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Und was ist, wenn Putin den Krieg wirklich verliert?

Seit mehr als einer Woche sind für die allermeisten Europäer die Nachrichten aus der Ukraine zum ersten Mal seit einem halben Jahr sehr freudig. Russische Truppen sind an manchen Frontabschnitten auf einer fast ungeordneten Flucht. Während die Befreiung der Vorstädte Kiews vor dem Sommer noch als strategische Umgruppierung der Aggressionstruppen dargestellt werden konnte, gibt es diesmal eindeutig gravierende Erfolge der Ukrainer. Das löst eine Fülle von Fragen aus: Ist damit der Krieg entschieden? Was sind die Ursachen der Wende? Und was wären die Folgen eines kompletten Sieges der Ukraine? Vor allem mit letzterer Frage haben wir uns noch kaum beschäftigt, galt sie doch als zu realitätsfern.

Der Versuch einer kurzen Antwort auf alle drei Fragen:

1. Ist der Krieg entschieden?

Ganz sicher heißt die Niederlage in einer Schlacht noch nicht die Entscheidung über einen ganzen Krieg. Aber der Verlust von Territorien der Größe des Burgenlandes zeigen, dass die Russen militärisch derzeit recht schlecht dastehen.

Wladimir Putin scheint aus rein militärischer Sicht nur noch eine der drei folgenden Optionen zu haben, die sich aber alle innen- oder außenpolitisch für ihn katastrophal auswirken könnten. 

Erstens könnte er eine Mobilisierung anordnen. Das würde aber sein ganzes Lügengebäude zusammenfallen lassen, dass seine Invasion in der Ukraine ja gar kein Krieg, sondern nur eine Spezialoperation zur Bestrafung eines "Nazi"-Regimes und zur Unterstützung der Regime wäre, die er nach 2015 in den besetzten Gebieten der Ukraine eingesetzt hat. Noch viel gefährlicher ist für ihn aber die breite Ablehnung einer Zwangsmobilisierung durch die Bürger. Ein bisher – auf Grund der einseitigen Medienpropaganda voller nationalistischer Hetze – in Russland recht populärer Krieg würde sehr rasch unpopulär werden. Dann würden die durch die Demographie Russlands sehr wenig gewordenen Söhne gegen ihren Willen den Familien entrissen, dann kämen sehr rasch massenweise Todesmeldungen in der Heimat an. Dann würde der Krieg für die Russen etwas ganz anderes als wie bisher ein bloßes Medienspektakel, bei dem weitgehend nur jene Menschen mitmachen, die sich freiwillig dafür gemeldet hatten – sei es als Berufssoldaten, sei es als durch üppige Bezahlung angelockte Söldner. Geht Putin diesen Schritt, dann wird die Heimatfront für ihn trotz seiner derzeit absoluten Macht rasch zur großen Gefahr, die auch (etwa zu regionalen) Revolutionen führen könnte.

Zweitens könnte er taktische Atomwaffen einsetzen. Das würde ihn international zum Buhmann machen, selbst FPÖ und AfD müssten dann trotz aller angeblicher Finanzströme von ihm abfallen (die anderen Rechtsparteien Europas haben ihn nie unterstützt, wie man jetzt ganz besonders bei den rechten Triumphen von Italien bis Schweden sehen kann). Doch würde selbst die Explosion von – beispielsweise – zwei taktischen Atombomben die Ukraine wahrscheinlich nicht in die Knie zwingen. Zugleich kann Putin keineswegs sicher sein, dass ihn nicht ein Vergeltungsschlag trifft. Zwar dürften die USA zu einem solchen eher nicht willens sein, solange kein Nato-Partner angegriffen wird. Aber es gibt schon recht viele andere Mächte im Besitz von Atomwaffen. Und nicht zu vergessen: Die Ukraine war schon einmal im Besitz von Atomwaffen (und hat diese im Gegenzug für das nun so brutal gebrochene russische Versprechen hergegeben, die ukrainischen Grenzen zu respektieren). Putin kann nicht sicher sein, ob clevere ukrainische Geheimdienstler etwa damals Atomwaffen versteckt haben. Oder ob sie nicht inzwischen das alte Wissen im Lande reaktiviert haben. Oder ob Kiew auf dem schwarzen Markt solche Waffen erworben hat.

Drittens versucht Putin inzwischen massiv andere Diktatoren, die ebenfalls Eroberungsabsichten haben, zu einer aggressiveren Haltung anzustacheln. Das ist insbesondere bei China (das Taiwan erobern will), bei der Türkei (die Griechenland einen Teil der Ägäis abnehmen will) und beim Iran (der sowohl im Irak wie in Jemen militärische Aktionen gesetzt hat) nachweisbar. Sehr offen ist, ob das zusammen mit seinem Gas-Lieferboykott ausreicht, den Westen abzulenken und von der Unterstützung der Ukraine abzubringen.

