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Das Risiko, wenn einer „nur“ drohen will

Russland geht es im Ukraine-Krieg ziemlich schlecht. Von einem Sieg in der "Spezialoperation" ist nach einem Jahr erbitterter Kämpfe keine Rede mehr. Während die russischen Mobilisierungswellen selbst in Gefängnissen keine Ausbeute mehr bringen, während dem Land die kampfeswilligen und vor allem -fähigen Soldaten ausgehen, rückt nun ein zweiter Engpass in den Fokus: Das ist der Materialmangel. Auf russischer Seite sind Waffen und Munition nach einer gigantischen Materialschlacht knapp geworden. Das lässt dort immer öfter den Gedanken aufkommen: Aber wir haben ja unsere großartige Atomstreitmacht. Und aus dem Gedanken wird immer öfter eine Drohung.

Die jüngste Drohungs-Etappe war die Ankündigung der Suspendierung des "New Start"-Vertrages durch Wladimir Putin, die dann nur Stunden später vom russischen Parlament – bezeichnenderweise einstimmig – auch als Gesetz beschlossen worden ist. Wobei aber gleichzeitig das russische Außenministerium betonte, dass sich Russland sehr wohl an die Begrenzungen halten werde.

Was bedeutet das nun? Aktuell nicht sehr viel – im Grund nur eine Verlängerung dessen, was seit drei Jahren Realität ist: Die im New-Start-Vertrag vereinbarten 18 Vor-Ort-Inspektionen finden auch weiterhin nicht statt. Im März 2020 waren diese Inspektionen wegen der Reisebeschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie gestoppt und seither nicht wieder aufgenommen worden. Seit einem Jahr wird ein anderer Grund vorgeschoben: die westlichen Beschränkungen für Flüge und Visa. Niemand hätte allerdings reisewillige russische Inspektoren an der Kontrolle amerikanischer Stützpunkte gehindert.

Die "Suspendierung" verlängert nun die drei Jahre ohne Vor-Ort-Kontrollen. Diese Kontrollen waren aber nie das einzige Instrument zur Überwachung der Einhaltung der Rüstungsbeschränkung. Satelliten waren dabei immer wichtiger.

Inhaltlich beschränkt das vor 13 Jahren abgeschlossene und vor zwei Jahren verlängerte Abkommen zwischen den USA und Russland – die fast 90 Prozent aller Atomwaffen besitzen – die nuklearen Kapazitäten. Jede Seite darf 800 Trägerraketen und 1550 nukleare Sprengköpfe haben.

"New Start" hatte mehrere Vorläufer, zuletzt "Start" (Strategic Arms Reduction Treaty). Dadurch aber hat die Suspendierung durch Russland eine ganz neue Bedeutung: Denn selbst in den übelsten Zeiten der Ost-West-Spannungen sind im 20. Jahrhundert diese Verträge beachtet worden. Dass nun erstmals Hand an sie gelegt wird, ist daher als Signal durchaus gravierend. Das zeigt Putins bedrängte Lage. Er ist zwar mächtiger als alle anderen Männer an der Spitze des Kremls nach Stalin, denn es gibt kein Politbüro mehr, das ihn bremsen könnte. Dennoch ahnt er, sich ein Scheitern seiner "Spezialoperation" nicht leisten zu können. Deshalb setzt er alle ihm einfallenden Instrumente der Druckausübung ein, um den Westen von einer weiteren Unterstützung der Ukraine abzuhalten.

Jedoch zeigen alle Umfragen, dass in Europa wie auch den USA die Bevölkerung stärker denn je hinter der Ukraine steht.

Auf US-Seite hat Joe Biden eine ganz besondere Beziehung gerade zu "New Start": Denn dessen Verlängerung war eine seiner ersten Taten im Weißen Haus, nachdem Donald Trump den Vertrag nicht mehr in gleicher Weise fortschreiben wollte. Trumps Sorge war die rasch voranschreitende nukleare Aufrüstung Chinas, sowie die Entwicklungen in Nordkorea und eventuell auch im Iran. Er fürchtete, dass die USA nicht imstande sein könnten, diesen Bedrohungen gleichzeitig ein Gegengewicht zu bieten. Ganz wird diese Sorge auch bei Biden nicht verschwunden sein.

