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Nicht nur die Briten haben schwere Fehler begangen

Es ist die dümmste Reaktion auf das Brexit-Chaos, sich jetzt einseitig über die Briten lustig zu machen, sie als alleinige Schuldige an diesem Chaos hinzustellen, wie es zahllose Medien tun. Das ist doppelt dumm: Denn zum einen sind die Rest-EU-Länder sowie die Brüsseler Kommission an diesem Chaos und dem immer wahrscheinlicher werdenden Austritt der Briten in hohem Ausmaß mitschuld. Und zum anderen ist auch für die Resteuropäer der Verlust der Briten die größte Katastrophe in der Geschichte der europäischen Integration.

Immerhin macht die britische Wirtschaftsleistung ein Sechstel der gesamten EU aus. Immerhin ist die britische Wirtschaft nicht nur die zweitgrößte, sondern auch eine der kompetitivsten in Europa. Immerhin halten die Briten überdurchschnittlich korrekt die Regeln in der EU ein.

Auf die sich in Großbritannien selbst abspielende Groteske braucht nicht allzu breit eingegangen zu werden, weil sie ja derzeit überall dargestellt und diskutiert wird. Es gibt jedenfalls nur drei denkbare Möglichkeiten, welchen Weg die Briten gehen könnten. Aber gegen jede dieser drei Möglichkeiten gibt es skurrilerweise eine Mehrheit im Unterhaus. Also:

  • gegen den von Premierministerin Theresa May und der EU ausgehandelten Austrittsvertrag für einen geregelten Brexit;
  • gegen einen harten, ungeregelten Brexit – der aber als Redundanzlösung eintritt, wenn es nicht im letzten Augenblick irgendeine andere Vereinbarung geben sollte;
  • und gegen ein zweites Referendum, das den Austrittsbeschluss des ersten Referendums aushebeln könnte.

Aber es gibt keine Mehrheit FÜR irgendetwas.

Die sich nun abzeichnende Verschiebung des Austrittsdatums ist alles andere als eine Lösung. Sie bringt zwar momentan Erleichterung, aber sie ist wie die Verschiebung einer Krebsoperation: Der Krebs ist ja dadurch nicht geheilt, sondern er droht nur zu metastasieren. Auch meine lang gehegte Hoffnung, dass man sich unter dem Druck des letzten Augenblicks doch noch auf etwas einigen wird, zerschlägt sich von Stunde zu Stunde immer mehr.

Höflich ausgedrückt: Das ist alles andere als eine demokratische Sternstunde für die älteste Demokratie der Welt. Das britische Unterhaus zeigt sich entscheidungsunfähig.

Von vielen Berichterstattern völlig unter den Tisch gekehrt werden aber die ebenso schlimmen Fehlleistungen der EU, die genauso wie die britische Zerrissenheit zu dieser Situation geführt haben. Daher sollte doch deutlich an diese erinnert werden:

1. Die Fülle europäischer Regelverletzungen

Brüssel und die übrigen Mitgliedsstaaten haben seit Jahren völlig das Anwachsen einer EU-kritischen Masse im Vereinigten Königreich ignoriert. Die EU ist ständig als deutsch-französisches Duumvirat erschienen, während die Briten an den Rand gedrängt worden sind.

Zugleich haben die Mittelmeerländer die eigentlich verpflichtende Budgetdisziplin seit Jahren ignoriert. Kommissionspräsident Juncker hat sogar offen gesagt, dass für die Franzosen andere Regeln gelten würden als für alle anderen – und das war nicht nur ein Scherz.

Das alles hat die Briten zunehmend empört. Haben sie doch verbindliche Regeln immer viel ernster genommen als viele südeuropäische Länder. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Briten a priori möglichst wenig Regeln eingehen wollten, dass sie sich dem Euro und der Währungsunion überhaupt bewusst ferngehalten haben.

Aber sie waren ja nicht blind, als Griechenland, Italien oder Belgien mit Zustimmung der EU-Kommission in die Euro-Währungsunion aufgenommen wurden, obwohl sie satte dreistellige Verschuldungsprozentsätze hatten – während die sogenannten Maastricht-Kriterien eigentlich 60 Prozent als verbindliche Höchstgrenze vorgesehen hatten. Sie sahen: Nicht einmal die EU-Kommission nimmt die Vereinsregeln wirklich ernst

2. Der Schock der Völkerwanderung

Zum zweiten spielte ganz entscheidend der historische Zufall eine Schlüsselrolle beim negativen Ausgang des Referendums: Denn das Brexit-Referendum fand im Juni 2016 statt – und ausgerechnet in den zwölf Monaten davor hatte die illegale Migration von Moslems und Afrikanern übers Mittelmeer nach Europa einen absoluten und schockierenden Höhepunkt erreicht. Nicht nur die Österreicher, auch die Briten waren von den Fernsehbildern schockiert, als anmarschierende Massen eine Handvoll österreichischer Polizisten an der Grenze einfach beiseiteschoben und hereinmarschierten.

Dieser zeitliche Zusammenfall war zwar ein Zufall, aber es war ein bezeichnender Zufall. Denn diese zwölf Monate zeigten den Briten mit großer Eindringlichkeit, dass die Kontinental-Europäer nach den massiven Rechtsverletzungen rund um den Euro auch noch in einem weiteren zentralen Gebiet ein versagender Haufen sind.

