Der Ukraine-Konflikt und die Achse Moskau, Peking, Neu-Delhi

Am 9. Juli 2015 beschließt die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) bei ihrem Gipfeltreffen im russischen Ufa, Indien und Pakistan aufzunehmen. Der SCO gehören seither neben China, Russland, Indien und Pakistan auch die zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan an.

Damals begannen – so sind sich viele Geopolitiker sicher – China und Russland gemeinsam eine neue Weltordnung zu planen. Ziel des Gipfeltreffens in Ufa war, die Vormachtstellung der USA respektive des Westens zu brechen, eine neue multipolare Weltordnung zu schaffen, die nicht dem Diktat des Westens unterliegt. In diesem Kontext muss auch der Krieg in der Ukraine gesehen werden. Zumal sich Russlands Präsident Wladimir Putin dabei eng mit Peking abgestimmt haben muss. Das zeigt allein die Tatsache, dass Putin die für Peking wichtige und teure Propaganda-Show, die Olympischen Winterspiele, nicht stören wollte und durfte, und erst nach deren Ende in der Ukraine einmarschiert ist.

Wie eng die Beziehungen zwischen Moskau und Peking sind, zeigt sich auch daran, dass sich Xi Jinping und Putin bereits 36-mal getroffen haben. Obwohl China nicht nur wirtschaftlich der deutlich stärkere Partner ist, behandelt es Russland (noch) als gleichberechtigten, nicht als untergeordneten Partner. Gegenseitiger Respekt spielt in dieser bilateralen Beziehung eine große Rolle. Der russische Bär und der chinesische Drache brauchen sich gegenseitig, haben dieselben Gegner und viele gemeinsame Interessen. Das verbindet.

Ohne die Rückendeckung und ohne Absprache mit Peking wäre Putin nicht in die Ukraine einmarschiert. Dass Europa zu größeren militärischen Aktionen ("Hard Power") nicht mehr in der Lage ist, nur mit Sanktionen ("Soft Power") auf solche Konflikte reagieren kann, war für Putin klar. Dementsprechend hat er seine Strategie ausgelegt und vorgesorgt. Er braucht verlässliche und potente Partner, die trotz des internationalen Drucks und Sanktionen weiter Handel mit Russland betreiben, das Land mit Technologie, Nahrungsmitteln, Medikamenten etc. versorgen.

Putin hat mit dem Ukraine-Krieg endgültig mit Europa gebrochen und dem Westen den Kampf angesagt. China und Russland wollen die USA in einen Zweifrontenkrieg zwingen. Für die USA und Europa ist dieses Zwei-Fronten-Szenario, ein strategisches Bündnis zwischen den beiden Großmächten, ein neuer eurasischer Machtblock, äußerst bedrohlich. Dabei ist der Krieg in der Ukraine aus geopolitischer Perspektive nur ein Testballon, ein Nebenschauplatz, denn die globalen Machtverhältnisse, die Ausrichtung der weltweiten Handelsströme und der Pipelines drehen sich gerade von West nach Ost, vom atlantischen hin zum pazifischen Raum. Europa wird zum geopolitischen Hinterhof, verliert auch wirtschaftlich den Anschluss. Dass die EU keine Rolle mehr auf der Weltbühne spielen kann und will, zeigt es aktuell im Ukraine-Konflikt. Europa ist weder in der Lage, kriegerische Konflikte an seinen Außengrenzen zu verhindern bzw. zu beenden noch seine ausreichende Versorgung Energie und Rohstoffen aufrecht zu erhalten.

Nun liegt der globale Fokus auf dem indopazifischen Raum, der auch für Russland immer wichtiger wird. Und hier spielt Indien eine zentrale Rolle. Das 1,4 Milliarden Einwohner zählende Land war und ist für Russland von großer Bedeutung. Es war auch kein Zufall, dass Putin wenige Wochen vor dem Einmarsch in die Ukraine Indiens Premier Narendra Modi in Neu-Delhi besucht hat und die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in höchsten Tönen lobte: "Wir betrachten Indien als eine Großmacht mit freundlichen Menschen und einer wunderbaren Geschichte unserer Beziehungen. Die Beziehungen zwischen unseren Ländern entwickeln sich zukunftsorientiert."

Modi betonte seinerseits die "konstante Freundschaft" zu Russland. Bei diesem Treffen vereinbarten Putin und Modi im militärischen Bereich noch enger zusammenarbeiten zu wollen und das bilaterale Handelsvolumen auf 30 Milliarden US-Dollar zu erhöhen. Indien orderte an diesem Tag 600.000 russische Sturmgewehre um 587 Millionen Euro. Russland beliefert Indien auch mit dem modernen S-400-Langstrecken-Boden-Luft-Raketen-System zur Bekämpfung von Kampfflugzeugen und Marschflugkörpern, das in der umkämpften Grenzregion zu Pakistan zum Einsatz kommen soll. Die Amerikaner haben auf diese Waffenlieferungen nicht erfreut reagiert und Indien mit Sanktionen gedroht, da der "Countering America's Adversaries Through Sanctions Act" (Caatsa) es verbietet, mit Russland, Iran und Nordkorea Rüstungsgeschäfte abzuschließen. Was Indien ignoriert.

