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Polen und die Deutschen, Europa und die Demokratie

Nein, sie haben aus der Geschichte absolut nichts gelernt. Sonst wäre es völlig undenkbar, dass ein deutscher Spitzenpolitiker (welchen Geschlechts und welcher Partei immer) 2021 in einer Parlamentsrede Polen massiv droht, dass er dessen Regierungschef ins Gesicht anherrscht: Tun Sie das, tun Sie das und tun Sie das! Dass dieser Spitzenpolitiker, der sich für den Chef Europas hält, droht, dass man die eigenen Forderungen gegen Polen "mit allen Mitteln" durchsetzen werde. Der einzige erkennbare Unterschied zu dem, was vor 82 Jahren geschehen ist: Es wird nicht mit einem militärischen Einmarsch gedroht, sondern "nur" mit dem Entzug von Geldmitteln, von gewaltigen 24 Milliarden Euro, die Polen eigentlich zustehen, für deren kollektive Aufbringung das Land auch haftet. Das hat gewaltige Ähnlichkeiten mit einem kollektiven Raub oder zumindest mit Erpressung (mit nachträgerlicher Ergänzung).

Die heutige deutsche Haltung gegenüber Polen entlarvt auch alle deutschen Niederknie-Aktionen gegenüber Polen als heuchlerische Farce. Daran ändert es nichts, dass sich diese Haltung zuletzt in den Auftritten der Präsidentin der EU-Kommission so besonders krass gezeigt hat. Denn sie deckt sich völlig mit den Äußerungen deutscher Regierungspolitiker in Berlin.

Noch erschütternder ist, dass sich auch fast alle österreichischen Politiker, die man dazu hört, opportunistisch feige voll an die Seite der Drohungen stellen. Neuerdings tut dies auch die ÖVP – die freilich seit ein paar Tagen generell orientierungslos wie ein Huhn herumläuft, dem man den Kopf abgeschnitten hat.

Dieses totale Einschwenken auf den Kurs des imperialen EU-Zentralismus ist das erste Thema, bei dem man inhaltlich den Abgang von Sebastian Kurz merkt. Dieser hat immer viel mehr Sensibilität gegenüber den mitteleuropäischen Staaten gezeigt. Dieser ist offenbar der letzte heimische Spitzenpolitiker gewesen, der die Osteuropäer begriffen hat. Der begriffen hat, dass man vom Westen aus niemals in diesem Ton mit ihnen reden sollte, wie ihn jetzt Ursula von der Leyen in einer Hetzrede im EU-Parlament angeschlagen hat. Und dass das schon gar nicht ein Politiker deutscher Muttersprache tun darf. Womit Kurz ganz in der Tradition von Alois Mock, Erhard Busek und Wolfgang Schüssel mit ihrem großen Verständnis für Osteuropa gestanden ist, aber auch in der von Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher.

Allein jene Aggressionen, die im März 1938, also ein paar Monate vor dem Überfall des Deutschen Reiches auf Polen, Österreich angetan worden sind, hätten heimische Politiker mit Geschichtsverständnis dazu anhalten müssen, nicht mitzubrüllen, wenn eine Deutsche gegen Polen hetzt. Aber freilich: Dazu müsste man überhaupt einmal wissen, was damals passiert ist. Dass damals ein anderer Deutscher den österreichischen Regierungschef angeschnauzt hat: Tun Sie das! Tun Sie das! Tun Sie das! Sonst würde man "mit allen Mitteln" gegen Österreich vorgehen. Man muss schon sehr unsensibel oder historisch ahnungslos (oder Opfer der brutalen Geschichtsumschreibung mancher Universitäten) sein, um da nicht erschreckt zusammenzufahren. Gewiss, es gibt auch Unterschiede. Damals war es ein Mann und keine Frau; und Brüssel hat nur den Anfangsbuchstaben mit Berchtesgaden gemeinsam.

