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„Es lebe das österreichische Südtirol!“

"Es lebe das österreichische Siebenbürgen!" "Es lebe das österreichische Südmähren!" "Es lebe das österreichische Südtirol!" "Es lebe das österreichische Galizien!" Wird man solche Ausrufe bald auch von höchsten Vertretern der Republik hören? In Europa machen sich ja neue diesbezügliche Usancen breit.

Der italienische Präsident des EU-Parlaments Antonio Tajani hat bei einer Veranstaltung im italienischen Grenzgebiet zu Slowenien (und damit auch Kroatien) Hochrufe auf das "italienische Istrien" und das "italienische Dalmatien" ausgestoßen. Wer einen Blick auf die Landkarte wirft, entdeckt freilich, dass Istrien wie auch Dalmatien überwiegend zu Kroatien und zu einem kleinen Teil zu Slowenien gehören. Aber nicht zu Italien.

Beide Gebiete waren jahrhundertelang österreichisch gewesen. Dann wurden sie bei den Pariser Nachkriegsverhandlungen zu einem der vielen Zankäpfel zwischen Italien und dem neuentstandenen Staat der Serben, Kroaten und Slowenen (also dem späteren Jugoslawien, das ja inzwischen schon wieder in viele Nachfolgestaaten zerfallen ist). Rom träumte damals davon, das ganze östliche Mittelmeer samt griechischen Inseln wieder wie unter den römischen Kaisern zum Mare nostrum zu machen. Ein großer Teil Dalmatiens fiel jedoch 1919 an den neuen slawischen Staat, einer anderen Siegermacht des Krieges (den es selbst ausgelöst hatte …).

Weil sich Rom damals mit diesem Verlangen nicht voll durchsetzen konnte, wurde von den anderen Siegermächten im Gegenzug der italienische Zugriff auf Südtirol widerspruchslos durchgewinkt.

Erst im Zweiten Weltkrieg konnte Italien seinen Anspruch auf ganz Dalmatien realisieren. Freilich nur kurz. Gegen Ende des Krieges wurde es aus ganz Dalmatien und Istrien vertrieben. Und muss seither draußenbleiben. Denn 1945 hatte Italien ja noch viel mehr Probleme als nach dem ersten Krieg, sich als Siegermacht zu präsentieren.

Wer diese Geschichte des Adriaraumes kennt, muss über die Formulierungen von Signore Tajani nicht nur erstaunt, sondern auch erschreckt sein. Seine Worte werden auch dadurch nicht relativiert, dass er sich nach Losbrechen eines slowenisch-kroatischen Proteststurmes nachträglich zweimal entschuldigt und – wenig glaubwürdig – gemeint hat, er hätte ja keine Gebietsansprüche gestellt, sondern nur die vertriebenen Italiener hochleben lassen (als ob man nicht ganz andere Formulierungen wählen würde, wenn es nur darum ginge). Tajani wird auch genauso wenig dadurch relativiert, dass seine Äußerungen schon eindeutig zum EU-Wahlkampf gehören, in dem sich die Berlusconi-Partei (zu der Tajani gehört) ja extrem schwer tut, nicht von der überaus erfolgreichen "Lega" des Vizepremiers Salvini aufgefressen zu werden.

Aber auch in Wahlkämpfen gibt es rote Linien. Denn auch als Wahlkämpfer darf man sich nicht als gefährlicher Zündler betätigen.

Denn Tajani hat ein absolutes Tabu gebrochen, das die wichtigste Grundlage des europäischen Friedens in den letzten 74 Jahren gewesen ist. Es lautet: An den Grenzen auf dem europäischen Kontinent darf nicht gerüttelt werden. Grenzänderungen darf es nur auf friedlichem Konsensweg aller Beteiligten geben.

Diesen friedlichen Konsens zu Grenzänderungen hat es übrigens schon mindestens dreimal gegeben: bei der Teilung der Tschechoslowakei, bei der Rückkehr des Saarlands an Deutschland und dann bei der deutschen Wiedervereinigung. Auch der Zerfall der Sowjetunion war trotz aller Turbulenzen friedlich erfolgt, war nicht Ergebnis von Kämpfen, sondern überraschende Konsequenz der alten Republiksstruktur der UdSSR und des – gewaltfreien – Antagonismus zwischen den Herren Jelzin und Gorbatschow.

Dass Grenzen in keiner Weise infrage gestellt werden dürfen, war 74 Jahre eiserne Richtschnur in allen Staatskanzleien und bei allen Medien und Politikern. Diese Regel ist zusammen mit der Nato (also dem Verbleib der USA in Europa) die entscheidende Grundlage für die längste Phase des Friedens in ganz West- und Mitteleuropa, die es je gegeben hat. Sie ist damit auch viel wichtiger als der Integrationsprozess EWG/EG/EU, auch wenn dieser von einfältigen EU-Propagandisten als entscheidend für die lange Friedensepoche hingestellt wird.