Die USA wollen ihre Beziehungen zu Neu-Delhi aber nicht zu sehr belasten, weil Indien im indopazifischen Raum für die USA von enormer strategischer Bedeutung ist. Doch unter Narendra Modi von der nationalkonservativen, hinduistischen Bharatiya Janata Party wendet sich das Land zusehends vom Westen ab, wie auch die indische Reaktion auf den Ukraine-Krieg zeigt.

Indien hat sich bei der UN-Resolution gegen Russland der Stimme enthalten und lediglich angemerkt, dass die Aufrufe zu diplomatischen Gesprächen und Dialog nicht befolgt wurden. Man sprach davon, dass das Völkerrecht zu respektieren sei, ohne Russland dabei zu erwähnen oder den Einmarsch in die Ukraine zu verurteilen. Indiens Weigerung, Russland zu verurteilen und Sanktionen zu verhängen, ist für den Westen und vor allem die USA ein absoluter Tiefschlag, zumal die Amerikaner kurz zuvor Indien dazu aufgerufen hatten, sich von Putin zu distanzieren. Die Reaktion von US-Präsident Joe Biden auf Indiens Standpunkt fiel entsprechend schmallippig und verhalten aus: "Wir werden Konsultationen mit Indien führen. Wir haben das noch nicht vollständig geklärt."

Die Haltung der indischen Regierung findet auch in weiten Teilen der Bevölkerung Zuspruch. Hashtags wie #IStandWithPutin oder #istandwithrussia boomen in den sozialen Medien in Indien. Die Ratlosigkeit der Amerikaner ist verständlich, es droht mit Indien einen seiner wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen das immer machtbewusster auftretende China im indopazifischen Raum zu verlieren.

Der Ukraine-Konflikt hat die indisch-russischen Beziehungen gestärkt. So haben vor wenigen Tagen Russlands stellvertretender Ministerpräsident Alexander Nowak und der indische Minister für Öl und Gas, Hardeep Puri, angesichts der westlichen Sanktionen vereinbart, die russischen Energielieferungen nach Indien deutlich auszuweiten. Indiens Wirtschaft braucht dringend Öl, Gas und Kohle aus Russland, Moskau braucht neue Abnehmer für seine Rohstoffe. "Russlands Öl- und Erdölproduktexporte nach Indien haben sich der 1-Milliarde-Dollar-Marke angenähert, und es gibt klare Möglichkeiten, diese Zahl zu steigern", so Nowak.

Zudem arbeiten die beiden Länder nach dem Ausschluss russischer Banken aus dem SWIFT-System an Alternativen. So soll der bereits seit Jahren bestehende Rupien-Rubel-Handelspakt mit Moskau gestärkt werden. Die Geschäfte zwischen Russland und Indien sollen künftig über in Indien eingerichtete Rupienkontos abgewickelt werden. Damit wird der Versuch des Westens, Russland finanziell zu isolieren und auszubluten, nicht nur unterlaufen, es ist ein klares Statement an den Westen: Es geht auch ohne euch!

Die Sanktionen gegen Russland könnten sich damit nicht nur in Europa als Schuss ins eigene Knie erweisen, denn die bilateralen Beziehungen und die Infrastruktur – von Zahlungssystemen über Transportwege bis hin zu Pipelines –, die nun im Zuge dieser Sanktionen ohne Beteiligung des Westens geplant, auf- und ausgebaut werden, bedrohen die Vormachtstellung der USA massiv. Es entwickelt sich ein neuer, riesiger vom Westen abgekoppelter Wirtschaftsraum. In Russland, China und Indien leben knapp drei Milliarden Menschen, das sind rund 40 Prozent der Weltbevölkerung. Mit den vor allem mit China verbundenen bzw. von ihm abhängigen Staaten in Asien und Afrika ist der Anteil noch weit größer. Viele andere Länder könnten sich ob der Verschiebung der Machtverhältnisse ebenfalls umorientieren.

Selbstverständlich bestehen auch viele große Differenzen, Spannungen und Konflikte zwischen den sehr unterschiedlichen Mächten China, Russland und Indien, etwa der seit Jahren schwelende chinesisch-indische Grenzkonflikt oder Chinas Expansionsdrang, der nicht nur für Indien, sondern auch für Russland mit seiner schrumpfenden Bevölkerung und seinen dünn besiedelten aber rohstoffreichen Gebieten in Sibirien bedrohlich ist.

Trotzdem scheint sich hier ein mächtiges Zweckbündnis gegen den Westen herauszubilden, welches das weltweite Machtgefüge grundlegend verändern wird. Für die USA bedeutet das eine enorme Herausforderung, Europa ist ohnehin längst aus dem Spiel.

Werner Reichel ist Autor und Journalist. Er hat zuletzt das Buch "Europa 2030 – Wie wir in zehn Jahren leben" bei Frank&Frei herausgegeben.

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