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Operettenputsch mit Papiertiger und Zauberlehrling

Jeder Autor eines Romans hätte vom Verlag sein Stück voller Verachtung zurückgeschmissen bekommen, hätte er das zu Papier zu bringen gewagt, was sich in der russischen Wirklichkeit in den letzten Stunden abgespielt hat. Und was sich wohl in den nächsten Stunden und Tagen noch weiter abspielen wird.

Es war seit längerem zu erwarten, dass Wladimir Putin nur dann ins Wanken kommen kann, wenn sich in der Führungsspitze jemand gegen ihn erhebt. Ein Diktator wie er braucht keine Wahlniederlage, keine Volkserhebung von unten zu fürchten, umso mehr muss er mit einem Konflikt zwischen den einzelnen Machtakteuren im Inneren rechnen. Man blicke etwa auf die schlimmsten Diktatoren der jüngeren Geschichte zurück. Keiner ist ins Schleudern gekommen, weil sich das geknechtete Volk erhoben hätte. Es war dazu leider sowohl in der Sowjetunion wie auch im Nationalsozialismus außerstande.

  1. Die größten inneren Erschütterungen für die kommunistische Diktatur der Sowjetunion waren vielmehr erstens die Machtkämpfe zwischen den Gewaltherren Lenin, Stalin und Trotzki; zweitens die Post-mortem-Abrechnung des von Stalin selbst eingesetzten Massenmörders Chruschtschow mit den Brutalitäten das Stalinismus; und drittens der Putschversuch einiger KP-Spitzen gegen Gorbatschow und Jelzin. Am Ende war die Sowjetunion Geschichte.
  2. Ganz ähnlich ist auch ein Adolf Hitler im Inneren nur durch Auseinandersetzungen innerhalb der Machtelite ins Schleudern gekommen, nicht durch das leidende Volk. Am Beginn seiner Herrschaft stand da der sogenannte SA-Putschversuch – wobei bis heute allerdings nicht klar ist, wie viel davon wirklich und wie viel inszeniert gewesen ist, um einen Vorwand für eine Nazi-interne Säuberung zu haben. Das zweite Mal waren es dann einige Monate vor Ende des Krieges im Juli 1944 heldenhafte Teile der deutschen Armee, die es fast geschafft hätten, den Diktator zu beseitigen.
  3. Wenn man weiter in der Geschichte zurückgehen will, um nach Vergleichen zu suchen, wird man auch auf die Französische Revolution stoßen, wo sich die Gewalt- und Machthaber gegenseitig umbrachten – bis dann ein General der Armee namens Napoleon für Ordnung sorgte.

Bei Wladimir Putin ist es nicht anders. Alle demokratischen Bestrebungen hat er locker unterdrücken, umbringen oder einsperren können. Die bisher größte Gefahr für sein System schien in den letzten Stunden vielmehr durch einen von ihm selber gemachten Söldnerführer gekommen zu sein. Putin hat sich ganz eindeutig vor Jewgeni Prigoschin gefürchtet, wie nicht nur seine angsterfüllte Rede an die Nation während des eintägigen Putschversuches gezeigt hat. Das hat man auch daran ablesen können, dass er reihenweise mit dem Ausland telefoniert hat. Das macht man nicht, wäre Prigoschin bloß ein undisziplinierter Offizier gewesen, den man nur zur Rechenschaft ziehen muss.

In Wahrheit ist dieser primitiv, ein Choleriker, Chaot und Narr gleichzeitig. Dementsprechend hat er nur einen Operettenputsch zusammengebracht, der freilich nicht einmal für drei Akte gereicht hat. Denn alles deutet daraufhin, dass die Putschisten deshalb den Putsch rasch wieder abbrachen, weil sie nach 24 Stunden einfach schlafen gehen wollten. Prigoschin ist ein solcher Narr, dass er geglaubt hat, er braucht nur ein paar aufrührerische Reden zu halten und schon werden sich ihm weitere Teile der Armee und des Machtapparates anschließen.

In der Operette wäre er der Spaßmacher im Dritten Akt, der dann für die wahre Geschichte unbedeutend bleibt. Für Putin war er aber der Zauberlehrling, der sich selbständig gemacht hat – ganz wie Prigoschins "Kollege" in der Ballade von Goethe. Er ließ sich einfach nicht mehr in die Ecke stellen, als er Putin zu gefährlich, zu wenig lenkbar geworden, zu sehr außer Kontrolle geraten war.

Es ist ganz typisch für Diktatoren, dass sie nach der Regel "Teile und Herrsche" arbeiten. Zwar sind sie alle paranoid, aber Putin ist das ganz besonders. Er hat sich genauso vor dem Corona-Virus gefürchtet wie vor einer Meuterei der Armee. Er ist im Unterschied zu Prigoschin und dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj auch nie an die Front zu den kämpfenden Soldaten gegangen. Statt dessen war er auf den vermeintlich schlauen Gedanken gekommen, mehrere Machtelemente gegeneinander auszuspielen: die Armee, die Geheimdienste, den Regierungsapparat und mehrere Söldnertruppen wie die Wagner-Truppe oder die Tschetschenen.

