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Empörung und Zorn über den Westen

In diesen Stunden wird man gleich mehrfach von massivem Zorn gepackt. Und zwar von Zorn auf den Westen, der vielen Millionen einst als die bestmögliche Form staatlichen Zusammenlebens erschienen war. Insbesondere EU und Nato erwecken derzeit Empörung – also jene beiden Institutionen, für die ich selbst in meinem Leben so oft eingetreten bin. Samt dem Verlangen nach einem Beitritt Österreichs. Aber das war noch eine andere Union, eine andere Nato. Beide beruhten noch auf einem funktionierenden Wertgefüge.

Der größte Anlass zur Empörung ist die feige und lendenlahme Nicht-Reaktion auf die türkische Invasion in die syrischen Kurdengebiete. Wenn die zivilisierte Welt einem solchen chauvinistischen Eroberungskrieg vor der eigenen Haustür tatenlos zuschaut, dann hat sie das Recht auf die Bezeichnung "zivilisierte Welt" verloren. Die Türkei bleibt trotz einer eindeutigen Kriegsschuld unverändert Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat.

Gewiss, strategisch bietet das türkische Territorium den Nato-Partnern etliche Vorteile, wegen der Kontrolle über den Zugang zum Schwarzen Meer und wegen zweier Luftstützpunkte. Aber ein so enges Bündnis, eine so enge Union kann nicht nur auf militärtaktischen Überlegungen gründen. Viel wichtiger ist die Ebene der moralischen und rechtsstaatlichen Zusammengehörigkeit. Nur eine solche kann ein glaubwürdiges emotionales Fundament für Solidarität bieten. Erst wenn es dieses gibt, sind gegenseitige Beistandsversprechungen glaubwürdig.

Dieser Beistand besteht bei der EU vor allem in viel Geld, in der totalen Offenheit eines Binnenmarktes und der Unterwerfung unter eine penible Judikatur. Im Fall der Nato besteht er im Gelübde, sich gegenseitig militärisch beizustehen, wenn ein Partner angegriffen wird, von wem auch immer.

Seit der Vorwoche ist jedoch völlig ausgeschlossen, dass auch nur ein einziges der übrigen Nato-Länder von seinen eigenen Soldaten verlangen kann, für eine Verteidigung der Türkei zu sterben. Genau darin aber besteht die Ultima Ratio der gegenseitigen Beistandsverpflichtung gemäß Artikel 5 des Nato-Vertrags. Ein Land, das so leichtfertig andere Länder angreift, kann keinen moralischen Anspruch auf Beistand haben, wenn es dann umgekehrt selber angegriffen wird.

Umso erstaunlicher ist es, dass auch jetzt noch kein Nato-Land sagt: Schluss – entweder die Türkei verlässt die Nato oder wir!

Daraus kann man eigentlich nur schließen: Sie nehmen selbst den Inhalt des Nato-Vertrags nicht mehr ernst.

Noch beschämender ist es, wenn die deutsche Bundeskanzlerin sogar Verständnis für die Sicherheitsinteressen der Türkei äußert. Als ob nicht noch jeder Aggressor der Geschichte behauptet hätte, er greife ja nur an, weil er zuvor selbst bedroht worden wäre. Dabei kann es überhaupt keinen Zweifel geben: Nicht die Existenz eines kurdischen Territoriums auf syrischem Boden bedroht die Sicherheit der Türken, sondern ihr eigenes Verhalten, ihre eigene Kolonialdiktatur gegenüber den Kurden.

Denn es war und ist die türkische Führung, die seit Generationen die Kurden wie Sklaven unterjocht hält und ihnen lange sogar die eigene Sprache verboten hat. Es ist der türkische Machthaber Erdogan, der immer wieder demokratische Oppositionspolitiker und unabhängige Journalisten unter hanebüchenen Vorwürfen einsperren hat lassen, der mit der Demokratie weitgehend Schluss gemacht hat, der gleichzeitig das eigene Volk chauvinistisch aufgeputscht hat.

Das hat jetzt etwa das Verhalten der türkischen Fußball-Nationalmannschaft besonders skandalös gezeigt: Die Spieler haben bei einem Länderspiel auf dem Spielfeld in einer demonstrativen Aktion geschlossen salutiert, um die türkische Invasion in Syrien zu unterstützen. Das ähnelt ganz jenen (nicht nur deutschen!) Sportlern, die in den 30er Jahren bei internationalen Wettkämpfen den Hitler-Gruß gezeigt haben.

Das wird auch genauso wie damals von vielen Sportfunktionären toleriert. Beschämend haben sich da etwa die Betreuer der deutschen Nationalmannschaft Löw und Bierhoff verhalten, die zwei türkischstämmige Spieler (Gündogan und Can) ausdrücklich in Schutz genommen haben, nachdem diese Salutier-Fotos im Internet "geliked" haben. Die beiden hätten eh wieder ihre Internet-Unterstützung zurückgezogen. Überdies hätten auch andere Spieler auf der Welt die Salutier-Fotos unterstützt. "Jetzt kann man nicht allen unterstellen, dass sie für Krieg und Terror sind."

