und AfD. Die "Alternative für Deutschland" hat erst diese Woche drei Abgeordnete zurückbefohlen, die sich hirnbefreit in den Dienst der russischen Propaganda gestellt haben und nach Donezk gereist sind.

10. Die Stimmung im Volk

Weder Hitlers noch Putins Krieg sind von Anfang an auf Begeisterung im eigenen Volk gestoßen, auch wenn ein großer Teil der Untertanen zweifellos anfangs auf einen Sieg gehofft hat. Stattdessen dominierten innere Verzweiflung und Angst, sich öffentlich zu äußern. Hitler hat von Anfang an jede Meinungsfreiheit erstickt, Putin macht das mit der gleichen Stoßrichtung, wenn auch ein wenig langsamer. Das unterscheidet sich sehr von der verbreiteten Kriegsbegeisterung in Österreich und Deutschland im Sommer 1914.

11. Der Verlust der Elite

Beide Diktaturen haben vor dem Krieg oder zu seinem Beginn entscheidende Teile der eigenen Elite verloren.

  • Bei Hitler geschah dies vor allem durch Judenverfolgung und Vertreibung.
  • Vor Putins Krieg sind – in rechtzeitiger Ahnung um drohende Einberufungen – in den letzten Monaten schon Hunderttausende Angehörige der technologischen Elite geflohen. Bei vielen anderen Russen kommen diese Fluchtversuche jetzt nach der Mobilisierung zu spät. Zugleich ist aber auch der Einreisestopp für Russen in etlichen EU-Ländern problematisch, weil dadurch noch weitere Putin-Gegner an der Flucht gehindert werden.

12. Churchill und Selenskyj

Das ist die vielleicht frappierendste Parallele, auf die man in diesen Wochen gestoßen ist. Der ukrainische Präsident gleicht nicht nur mit seinen charismatischen Auftritten, seinen Durchhalteappellen an die eigene Nation, sein tapferes Pendeln zwischen Hauptstadt und Front dem britischen Kriegspremier. Vor allem gleichen die beiden einander dadurch, dass sie viele Monate ganz alleine gegen ein schier übermächtiges Verbrecherregime zu stehen schienen. Selenskyj gelang es in dieser Zeit ganz ähnlich wie Churchill, die Außenwelt, vor allem die für Appelle an ihr Gerechtigkeitsgefühl und an ihre Hilfsbereitschaft immer sehr empfänglichen USA zu massiver Hilfe und Waffenlieferungen zu bewegen.

13. Amerikas Waffenlieferungen

Diese waren im zweiten Weltkrieg ebenso entscheidend wie im Ukrainekrieg.

  • Im zweiten Weltkrieg hat die Sowjetunion nur deshalb Hitler standhalten können, weil sie vor allem in der langen Zeit, da nur auf ihrem Boden gekämpft wurde, von den USA auf dem Weg über den Pazifik mit Waffen und Flugzeugen versorgt wurde.
  • Für die Ukraine ist 2022 nach der Hilfe aus den USA auch die Unterstützung durch Großbritannien und Polen sowie durch andere Ex-Opfer der Sowjetherrschaft fast ebenso wichtig gewesen (Überdies ist es heute nicht nur ein ukrainischer Scherz, sondern Tatsache, dass inzwischen die russische Armee durch zurückgelassene Bestände nach der ungeordneten Flucht der letzten Tage zum zweitwichtigsten, wenn auch unfreiwilligen Waffenlieferanten für die Ukrainer geworden ist). Von Deutschland fühlt sich die Ukraine hingegen teilweise im Stich gelassen.

14. Die Referenden

Selbst in ihren lächerlichen Versuchen, die eigenen Eroberungen nachträglich zu legitimieren, gleichen sich Hitler und Putin. Sie veranstalten Pseudoreferenden in den besetzten Gebieten, die absolut nichts mit einer freien Abstimmung zu tun haben, sondern peinliche Zwangsaktionen sind, wo es weder einen freien Wahlkampf noch geheime Abstimmungsmöglichkeiten noch die Teilnahmemöglichkeit für alle Bürger dieser Region gibt.

Das, was jetzt Putin in den Teilen der vorerst noch unter seiner Kontrolle verbliebenen vier ukrainischen Provinzen veranstaltet, ist noch blamabler als die sogenannte Volksabstimmung, die Hitler im April 1938 in Österreich durchführen ließ.

15. Vietnam und die Ukraine

Nicht nur mit dem zweiten Weltkrieg drängen sich in diesen Tagen Vergleiche auf, sondern auch mit dem Vietnamkrieg. Nach britischen Analysen – die von den Russen zugegebenen Zahlen sind natürlich deutlich niedriger – hat Russland seit Februar mit rund 55.000 Kriegsopfern ebensoviel Mann eingebüßt wie die USA im ganzen zehnjährigen Vietnamkrieg (der mit seinen Vorstufen sogar zwanzigjährig gewesen ist). Wer zugleich weiß, welche Erschütterung Vietnam für die  USA bedeutet hat, der kann ahnen, wie explosiv der Krieg und nun auch die russische Mobilisierung für Putin noch werden könnten.