Putin hat letztlich ganz persönliche Angst bekommen vor einer Konfrontation mit der Progischin-Truppe. Sonst hätte er nie und nimmer zugestimmt, dass die Aufrührer einfach abziehen dürfen. Dahinter kann nur Angst stehen, denn bei einem alten russischen Geheimdienstmann sollte man keinesfalls sonderliche humanitäre Anwandlungen erwarten. Aber Putin fürchtete Prigoschin, obwohl der wirklich nicht mehr als ein Zigeunerbaron wie bei Johann Strauss ist.

Das alles ist logische Folge der Einsamkeit jenes Mannes an der Spitze, der alle wichtigen Entscheidungen an sich gezogen hat, der vor allem den Krieg in der Ukraine selbst losgetreten hat. Sobald dieser Krieg schlecht zu laufen begonnen hat, verdoppelte sich der Verfolgungswahn des obersten Kriegsherrn. Da gelingt es plötzlich nicht mehr, die vielen Kräfte zu bändigen, die er geglaubt hat, unter Kontrolle halten zu können.

Ganz Russland weiß jetzt, dass Putin ein Feigling ist. Er ist nicht imstande, Aufrührer, die ihn demütigen, binnen kurzem zur Ordnung zwingen zu können, sondern schließt einen Pakt auf Augenhöhe, bei dem sich der oberste Rebell vereinbarungsgermäß ins Ausland absetzen kann; und niemand erleidet die furchtbaren Höllenstrafen, die Putin allen Sympathisanten der Wagner-Truppe angedroht hatte.

Putin hat sich als Papiertiger erwiesen, der sich bei Gefahr gerne versteckt.

Das wird ihm dauerhaft nachfolgen. Seit einem Dreivierteljahr hat er sich von seinem ehemaligen Koch auf der Nase herumtanzen lassen, hat ihn mit Waffen ausgestattet, hat ihm erlaubt, ständig die Armeeführung zu beleidigen.

Und jetzt die totale Hilflosigkeit bei einer wirklichen Rebellion. Das ist so absurd, dass man sich bei allen künftigen Vorgängen fragen wird: Wer in Russland soll Putin noch ernst nehmen oder gar fürchten? Diese Performance – Kriegsführung, Zwangsrekrutierungen, Fehlschlag des Intrigenspiels durch Einsatz mehrerer verfeindeter Armeen – ist zu jämmerlich, als dass Putin sie dauerhaft überleben kann.

Er ist in den Augen der Innen- und Außenwelt als Papiertiger entlarvt. Als Wesen,

  • das sich nicht gegen Meuterer durchsetzen kann;
  • das einen Mann wie den von ihm bisher immer geringschätzig behandelten Mann wie den Belarus-Staatschef Lukaschenko als Vermittler mit Rebellen benötigt;
  • das hinnehmen musste, dass sogar Moskau ein paar Stunden lang durch tausende Angreifer bedroht gewesen ist;
  • das einen sinnlosen Krieg auslöst und diesen dann nicht einmal zu gewinnen vermag;
  • das Aufrührern, also Verbrechern Straflosigkeit zusichert;
  • das sich von einem Narren vorführen lässt.

Das wird nun wohl etliche andere Gruppen motivieren, die Putin zu jagen oder zu entmachten versuchen. Aber nicht nur Putin ist endgültig entzaubert, sondern auch die russische Armee, die sich von der deutlich kleineren Ukraine-Armee und der noch viel kleineren Wagner-Truppe so jämmerlich vorführen hat lassen (müssen).

Zwar deutet nur sehr wenig darauf hin, dass die an der unternationalen Gerüchtebörse kursierende Version stimmt, Prigoschin sei vom CIA gekauft worden (was ja eigentlich ein genialer Schachzug des US-Dienstes gewesen wäre). Aber dennoch werden künftig mit Sicherheit die russischen Soldaten noch viel weniger engagiert gegen die Ukraine kämpfen, als sie es bisher schon getan haben. Daher kann man fast mit Sicherheit davon ausgehen, dass die bisher nur relativ mühsam vorangekommene ukrainische Gegenoffensive in den nächsten Wochen weit vorankommen wird.

Zwar taucht für den Fall einer solchen Entwicklung dann immer die Gefahr eines Atombombeneinsatzes durch Russland auf. Doch scheint die nach der Putin-Blamage im Operettenkrieg eher kleiner geworden zu sein. Es ist durchaus wahrscheinlich geworden, dass in der Armee ein eventueller diesbezüglicher Befehl Putins ignoriert würde. Außerdem scheint Putins Paranoia gegen einen Atombombeneinsatz zu sprechen. Denn er muss ja immer befürchten, dass dann eine Vergeltungsbombe auf seinem Kopf landet.

All das über Putin zuvor Gesagte gilt auch dann, wenn der Friedensschluss nur eine Falle sein sollte, was durchaus nicht unwahrscheinlich ist, dass also Prigoschin in Bälde etwa in Belarus festgenommen werden wird. Dann erweist sich Putin zusätzlich als unehrenhaft – und niemand kann der Ukraine ehrlicherweise raten, mit so einem Mann einen Friedensvertrag zu schließen.

Der größte Sieger der letzten Monate sitzt aber eindeutig in Peking.

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