Freilich gab es im Südosten Europas zwei große Ausnahmen von diesem Frieden. Die eine war der mit jahrelangen blutigen Kämpfen verbundene Zerfall Jugoslawiens. Aber auch dieser spielte sich komplett innerhalb der Außengrenzen des ehemaligen Tito-Staatsgebildes ab und konnte letztlich nur mit Reinstallierung der alten innerjugoslawischen Gebietsgrenzen beendet werden. Denn wären zu diesen Kämpfen auch Gebietsansprüche anderer Staaten gekommen, wäre der Jugoslawien-Krieg wohl gesamteuropäisch explodiert. Die zweite Ausnahme sind die zum Teil blutigen Vorstöße und Eroberungen Russlands in der Ukraine, Georgien und Moldawien.

So gefährlich diese beiden Ausnahmen vom europäischen Frieden auch waren (und vielfach noch sind), so eindeutig ist doch, dass die Unantastbarkeit der Grenzen die wichtigste Regel für Europa ist und bleiben muss. Alle Europäer wissen: Es wäre eine absolute Katastrophe, würde auch nur ein einziges Land wieder wie nach dem Ersten Weltkrieg mit Gebietsansprüchen gegen ein anderes beginnen. Und daher sind auch – möglicherweise – nur unbedachte Formulierungen wie die Tajanis strikt zu verurteilen.

Wenn man das festgehalten hat – und zwar nur dann! – dann hat man alles Recht, viele Grenzziehungen, viele Vertreibungen, viele Pogrome und Kollektivversklavungen der Nachkriegsjahre als Unrecht zu geißeln:

  • Dazu gehört das den Italienern auf der Ostseite der Adria zugefügte Unrecht.
  • Dazu gehört das Schicksal von Millionen Ungarn in Rumänien und der Slowakei.
  • Dazu gehört die mit besonders viel Leid verbundene Vertreibung von Millionen Deutschen (die eigentlich altösterreichischen Ursprungs waren!) aus der Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien, obwohl sie dort seit vielen Jahrhunderten gewohnt haben.
  • Dazu gehören die mancherorts auch nach dem Krieg weitergehenden antijüdischen Pogrome.
  • Dazu gehört die Vertreibung der Krimtataren.
  • Dazu gehört die vierzigjährige Unterjochung vieler osteuropäischer Länder (obwohl diese wie Polen oft völlig unschuldig am Kriegsausbruch waren).
  • Dazu gehört natürlich auch das Schicksal der Südtiroler, die ja im angeblich demokratisch und rechtsstaatlich gewordenen Italien nach 1945 bis 1969 fast genauso schlimm verfolgt und unterdrückt wurden wie im Faschismus.

Gewiss wäre es eines Rechtsstaats des 21. Jahrhunderts würdig, wenn etwa die Einwohner von Südtirol, von Siebenbürgen oder auch Katalonien das Selbstbestimmungsrecht erhielten, um über ihre staatliche Zugehörigkeit zu entscheiden. Erst wenn man das gewährt, sollte man sich eigentlich als stolzer Spanier oder Italiener oder Rumäne in den Spiegel schauen können. Es kann ja nicht wahr sein, dass das Selbstbestimmungsrecht nur in Afrika und Umgebung gilt, nicht aber in Europa.

Das bleibt ein Fleck der Schande auf dem Kontinent. Daher kann man Großbritannien nicht genug dafür rühmen, dass es sich nach Jahrzehnten eines Bürgerkriegs durchgerungen hat zu sagen: Wenn die Mehrheit der Nordiren weg von uns will, dann lassen wir sie ziehen. Das war auch der einzige Weg, um die Unruhen zu beenden (viel mehr als es die jetzt von manchen so hochgepriesene EU-Mitgliedschaft bewirkt hat).

Aber all dieses Insistieren auf grundlegenden kollektiven Menschenrechten und auf offenem Aussprechen von historischen Wahrheiten – so wie ja auch die alles andere wohl übertreffenden Verbrechen der Nazis in Deutschland und Österreich laut und oft angesprochen werden – darf niemals auch nur im Leisesten zur Erhebung territorialer Ansprüche genutzt werden.

Besonders schlimm ist, dass Tajani nicht nur italienischer Politiker, sondern auch der höchste Mann des ganzen EU-Parlaments ist, das sich in den letzten Jahren so wichtig nimmt. Damit hat sich neben dem EU-Kommissionspräsidenten nun auch schon der Parlamentspräsident als geladenes Gewehr entpuppt, das jederzeit völlig unkontrolliert losgehen kann.

PS: Skurrilerweise ist jetzt ausgerechnet Österreich der einzige Nachbar Italiens, mit dem dieses keine Probleme hat. Hat Rom doch in den letzten Tagen seine französischen Nachbarn mindestens ebenso provoziert wie die Ex-Jugoslawen.

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