Löw & Co verraten freilich nicht, was die ausdrückliche Zustimmung zu einem Foto mit salutierenden Fußballspielern in den Stunden eines türkischen Angriffskriegs denn anderes sein soll als eine öffentlich-demonstrative Unterstützung für diesen Angriff. Das ist es noch viel mehr, seit der türkische Fußballverband offiziell erklärt hat, dass der militärische Gruß den Soldaten der Invasion mit der zynischen Bezeichnung "Operation Friedensquelle" gewidmet ist.

Immerhin: Die beiden deutsch-türkischen Fußballer haben jetzt ihre "Likes" wieder zurückgezogen. Natürlich ganz freiwillig. Sie hätten, so behaupteten sie, keinesfalls ein politisches Statement abgeben wollen.

Das hat offenbar nur die türkische Propaganda aus ihren "Likes" gemacht …

Bei vielen anderen wartet man noch: Was ist etwa mit den türkisch-stämmigen Kandidaten auf der SPÖ-Liste? Hat auch nur einer von ihnen Kritik an Erdogan geübt? Und werden FIFA und UEFA jetzt die türkischen Spieler auf ein Jahr sperren, die da nicht nur eine "Like" gesetzt, sondern eben selber kriegshetzerisch salutiert haben?

Immerhin betonen ja diese Verbände ständig, dass in Fußballstadien keine politische Äußerung zulässig sei. Sie gehen auch sonst immer mit unerbittlicher Härte gegen das kleinste Zeichen von Politik vor. Andererseits haben es die Verbalhelden von der FIFA jetzt tatenlos hingenommen, dass Nordkorea bei einem offiziellen Länderspiel gegen Südkorea keinerlei Journalisten nach Pjöngjang einreisen lässt und auch keine TV-Übertragung erlaubt. Ein selbstbewusster Verband müsste solches Verhalten eigentlich mit einer sofortigen Sperre beantworten.

Aber auch von den Kirchen habe ich noch nichts zu dem türkischen Angriff gehört. Dabei wird in jeder Messe um den Frieden gebetet. Dabei sind jetzt durch den türkischen Einmarsch Zehntausende Christen in Todesangst, die durch die Kurden vor den (von der Türkei indirekt unterstützten) Islamisten gerettet worden waren. Aber freilich, der Papst muss gerade den Planeten retten, dem ein dubioses Computerprogramm den Untergang prophezeit hat. Da hat er halt keine Zeit mehr, Christen zu retten (es ist bekanntlich der gleiche Papst, der einst nach seinem Besuch auf einer griechischen Ägäis-Insel lauter islamische, aber keine christlichen Flüchtlinge mit nach Rom genommen hat …).

Freilich muss man zugeben, dass auch andere honorige Institutionen offensichtlich keine Probleme (mehr) mit Angriffskriegen haben. Sonst hätte Peter Handke niemals den Literaturnobelpreis bekommen dürfen.

Zurück zu Nato und EU: Ja, es ist richtig, dass der finale Verrat an den Kurden von Donald Trump begangen worden ist, der seine Soldaten nach dem Motto "Nicht unser Krieg" einfach abgezogen hat, nachdem sie gemeinsam gegen den "Islamischen Staat" gekämpft hatten. Aber ebenso richtig ist, dass Europa dem Kriegsgebiet viel näher liegt, dass nicht die USA, sondern vor allem Europa die Folgen der türkischen Invasion zu spüren bekommen wird. Denn viele der jetzt dank Erdogan freikommenden IS-Terroristen werden nach Europa ziehen, um dort ihr blutiges Missionierungswerk fortzusetzen.

Während bei den Fußballverbänden immerhin noch Resthoffnung auf eine starke Reaktion besteht, gibt es sie bei den Westeuropäern wohl nicht mehr. Bezeichnend für ihre Unfähigkeit war etwa die Tagung der EU-Außenminister: Sie sind lediglich übereingekommen, eine Zeitlang Waffenexporte an Ankara einzuschränken, beziehungsweise zu "überdenken". Das war alles. Feiger und tiefer geht’s nimmer.

Ach ja, sie haben auch beschlossen, die Sanktionen gegen den IS und Al Kaida fortzusetzen – für ein ganzes Jahr! Was soll eigentlich diese Befristung? Dürfen die Islamisten nachher wieder mit offiziellem EU-Sanktus morden?

Noch peinlicher der Nato-Generalsekretär Stoltenberg (ein Sozialdemokrat), der sogar ausdrücklich vor einer Anti-Türkei-Stimmung warnt. "Die Türkei ist wichtig für die Nato". Denn die Nato-Länder verwenden einige türkische Flughäfen für den Kampf gegen den IS. Dass die Türkei aber zugleich auch jahrelang islamischen Kampfeswilligen erlaubt hat, an diesen Nato-Stützpunkten vorbei zur Unterstützung des IS in den Krieg zu ziehen, stört Stoltenberg hingegen nicht. Ebensowenig, dass jetzt dank der Türkei ein Großteil der gefangenen IS-Kämpfer wieder freikommen und ganz Europa bedrohen werden. Nicht zuletzt Nato-Länder.