Zwar haben die Engländer am Ende ihrer Kolonialzeiten ebenfalls Massen aus Afrika und Asien in ihr Land gelassen. Aber:

  • Diese waren damals großteils legal gekommen;
  • Die Briten haben inzwischen längst die Lektion aus jenen Jahren gelernt und sind heute extrem restriktiv bei allen Immigrationsversuchen;
  • Die Briten haben den Franzosen schon jahrelang und konsequent gesagt: Die Tausenden Illegalen, die rund um Calais campieren und die eigentlich nach England wollen, werden wir nie hereinlassen.

Angesichts dieser Vorgeschichte und angesichts der Schockbilder gerade auch aus Österreich war die emotionale Reaktion der Briten nachvollziehbar. Sie sagten mehrheitlich: Wir wollen nicht bei einer solchen Union bleiben, deren Mitgliedsländer nicht einmal die eigenen Grenzen schützen können oder wollen, in die einfach unkontrolliert Millionen Nichteuropäer einmarschieren

3. Die Briten lehnen das Ziel der ständigen Vertiefung ab

Zum Dritten: Die EU hat sich in den letzten 20 Jahren in eine völlig andere Richtung entwickelt, als die Briten wollten. Vor allem die sechs Gründungsmitglieder der Brüsseler Gemeinschaft haben das Ziel durchgesetzt, dass die Union ständig immer enger zusammenwachsen soll. Als Fernziel träumen sie von der Bildung der Vereinigten Staaten von Europa (auch wenn sie diesen Ausdruck nur selten in den Mund nehmen). Bei dieser Zielsetzung ist Frankreich federführend – wie es auch jetzt wieder mit dem sogenannten Macron-Plan auf eine weitere massive Vertiefung der EU hinzielt.

Die Deutschen haben zwar – im Wissen, dass sie dann ständig die Rechnung für die Misswirtschaft in den romanischen Ländern bezahlen müssen – bisweilen zu bremsen versucht. Aber sie waren beim Bremsen nicht sehr erfolgreich. So stimmten sie in den 90er Jahren dem alten französischen Verlangen der Zusammenführung der Währungen zu. Das Motiv war klar: Deutschland erkaufte sich damit, dass die EU-Partner keinen Widerstand gegen die deutsche Wiedervereinigung leisten, auch wenn die Deutschen in Wahrheit viel lieber weiter die D-Mark gehabt hätten.

Die Briten hingegen waren zwar sehr am Freihandel in der EU interessiert, an einer echten Wirtschaftsgemeinschaft. Aber sie wollten keinesfalls eine Währungsunion. Das hat logischerweise eine innere Entfremdung zu den Euro-Ländern gebracht.

4. Problemzone Personenfreizügigkeit

Die Briten waren darüber hinaus auch skeptisch bei der vierten Säule des Binnenmarktes, nämlich der vollen Personenfreizügigkeit für EU-Bürger innerhalb der Union. Aus einem klaren Grund: In kein anderes Land strömten so viele EU-Bürger wie nach Großbritannien.

Das hängt mit der großen inneren Freiheit auf den Inseln zusammen, und noch mehr mit der Tatsache, dass Polen & Co halt sehr oft nur Englisch als Fremdsprache gelernt haben und daher am liebsten nach England gehen.

5. Kein Entgegenkommen Brüssels und Berlins

Die EU ist jedenfalls den Briten bei all ihren Sorgen und Anliegen viel zuwenig entgegengekommen, obwohl sich etwa die ungehinderte Personenfreizügigkeit ohnedies immer mehr als Problem erweist, obwohl diese keineswegs unverzichtbar für eine funktionierende Wirtschaftsgemeinschaft ist.

Das ist ein schweres Versagen vor allem auch der Deutschen, die eigentlich inhaltlich viel Sympathien mit den Briten haben müssten. Und die vor allem das wichtigste und stärkste EU-Land sind. Aber die Deutschen haben eine Regierungschefin namens Angela Merkel, die in ihrer Regierungszeit schon so viel falsch gemacht hat, dass ihr Versagen auch in Sachen Großbritannien gar nicht mehr auffiel.

Außerdem sind die Deutschen in den letzten Jahren nicht einmal mit den eigenen Problemen (Atomausstieg, Kohleausstieg, Migration, Verfall von Infrastruktur und Bundeswehr, Aufstieg der AfD, Dieselkrise, Spannungen mit Donald Trump) fertig geworden. Sie wollten daher, nachdem sie ohnedies schon jahrelang die vorderste EU-Spitze im Ringen mit dem schwer verschuldeten Griechenland gewesen waren, nicht noch ein weiteres EU-Problem übernehmen, das sie mit den Franzosen übers Kreuz gebracht hätte.

All diese Fehler der Vorreferendumszeit widerholten sich dann bei den Verhandlungen über einen Brexit-Vertrag. Bei diesen Verhandlungen wurde ganz eindeutig das Hauptmotiv der EU spürbar: Allen Mitgliedsländern sollte gezeigt werden, wie schlecht es einem Land ergeht, das austritt. Auch wenn es niemand offen aussprach, war das Motiv klar: Die Briten sollten für alle sichtbar bestraft und gedemütigt werden.

Was gelungen ist. Nur hat sich die EU dabei mindestens im gleichen Ausmaß auch selber bestraft und gedemütigt.

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