So könnte Putin die Tür auch zu etwas geöffnet haben, was er schon gar nicht wollen kann: Dass sich auch die Amerikaner nicht mehr an New Start gebunden fühlen.

Das große Risiko bei solchen Drohgesten ist: Sie können zu einer Eskalation an Missverständnissen führen, die dann sehr wohl in eine nukleare Katstrophe münden. Zugleich mehren sich in Russland die Rufe, den Widerstand der Ukraine nötigenfalls mit Atomwaffen zu brechen. Dafür kommen freilich weniger die ballistischen Raketen in Frage als die "taktischen" Atomwaffen, die auf einem viel kleineren Areal ihr Zerstörungswerk anrichten.

Vorerst scheint es eher unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass es zu einem solchen Atomeinsatz kommt:

  • Erstens ist Moskau unsicher, ob sich die Ukraine nicht atomar revanchieren kann. Immerhin waren in der Sowjetzeit dort viele Atomraketen stationiert, die die Ukraine nach Erlangung der Freiheit erst gegen die vertragliche Zusicherung ihrer territorialen Integrität zurückgegeben hat (was einer der vielen von Putin gebrochenen Verträge ist). Aber zweifellos ist etliches Wissen um die Atomwaffen in der Ukraine verblieben. Und es wäre nur logisch, wenn das ums Überleben kämpfende Land begonnen hätte, dieses Wissen zu reaktivieren.
  • Zweitens sollte man auch Putins persönliche Paranoia einkalkulieren. Er weiß, dass bei einer atomaren Eskalation sein eigenes Leben in Gefahr ist. Dieser Aspekt spielt bei einem Mann zweifellos eine Rolle, der bisher kein einziges Mal gewagt hat, an die Front zu reisen; der sich auch nicht unters eigene Volk mischt, der einen auch jedem Russen auffallenden Gegensatz zu Joe Biden bildet. Ein Mann, der sich so panisch vor Corona-Viren fürchtet, hat zweifellos noch viel mehr Angst vor einer Atombombe im Kreml.
  • Drittens aber dürfte es etwas geben, vor dem Putin noch mehr bangt als vor persönlichem Schaden: Das dürfte die Vorstellung sein, statt als Großer in die Geschichte einzugehen, mit Schimpf und Schande davongejagt zu werden. Eine Wahnsinnstat ist daher nicht ganz auszuschließen.

Die russische Suspendierung von "New Start" reiht sich jedenfalls in eine Reihe ähnlicher Indizien:

  1. So verlangte Ex-Präsident Medwedew schon mehrfach den Einsatz von Atomwaffen, weil angeblich die Existenz Russlands bedroht sei.
  2. So erklärte der Anführer der von Russland teileroberten "Volksrepublik Donezk", Alexander Chodakowski: "Wir haben nicht die Ressourcen, diesen Krieg so noch lang zu führen. Jeder weiß, dass die nächste Stufe der Eskalationsspirale im Ukraine-Krieg nur die atomare Stufe sein kann".
  3. So ist es schon zu offenen Attacken der Wagner-Miliz gegen die offizielle Armee gekommen, weil diese ihr zuwenig Munition gebe.
  4. So verschießen zumindest nach ukrainischer Zählung die Russen täglich zwischen 20.000 und 60.000 Stück Artilleriemunition, die Ukrainer hingegen 2000 bis 7000.
  5. So hat auch EU-Außenbeauftragter Borrell dringend zu Munitionslieferungen an die Ukraine aufgefordert: Es gehe um Wochen, nicht um Monate.
  6. So hat Putin nun auch die Drohungen gegen Moldawien intensiviert, wo in einem Teil noch russische Truppen stehen: Er hat offiziell das Bekenntnis zur Integrität Moldawiens zurückgezogen.
  7. So berichten die Niederlande, dass Russland in der Nordsee Sabotage-Aktionen gegen die kritische Infrastruktur anderer Länder, wie Internetkabel, Gasleitungen und Windkraftanlagen vorbereite.

Alles in allem bleibt ein mulmiges Gefühl: Putin will zwar keine nukleare Eskalation, aber viele Faktoren und seine Droh-Rhetorik können sich selbständig machen und etwas auslösen, was eigentlich nicht geplant war.

Dieser Text erscheint in ähnlicher Form auch in der internationalen Wochenzeitung "Epoch Times".

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