Mit Artillerie und Raketen alleine aber – den einzigen russischen Angriffswaffen, die in den letzten Monaten für Putins Erfolge gesorgt haben, – kann der Krieg gegen eine effiziente, intelligente und hochmotivierte Infanterie nicht gewonnen werden. Eine brauchbare Infanterie hat Putin aber nicht. Das scheint er zunehmend zu erkennen.

Ohne deswegen rückzugs- und friedenswilliger geworden zu sein.

2. Die Ursachen der Wende

Die Wende im Kriegsgeschehen hat neben dem Fehlen einer Infanterie zur Ergänzung von Artillerie und Raketen viele Ursachen, die derzeit perfekt zusammenspielen:

  • Am wichtigsten ist die sensationelle Entschlossenheit des ganzen ukrainischen Volkes, ihr Land zu verteidigen; und zwar – entgegen dem Wunschdenken Putins – auch jener Ukrainer, die russisch sprechen (oder gesprochen haben: ich habe selbst mit Ukrainern gesprochen, die nach Putins Invasion in der Krim und Ostukraine – trotz anfänglicher Mühen – ihren privaten Sprachgebrauch komplett von Russisch auf Ukrainisch umgestellt haben).
  • Die schlechte Motivation der russischen Soldaten, die spüren, dass sie ständig angelogen worden sind, die keinen inneren Antrieb haben, die nicht wirklich wissen, wofür sie da ihr Leben riskieren sollen, die nirgends auf Ukrainer stoßen, die von ihnen befreit werden wollen.
  • Wie schlecht es um die russische Armee steht, bezeugen auch mehrere Berichte darüber, dass jetzt schon in Gefängnissen um Insassen geworben wird, denen im Gegenzug für einen Armeeintritt ein Nachlass der Strafe gewährt wird.
  • Die Anziehungskraft des Unterschieds zwischen einer Diktatur, welche die Meinungsfreiheit immer massiver einschränkt, und einer rechtsstaatlichen Demokratie wirkt sich offensichtlich viel stärker auf die Motivation der Menschen aus als die Frage, welche Sprache einer spricht. Anders formuliert: Wäre die Ukraine nach Zerfall der Sowjetunion ähnlich wie Russland weiterhin oder wieder eine strenge Diktatur, dann wäre auch auf ukrainischer Seite die Kampfbereitschaft der Menschen viel geringer. Man hat die Anziehungskraft der Freiheit auf die Menschen (wieder einmal) krass unterschätzt.
  • Die Ukraine wird von einem charismatischen Präsidenten geführt, der ein gutes Gespür für psychologische Kommunikation hat. Siehe die Tatsache, dass er immer in Kiew geblieben ist, auch als dieses von den Russen fast eingeschlossen gewesen ist. Siehe die Tatsache, dass er nur in einem militärischen T-Shirt vor die Kameras tritt – weder im Anzug, noch mit breiten Ordensspangen, wie russische Befehlshaber sie lieben.
  • Die Führung der ukrainischen Armee agiert ganz offensichtlich viel intelligenter als die der russischen. Sie setzt immer wieder überraschende Aktionen. Sie besteht aus seit Jahren westlich trainierten Offizieren, die den unteren Rängen viel Entscheidungsfreiheit und Spielraum lassen, während die Russen starre Befehlshierarchien praktizieren.
  • Zunehmend dürften sich auch Sabotage-Aktionen gegen Putins Krieg auswirken, sei es in Russland, sei es in den von Russland derzeit besetzten Gebieten.
  • Die jetzt in ausreichender Zahl in der Ukraine eingetroffenen westlichen Waffen sind ganz offensichtlich den russischen weit überlegen (lediglich die deutschen Sozialdemokraten halten noch immer einen Teil der von den Ukrainern erbetenen modernen Panzer zurück). Insbesondere die Briten und die zwischen 1989 und 1992 der Herrschaft Moskaus entkommenen Osteuropäer haben der Ukraine unglaublich effizient geholfen.
  • Westliche Satelliten-Informationen sind für die Ukraine strategisch wie gefechtsfeldtaktisch wichtig.
  • Je länger der Krieg gedauert hat, umso knapper sind den Russen ihre modernen Präzisionsraketen geworden.
  • Letzteres ist ganz eindeutig ein Erfolg der westlichen Sanktionen, die den Zugang Moskaus zu westlicher Technologie behindern, die offensichtlich in vielen russischen Raketen eingebaut ist.
  • Langsam beginnt sich auch die Emigration von Teilen der russischen Elite auszuwirken, vor allem der in Industrie und Forschung tätigen Experten, die im Gegensatz zur simpel gestrickten Landbevölkerung mehrheitlich den Krieg klar ablehnen.

