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Erdogans Pleite: vier Ursachen, zwei mögliche Konsequenzen

Die türkischen Kommunalwahlen sind eines der erfreulichsten internationalen Ereignisse der letzten Jahre. Weniger wegen des Erfolgs der CHP-Partei, sondern vor allem deswegen, weil die Wahlen unbehindert und korrekt stattfinden haben können. Was für ein Unterschied zu Ländern wie Russland oder Iran, die komplett von einem zumindest kurzfristig demokratischen Bauchaufschwung in den Sumpf einer totalitären Diktatur abgesunken sind! Hut ab vor Recep Tayyip Erdogan. Freilich lauert jetzt eine gewaltige Gefahr in der türkischen Zukunft.

Denn in den nächsten Monaten wird es für den türkischen Präsidenten, aber auch die vielen, die mit von seinen Erfolgen profitiert haben, enorm verführerisch sein, mit anderen Mitteln als demokratischen das zu erhalten, was sie in den letzten Jahren so sehr geschätzt und genossen haben: Das ist die praktisch unumschränkte Macht. Kaum kann sich in der Türkei jemand noch erinnern, dass es überhaupt Zeiten vor Erdogan gegeben hat. Zeiten, in denen sozialistische Regierungen oder sehr erfolgreiche wirtschaftsliberale das Land regiert haben, in denen die Kurden gleichberechtigte Staatsbürger gewesen sind. Erdogan hat sich gegen diese Vergangenheit vor mehr als zwanzig Jahren mit seinem Kurs durchgesetzt, der zwei zentrale Akzente hatte:

  • Einerseits ein heftiger türkischer Nationalismus, der die kurdische Autonomie strikt ablehnt, der ringsum zündelt, etwa gegen Griechen und Armenier;
  • Andererseits ein stark von den Muslimbrüdern geprägter Islamismus, der mit Hilfe der zurückgebliebenen, aber zahlenstarken Landbevölkerung den laizistischen Liberalismus von Staatsgründer Atatürk hinwegfegte, in dem es etwa – heute unvorstellbar – Dinge wie Kopftuchverbote gegeben hat.

Ganz offensichtlich hat sich Erdogan auf dieser doppelten Basis der ewigen Mehrheit so sicher gefühlt, dass er letztlich freie Wahlen zugelassen hat. Dabei waren in den letzten Jahren rechtsstaatliche Grundfreiheiten unter ihm in schwere Bedrängnis geraten. Es gab und gibt politische Gefangene und immer wieder Repressionen gegen kritische Journalisten. Aber Erdogan glaubte, es nicht notwendig zu haben, nach russischem oder iranischem Beispiel mit freien Wahlen Schluss machen zu müssen. Es ist ja in der Tat für das eigene Selbstwertgefühl schöner, auf wirklich demokratischer Basis regieren zu können als bloß mit Hilfe der Polizei und Armee.

Nach der Niederlage bei zahlreichen Bürgermeisterwahlen befindet sich Erdogan jetzt vor einer schwierigen Entscheidung. Denn noch stehen die wirklich entscheidenden Präsidenten- und Parlamentswahlen aus. Wie wird er in diese gehen? Wird er auch da weitgehend freie Wahlen zulassen? Dann riskiert er die hohe Wahrscheinlichkeit einer Niederlage. Mit Niederlagen werden aber Herrschaftssysteme, die allzulange an der Macht gewesen sind, psychisch nur schwer fertig. Es kann jedenfalls keine Zweifel geben, dass er, seine Regierung, Armee, Polizei und der ganze insbesondere bis in die Justiz reichende tiefe Staat die Instrumente kennen, wie man die Demokratie wieder einmal abschaffen oder in die Travestie einer Schein-Demokratie nach Putin-Art verwandeln könnte.

Auf der anderen Seite könnte Erdogan als große positive Figur in die türkische Geschichte eingehen, sollte er dieser Versuchung nicht nachgeben und einen friedlichen Machtübergang ermöglichen. Er würde dann als zweiter Vater des Vaterlandes wie vor hundert Jahren Atatürk geehrt, der die Türkei nach der osmanischen Niederlage im ersten Weltkrieg aus dem Mittelalter hervorholen konnte.

Es wird daher zentrale Aufgabe auch einer siegreichen Opposition sein, Erdogan zu motivieren, den zweiten Weg zu gehen. Wenn die nunmehrigen Wahlsieger wirklich reife Demokraten mit staatsmännischen Fähigkeiten geworden sein sollten, werden sie den Kontakt mit Erdogan suchen und ihm klarmachen, dass es nach einem echten Machtwechsel keine Racheaktionen und strafgerichtliche Aufarbeitung all dessen geben wird, was in der Tat in der Ära Erdogan ganz, ganz übel gerochen hat.

Bei der Analyse, was die Ursachen der für viele verblüffenden Niederlage für die Erdogan-Partei gewesen sind, stößt man auf vier zentrale Faktoren:

  1. In jeder echten Demokratie entsteht bei den Wählern, insbesondere einer neuen Generation nach einer Zeit der prinzipielle Wunsch nach Wechsel, nach etwas Neuem.
  2. Immer mehr Türken kommen geistig im 21. Jahrhundert an und fangen nichts mehr mit einem rückständigen Nationalislamismus an.
  3. Erdogan zeigt schon deutliche Spuren des Alters in seinem Auftreten. Er strahlt auf eine sehr junge Bevölkerung immer weniger positiver Führungsstärke aus.
  4. Der Hauptgrund der Niederlage aber liegt zweifellos in seiner irren Wirtschaftspolitik. Über 60-prozentige Inflationssätze lassen sich auch mit Mohammeds Hilfe nicht rechtfertigen.

Diese Wirtschaftspolitik erinnert EU-Bürger auch an die abenteuerlichen Fehler der Europäischen Zentralbank. Diese hat ebenfalls die Zinsen viel zu lang viel zu niedrig gehalten, wenn auch nicht so extrem lange wie Erdogan. Das ist zwar wirtschaftspolitischer Unsinn und eindeutig da wie dort Inflations- und Stagnationsursache, aber es ist kurzfristig bei politischen Machtträgern populär. Weil es Regierungen von Ankara bis Rom hilft, weiter große Defizite und immer neue Wählerbestechungsaktionen sowie Korruption zu finanzieren; weil ökonomische Laien hoffen, billige Kredite würden die Wirtschaft ankurbeln; weil man sich die Schmerzen einer notwendigen Zinsenerhöhung ersparen will, wie sie in EU-Europa in letzter Zeit so arg gewesen sind.

Die Lehre, dass diese Vorstellungen über die Wirkung von Geldverbilligungen nicht so funktionieren, ist zwar nicht gerade neu – aber Erdogan und ähnliche "Finanzgenies" glauben halt trotzdem immer wieder noch, dass es funktioniert, wenn man möglichst viel billiges Geld unter die Menschen bringt (man sehe sich nur die jahrelange Kampagne der europäischen Linken für niedrige Zinsen und hohe Staatsausgaben an …).

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