Die Bilanz der "Reaktion" der Westeuropäer: keine Spur von Handelssanktionen, von einem Waffenboykott, von einer Einführung von Visa-Pflichten, von einem Abbruch des Kandidatenstatus, von der Beschlagnahme der Konten von Erdogan-Günstlingen, von einer schärferen Beobachtung der hiesigen Türken-Communities usw.

US-Präsident Trump hat im Gegensatz dazu immerhin jetzt Strafzölle gegen die Türkei verhängt. Er will zwar keine US-Soldaten wegen fremder Händel gefährden und hat sie deshalb feige aus dem Kampfgebiet abgezogen. Aber immerhin tut er etwas, was dem Aggressor unangenehm ist. Die Westeuropäer sind nicht einmal dazu imstande.

Aber nicht nur die Nicht-Reaktion auf den türkischen Angriffskrieg macht zornig auf Europa. Dazu kommen auch noch andere Vorgänge der letzten Stunden.

Einer ist die Büßerreise von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zum französischen Präsidenten nach Paris. Der Anlass: Das EU-Parlament hat die französische Kandidatin für einen Sitz in der EU-Kommission wegen finanzieller Ungereimtheiten blockiert. Das Parlament lebt dabei wohl primär seine Machtbefugnisse aus, hat aber vielleicht auch recht mit seinen Vorwürfen.

Nichts aber rechtfertigt das eilfertige Verhalten der Kommissionspräsidentin: Denn sie ist nicht nach Ungarn oder Rumänien gereist, als deren Kandidaten im EU-Parlament ganz ähnlich wegen ebenso unklarer Vorwürfe abgelehnt worden sind. Diese Länder waren ihr völlig egal. Aber gegenüber Präsident Macron setzt Von der Leyen durch ihre Büßergeste sofort eine demütige Unterwerfungsgeste.

Das empört. Denn wir – und vor allem die Osteuropäer – lernen daraus deutlicher denn je: Die EU ist keine Union unter Gleichen, sondern ein Kondominium von Frankreich und Deutschland. Für die EU-Kommission gilt ein Parlamentsvotum gegen Frankreich offenbar als Mischung von Majestätsbeleidigung und Hochverrat. Mit den Kleinen darf man hingegen umspringen wie mit Schulbuben, insbesondere dann, wenn sie aus dem Osten kommen.

Außerhalb der EU zeigen sich Paris, Berlin und Kommission hingegen nur als ängstliche Mauerblümchen. Siehe ihre Nichtreaktion gegenüber der Türkei. Siehe ihre Ohnmacht in Sachen Ukraine. Siehe ihre Handlungsunfähigkeit in Hinblick auf die Kriegsgefahr im Golf.

Aber selbst innerhalb der EU sind Paris, Berlin und Kommission den mittelgroßen westlichen Staaten gegenüber völlig schmähstad. Etwa gegenüber Italien, das sich frech über die eigentlich verpflichtenden Defizit-Limits hinweggesetzt hat. Oder gegenüber Spanien, das jetzt Westeuropas ungeheuerlichsten politischen Schauprozess seit Jahrzehnten veranstaltet hat.

Spaniens Oberstes Gericht – ja, es nennt sich wirklich "Gericht" – hat jetzt neun katalonische Politiker zu skandalösen Strafen von 9 bis 13 Jahren verurteilt. Dabei haben die Verurteilten nichts anderes getan, als ein Referendum über die offensichtlich von der Mehrheit der Katalanen ersehnte Unabhängigkeit durchzuführen. Sie haben keinerlei Gewalt angewendet, sondern lehnen nur die spanische Kolonialherrschaft ab.

Ist das alles eine EU, in der man gerne lebt? In Stunden wie diesen sicher nicht. Letztlich fühlen sich die Katalanen in Spanien gegen ihren Willen genauso versklavt wie die Kurden in der Türkei. Dieses EU-Europa schreibt zwar Österreich vor, wie es im Beamtendienstrecht das Dienstalter zu berechnen hat, und dass es deutsche Studenten aufnehmen muss, auch wenn deren Noten zu schlecht sind, um daheim studieren zu können. Dieses EU-Europa verurteilt Polen wegen des Pensionsantrittsalters der Richter. Aber gegen die schweren Menschenrechtsverletzungen in Spanien sagen weder Kommission noch die beiden Kondominium-Herrscher auch nur ein Wort. Und auch gegen die schweren Menschenrechtsverletzungen in der Türkei unternehmen sie nichts. Obwohl es da um tausendmal gewichtigere Dinge geht.

Das ist zutiefst frustrierend und deprimierend.

Wie kann man da eigentlich noch ständig von uns verlangen, an dieses Europa zu "glauben", das schikanös im Kleinen und unfähig im Großen ist?

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