3. Die Folgen eines eventuellen ukrainischen Sieges

Auf diese Frage ist Europa in Wahrheit ganz und gar nicht vorbereitet. Diese Folgen hängen stark damit zusammen, wie genau es zu diesem Sieg kommt.

Der Ukrainekrieg wird höchstwahrscheinlich nicht so enden wie die beiden Weltkriege: Beim ersten hatten die Deutschen, Österreicher und Ungarn keine Alternative, als das komplette Diktat der Pariser Vororteverträge zu akzeptieren. Beim zweiten Weltkrieg mussten die Alliierten vor dem Kriegsende fast jeden Quadratmeter des Hitler-Reiches und insbesondere von Berlin erobern, sodass danach das neue Deutschland komplett und ohne Rücksicht auf das alte Regime neu aufgebaut werden konnte.

Im Falle des russisch-ukrainischen Krieges wird es hingegen wohl auch nach einer Niederlage Moskaus nachher weiter ein potentiell problematisches Russland geben, das gewaltige Atomraketen hat und das über einige der größten Energie- und Rohstoffreserven der Welt verfügt.

Man weiß zwar nicht, ob Putin selbst eine Niederlage in der Ukraine überlebt (im Wegstecken von Niederlagen hatte schon das zaristische Russland etliche Übung: vom Krimkrieg bis zum russisch-japanischen Krieg). Aber sowohl mit ihm wie auch ohne ihn wird es zweifellos entscheidend sein, ob Europa, ob die USA den Russen auf Augenhöhe entgegenkommen, ob man sie als altes Kulturvolk respektiert, ob sie sich nicht gedemütigt fühlen müssen.

Dieses Ziel sollte man durch regelmäßige Angebote verfolgen. Diese müssen der Ukraine einerseits wieder zu ihrer vollen Freiheit und Souveränität verhelfen. Sie müssen aber andererseits auch Russland einen Abgang aus dem Krieg mit erhobenem Kopf erlauben. Daher können diese Angebote eigentlich nur so aussehen:

  • Kein Quadratmeter eroberten Bodens bleibt in russischen Händen.
  • Ein breiter Streifen zu beiden Seiten der Grenzen Russlands wird entmilitarisiert.
  • Noch weiter werden Raketen auf beiden Seiten der Grenzen abgezogen – was beides von Finnland bis zum Schwarzen Meer gelten müsste.
  • Verzicht auf die eigentlich fälligen Reparationen für die unglaublich schweren Schäden, die Putins Krieg angerichtet hat.
  • Verzicht auf jeden Triumphalismus des Westens oder der Ukraine.
  • Saubere(!!!) Volksabstimmungen in jenen Gebieten, von denen Russland behauptet, dass die dortigen Menschen lieber Teil des Putin-Reiches sein wollen. Diese Referenden müssen unter strikter internationaler Kontrolle (etwa durch die OSZE) erfolgen; im Vorlauf muss beiden Seiten volle Propagandafreiheit gegeben sein; und es muss vor allem allen Bürgern das Wahlrecht etwa per Briefwahl zustehen, die vor der russischen Invasion dort gelebt haben, die aber inzwischen geflüchtet sind.

Gewiss: Eine friedliche Zukunft Europas wird viel sicherer sein, wenn es ein Russland ohne Putin gäbe, wenn Russland eine echte Demokratie und ein Rechtsstaat wäre. Aber das kann nicht von außen erreicht werden. Das muss das russische Volk selbst in die Hand nehmen. Der Westen sollte sich daher auch – auch! – auf die nur zweitbeste Variante vorbereiten: auf ein Leben mit Putin, solange es halbwegs möglich ist, dass er sich nach außen künftig halbwegs an Regeln hält.

Ihn und das ihn unterstützende Russland zu bestrafen, entspräche zwar unserem tiefverwurzelten Gerechtigkeitssinn, nachdem sie eindeutig einen Völkermord versucht hatten. Das wäre aber von außen nur durch große Gefahren für viele Millionen unschuldiger Menschen durchsetzbar. Und daher alles andere als gerecht.

Wir können derzeit jedenfalls nur hoffen, dass in Europa oder den USA oder der Ukraine in der richtigen Stunde ein Staatsmann die richtigen Vorschläge macht. Derzeit sind da nur wenige im Angebot. Am ehesten könnte das noch der Franzose Macron sein.

PS: Eine interessante, wenn auch in etlichen Punkten nicht übereinstimmende Analyse zu Punkt 3 finden sie auch hier.

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