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Die Sehnsucht nach Autorität

Großbritannien hat uns die größte Inszenierung der Weltgeschichte geschenkt, die jeden Theater- und Opernregisseur zu einem Vorstadtwurstel reduziert. So kann man mit Fug und Recht die tollen Bilder und Szenen vom Begräbnis der englischen Queen bewerten. Aber ebenso kann man die Vorgänge der letzten Tage auch ganz anders interpretieren: als eine emotionale Demonstration von Millionen Menschen. Diese Demonstration hat ganz eindeutig auch politisch Bedeutung – aber nicht als Kundgebung für eine Partei oder für Politiker, sondern für umso klarer gefühlte Werte.

Die Bedeutung dieser Demonstration lässt sich am klarsten durch die Gegenprobe erkennen: Wie viele Menschen würden sich mehr als eine Nacht lang bei kühlem Wetter anstellen, um ein paar Sekunden am Sarg eines österreichischen, deutschen oder italienischen Staatsoberhaupts vorbeigehen zu können, oder um einen Blick auf den Vorbeizug des Trauerkondukts für einen demokratisch gewählten Präsidenten zu erhaschen?

Was war nun das Besondere an dieser Königin, an dieser Verabschiedung? Das war gleich eine ganze Reihe von Faktoren, deren Zusammenwirken erst zu dieser Bedeutung und Dimension geführt hat.