Wahrscheinlich sind die Russen nicht so rebellisch, wie es die gegen den Vietnamkrieg rebellierende Baby-Boomer-Generation der USA gewesen ist. Aber auch die Russen des Jahres 2022 werden sich wohl nicht mehr so apathisch zur Schlachtbank führen lassen, wie es die Russen am Beginn der beiden Weltkriege mit sich geschehen haben lassen, die erst erwacht sind, als wirklich die russische Heimat letal bedroht gewesen ist.

16. Die Drohung mit schrecklichen Waffen

Fast bis in die letzten Kriegswochen hat Hitler den Kriegsgegnern mit seinen geheimnisvollen V2-Raketen gedroht und damit noch einmal etliche Besorgnis ausgelöst. Ganz ähnlich droht Putin regelmäßig mit seinen Atomwaffen, also dem Einzigen, wo er der Ukraine noch überlegen ist, seit die russische Luftüberlegenheit durch Abwehrraketen geschwunden ist. Auch diese Drohungen lösen zweifellos Ängste aus. Sie können die Ukraine aber keinesfalls in ihrer Kampfbereitschaft stoppen.

Der damit zusammenhängende Trick, die derzeit noch von Russland gehaltenen Teile der Ukraine rasch zu Teilen Russlands zu machen (angeblich auf Wunsch der dortigen Bevölkerung), die man dann – angeblich nach der russischen Verfassung – als Teil Russlands auch atomar verteidigen dürfe, ist völkerrechtlich völlig irrelevant.

Wahrscheinlich wird er von Putin vor allem deshalb angewendet, um seine Drohungen glaubwürdiger zu machen. Freilich gibt es bei einem ums persönliche Überleben kämpfenden Diktator nie Garantien dafür, dass er nicht im eigenen Untergang noch möglichst viele andere Menschen durch einen Atombomben-Einsatz mitzureißen versucht. Hitler hätte das wohl getan, wären die damaligen deutschen Bemühungen um Atomwaffen erfolgreich gewesen. Trotzdem wäre es Wahnsinn gewesen, Hitler den Krieg gewinnen zu lassen.

17. Die Verbündeten brechen weg

Je schlechter der Weltkrieg für Hitler gelaufen ist, umso rascher sind die früheren Verbündeten weggebrochen. Die bekanntesten Beispiele dafür sind Italien und Ungarn, die sich beide 1943 oder 1944 von Hitler abgewandt haben (und die daraufhin von den Deutschen noch einmal bis zum Kriegsende besetzt worden sind). Im Ukrainekrieg sind in den letzten Wochen jene Staaten, die Putin bisher verbal unterstützt haben, deutlich kühler geworden. Das trifft etwa auf China, die Türkei und Belarus zu, die alle keine Lust mehr zeigen, an der Seite des Verlierers zu stehen.

  • Belarus hat die offensichtlichen russischen Wünsche abgelehnt, selbst in den Krieg einzugreifen.
  • China betont nun im Gegensatz zu früherer Putin-Freundlichkeit "die souveräne und territoriale Integrität aller Länder".
  • Und am auffälligsten hat die Türkei ihre Position geändert: Sie fordert erstmals öffentlich den Abzug Russlands aus der ganzen Ukraine – ausdrücklich einschließlich der von Russland in einem einseitigen Akt schon annektierten Krim. Das mag zwar auch damit zusammenhängen, dass die Krim die Heimat der ethnisch verwandten Tataren gewesen ist; dennoch fällt auf, dass der türkische Machthaber diese Forderung erst jetzt öffentlich aufstellt, seit Russland auf der Verliererstraße scheint.

18. Der 20. Juli 1944

An jenem Tag ist es zum bedeutendsten Umsturzversuch im Deutschen Reich durch einen Hitler fast tötenden Bombenanschlag gekommen. So etwas gab es in Russland bisher noch nicht. Allerdings ist Wladimir Putin vorsichtshalber seit längerem nie in der Öffentlichkeit zu sehen gewesen. Ganz im Gegensatz zu den regelmäßigen Auftritten des ukrainischen Präsidenten. Es hat jedoch schon einige Anschläge gegen Putins Unterstützer gegeben. Der bekannteste hat die Tochter des Putin-Propagandisten und Ideologen Dugin getötet, hat aber wohl Dugin selbst gegolten.

19. Am Schluss ist fast immer die Motivation entscheidend

Auch wenn ein Krieg alles andere als eine demokratische Veranstaltung ist und sein Ausgang von vielen Faktoren bestimmt wird, so scheint am Schluss meist die innere Motivation der kriegführenden Völker entscheidend gewesen zu sein. Man denke daran, wie sehr die Nazis sich in den letzten Jahren nur durch den inneren Terror an der Macht gehalten haben. Man denke daran, wie der k. und k. Armee viele Nationalitäten am Schluss davongelaufen sind. Man denke an den mangelnden Kampfwillen der Amerikaner im Vietnam- und Afghanistan-Krieg.

Da spricht fast alles für die Ukraine.

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