  1. Ein wichtiger Faktor – aber eben nur einer – war die Person der Verstorbenen. Sie war die längstdienende britische Monarchin. Sie hat ihr Amt mehr als 70 Jahre untadelig ausgefüllt.
  2. Ihre Aktivitäten reichen in den für die Briten so prägenden Weltkrieg zurück, wo sie schon eine kleine, aber durchaus beachtete Nebenrolle im heroischen Durchhaltekampf des Winston Churchill gespielt hat, des wichtigsten europäischen Staatsmanns des 20. Jahrhunderts.
  3. Ein weiterer mit ihrer Person zusammenhängender Faktor war ihre große Disziplin und Pflichterfüllung. Die Briten haben diese geschätzt und wirklich als Dienst an der Nation empfunden. Sie nehmen deshalb in ihrer Mehrheit den Prunk und die Kosten der Monarchie hin (die außerdem als touristischer Faktor auch sehr viel einspielen).
  4. Ein für Großbritannien ganz zentraler Faktor ist die ehrwürdige und mit der Monarchie verbundene Geschichte, die tief ins Mittelalter zurückreicht  von den Gebäuden bis zur (ungeschriebenen) Verfassung. Diese Kontinuität verkörpert sich auch in unzähligen Bräuchen (selbst wenn diese zum Teil erst im 19. Jahrhundert er- oder wiedergefunden worden sind). Großbritannien wurde nie (zumindest nie dauerhaft) Objekt von Revolutionen, wie sie etwa in Österreich, Deutschland, Italien oder Frankreich mehrmals alles auf den Kopf gestellt und jede Kontinuität unterbrochen haben.
  5. Dennoch hat sich die englische Verfassungsrealität ständig gewandelt. Schritt für Schritt ging die Monarchie teils freiwillig, teils gezogen den Weg von der absoluten Herrschaft in eine absolute Demokratie mit. Die Briten konnten dabei auch (viele) schlechte Herrscher überwinden, deren Spuren wir heute fast nur noch durch Shakespeare kennen.
  6. Das britische Königreich hat zugleich mit der Magna Charta und den Habeas-Corpus-Akten die ältesten Grundrechte in eine Welt gebracht, wo es bis dahin de facto nur das – lediglich durch das Christentum konterkarierte – Prinzip der Willkür gegeben hat.
  7. Die Briten können auch stolz darauf sein, dass sie eine entscheidende Rolle beim Niederringen kontinentaleuropäischer Eroberer von Napoleon bis Hitler gespielt haben – und auch bis Putin, waren sie doch unter Johnson die ersten Helfer der Ukraine. Sie sind aber darüber hinaus, was noch erstaunlicher ist, zu sehr selbstkritischen Debatten (freilich nur einer intellektuellen Minderheit) imstande, ob sie nicht im ersten Weltkrieg auf der falschen Seite gestanden sind.
  8. Zugleich zeigen die Briten die wahrscheinlich für die seelische Gesundheit einer Nation hilfreiche Fähigkeit, einstige Verbrechen der Vergangenheit völlig auszublenden, zu ignorieren, zu verdrängen. Siehe etwa die Eroberungsfeldzüge in der Dritten Welt, die das Empire erst ermöglicht haben, siehe etwa die britische Rolle bei der Sklaverei.
  9. Zu den Besonderheiten der britischen Monarchie zählt noch mehr als die historischen Machtkämpfe insbesondere die einstige Größe des Empire, das noch vor einem Jahrhundert des größte einer einzigen Herrschaft unterstehende Gebiet der ganzen Weltgeschichte gewesen ist. Und noch am Beginn der Regentschaft von Elizabeth II. war viel dieser Größe zu sehen gewesen.
  10. Und auch wenn unsere heutige Geschichtssicht den Kolonialismus automatisch verurteilt, so sehen viele der ehemaligen Kolonien die britische Zeit keineswegs nur negativ. Jedenfalls sind heute noch rund 30 Prozent der Weltbevölkerung freiwillig Teil des Commonwealth, eines zwar informellen, aber emotional wichtigen und durch etliche Veranstaltungen lebendigen Zusammenschlusses gleichberechtigter Nationen. Dessen Wert ist umso größer, als sogar etliche Staaten, die nie britische Kolonien waren, inzwischen zu diesem Commonwealth dazugestoßen sind.
  11. Eine erstaunlich kleine Rolle beim Queen-Begräbnis bildete hingegen die Tatsache, dass die englische Königin darüber hinaus in über einem Dutzend Länder auch Staatsoberhaupt gewesen ist (wenngleich de facto überall von einem Gouverneur vertreten). Allerdings ist durchaus möglich, dass da jetzt einige Länder einen sanften Abschied vom neuen König nehmen werden. Angesichts dieser heiklen Frage hat man beim Begräbnis ganz offensichtlich die Rolle der Königin als Multi-Staatsoberhaupt kaum erwähnt, sondern die Bedeutung des eigentlich bedeutungsarmen Commonwealth herausgestrichen.
  12. In der unglaublichen, ja atemberaubenden Inszenierung der letzten zehn Tage hat Großbritannien großartig (noch ein letztes Mal?) die ganze Pracht des Empires glänzen lassen, von den vielen perfekt trainierten Truppeneinheiten und Garden über die Pracht der Londoner Prunkalleen, Westminsters und der vielen Paläste sowie Denkmäler bis zu der würdigen ökumenischen Verabschiedung für eine offensichtlich gute Christin (bei der keine Spur des alten Schismas mehr zu spüren war, das die Queen eigentlich zum Oberhaupt einer vom Weltkatholizismus abgespaltenen Kirche gemacht hatte).
  13. Mit im Spiel war gewiss auch die immer und überall aktivierbare Lust der Menschen und Neugier am Zuschauen bei großen Inszenierungen, bei Veranstaltungen, bei Festen, bei Auftritten der Reichen und (zumindest scheinbar) Mächtigen – auch wenn ein Begräbnis eigentlich kein Fest sein sollte. Aber der Mechanismus in den Gemütern der Menschen ist immer ein sehr ähnlicher.
  14. Was die großen Religionen erkannt haben – Republiken hingegen meist gar nicht – ist die große Bedeutung von Ritualen. Sie erzeugen sehr oft eine geheimnisvolle Magie, vor allem wenn sie das Publikum einbeziehen, die rein intellektuell nie hergestellt werden können.
  15. Eng damit verwandt ist ihr Voyeurismus. Man konnte bei den Zeremonien der – durch Tausende Medienberichte scheinbar durch und durch vertrauten – königlichen Familie stundenlang zuschauen. Etwa bei den ersten Auftritten der kindlichen Urenkel. Etwa bei der fast christlichen Milde, wie der neue König den (möglicherweise sogar strafrechtlich) gefallenen Bruder Andrew und den in etlichen Bruder- (und Schwägerinnen-)Streitigkeiten ausgeschiedenen Sohn Harry wieder integriert hat, den beiden aber doch mit feinen Signalen einen Rest der Missbilligung für ihr Verhalten signalisiert hat, insbesondere durch die Befehle, wann sie noch einmal ihre alten Offiziersuniformen wieder anziehen durften und wann nicht.
  16. Einen zusätzlichen Glanz hat der Leichenzug für die vielen Zuschauer noch durch einen ganz anderen Aspekt bekommen: Sie haben sich in ihrer Sehnsucht nach Zusammenkommen, nach Gemeinschaft nicht mehr von der zwei Jahre unser Leben lähmenden Corona-Pandemie beirren lassen müssen.

Diese Beobachtungen haben eine Reihe ganz unterschiedlicher Werte und Ideen gezeigt, deren Kraft erst dieses Begräbnis zum größten Medienereignis der Geschichte gemacht hat (auch wenn es ein wenig seltsam anmutet, dass schon vorher behauptet worden war, vier Milliarden Menschen würden global zusehen …):

Sehnsucht nach Gemeinschaft; ; Respekt für Disziplin, Pflichterfüllung und den untadelige Dienst der Königin über mehr als 70 Jahre; Voyeurismus in Hinblick auf eine Familie, deren intime Affären alle zu kennen glauben; die magische Bedeutung von Ritualen; gleichzeitige Spektakellust bei einer perfekten Großinszenierung; Abschied von einer Königin so vieler unabhängiger Länder; die Größe des einstigen Empire; die Noch-immer-Größe des heutigen Commonwealth; die geschichtliche Kontinuität seit dem Mittelalter; oder die letzte Erinnerung an heroische Weltkriegszeiten.

Was man hierzulande oft nicht begreift: Bei allem bürgerlichen und demokratischen Selbstverständnis wollen viele Menschen zugleich zu einer respektierten Autorität aufblicken können. Selbst wenn diese Autorität nur im Symbolischen gelegen ist – oder gerade deswegen.

Die Queen (und ihre Inszenierung) sowie die Staatsakte der letzten Tage verkörperten darüber hinaus noch eine Fülle von anderen Werten und Ideen, nach denen sich die Menschen ganz offensichtlich enorm sehnen, die von der Zeitgeist-Primitivität des Medien- und Kulturbetriebes oft nicht erkannt, oder gar verachtet und verhöhnt werden. Die aber für das Gelingen eines Staates, einer Nation enorm wichtig sind:

  • Würde,
  • eine dem natürlichen demokratischen Streit entzogene und dadurch unumstrittene Staatsspitze,
  • Tradition,
  • Beständigkeit,
  • Disziplin in einer Welt des Anything goes,
  • Patriotismus,
  • nationale Identität,
  • Heimat,
  • Verlässlichkeit,
  • Zustimmung zur eigenen Staatsform,
  • Gleichberechtigung (einer Frau im höchsten Staatsamt),
  • aber auch das tiefe Fühlen um die Bedeutung von Christentum und Militär.

Kann der neue König an alle Aspekte dieses Werte- und Ideen-Konglomerats anknüpfen? Wir werden es erst in den nächsten Monaten und Jahren sehen. Denn der britische König ist ja kein Herrscher, sondern nur Darsteller für wichtige Symbole, für zentrale Werte einer demokratischen Nation.

Diese Darstellung braucht Zeit. Diese Aufgabe wird jedenfalls extrem schwierig. Sie erfordert von Charles auch, seine bisherigen Liebhabereien von Architektur bis Ökologie hintanzustellen. Jetzt muss er zum Symbol ohne eigene Meinung werden. Jetzt muss er Menschen symbolisch umarmen, nicht Bäume.

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