Historisch sensible Menschen würden auch wissen, dass der Westen nicht ganz unschuldig daran ist, dass die Osteuropäer nach 1945 dem Sowjetkommunismus ausgeliefert worden sind. Aber auf wen trifft die Bezeichnung "historisch sensibel" in der heutigen Politikergarde schon zu …

Nun werden manche sagen: Aber ist es nicht arg, dass es in Polen jetzt eine Disziplinarkammer für Richter gibt, dass Richterbesetzungen an Höchstgerichten parteipolitisch erfolgen? Das kann man gewiss arg finden – nur muss man dann konsequenterweise mindestens ebenso energisch gegen den Balken im eigenen Auge argumentieren. Also dagegen, dass in Österreich sowohl im Verfassungsgerichtshof wie auch bei sämtlichen Verwaltungsgerichten die Richterbesetzungen zur Gänze parteipolitisch erfolgt sind. Und dass es ebenso  in vielen anderen EU-Ländern parteipolitischen Einfluss auf die Gerichtszusammensetzungen gibt.

Ausdrücklich sei aber gleich hinzugefügt: Dazu gibt es wenige sinnvolle und gute Alternativen. Denn letztlich kann nur auf dem Weg über die Parteien die Demokratie als oberste Macht gegenüber allen Staatsgewalten zur Anwendung kommen. Und die besteht eben in der Letztentscheidung durch das Volk, von dem auch in Österreich alles Recht ausgeht. Zumindest, wenn man die Verfassung noch ernst nimmt.

Diese Letztentscheidung bietet auch die einzige Antwort auf die Tatsache, dass wir Österreicher damit leben müssen, dass im VfGH eine Mehrheit linksdenkender Richter zuletzt eine Reihe übler Urteile produziert hat (Diese Richter sind entweder von Rot oder Grün vorgeschlagen worden oder von einer ÖVP, die unter Pröll und Mitterlehner ähnlich denkende Verfassungsrichter in den VfGH gebracht hat). Aber die Demokratie bietet eben im Prinzip die Möglichkeit, dass das Volk durch die Wahlergebnisse solche Fehlentwicklungen durch Gesetze oder Judikatur korrigieren kann. Und ohne direkte Demokratie kann es das nur durch die Parteien.

Die einzige Alternative dazu wäre ein Richterstaat, also ein System, in dem eine kleine Juristenclique die ganze Macht im Staat an sich gerissen hat und nie mehr aus den Händen gibt. Ein solches System ist aber eindeutig schlimmer als eines, in dem das Volk über die Parteien das demokratische Gegengewicht zu Allmachtaspirationen der Richterklasse bildet (und zu denen der Staatsanwälte erst recht). Nur durch das demokratisch entscheidende Volk können die notwendigen "Checks and Balances" entstehen, um die bei jedem Staatsakteur vorhandenen Allmachtaspirationen  zu limitieren.

Das EU-Ausland sollte sich daher in Hinblick auf Polen wie auch alle anderen Mitgliedsstaaten nicht zum Richter über die dortige Rechtsstaatlichkeit aufspielen, sondern einzig und allein prüfen: Ist das Funktionieren der Demokratie dort – wie in anderen Mitgliedsstaaten – gewährleistet? Hat das Volk das letzte Wort? Finden von der Wahlwerbung bis zur Auszählung der Stimmen saubere Wahlen statt? Können die polnischen Bürger ein Parlament abwählen, das angeblich unsaubere Disziplinarkammern für polnische Richter eingerichtet hat?

Da es in dieser Hinsicht keinen Zweifel an Polen gibt, gibt es auch keinerlei Berechtigung, die Rechtsstaatlichkeit Polens in Frage zu stellen. Es sei denn, man will Polen aus der EU hinaustreiben. So wie man ja schon Großbritannien hinausgetrieben hat. Sind doch die Hauptgründe für den Brexit ebenfalls eindeutig der EU-Zentralismus und die Machtanmaßungen des EU-Gerichtshofs gewesen. Diese beiden Dinge sind ja auch der Grund, warum die Schweiz und Norwegen der EU gar nie beigetreten sind.

Im EU-Gerichtshof fehlt dieses Gegengewicht, dass letztlich innerhalb jeder Nation das Volk die Macht hat, Fehlentwicklungen demokratisch zu bekämpfen. Das hat sich beispielsweise durch den Skandal des Jahres 2018 gezeigt, als die "alte" Richterbank des EuGH einfach und brutal die von Österreich vorgeschlagene Nachfolgerin abgelehnt hat. Dies geschah wie bei den mittelalterlichen Feme-Gerichten ohne Nennung von Gründen. Aber natürlich war jedem klar: Die vorgeschlagene Universitätsprofessorin war den EU-Zentralisten im Gerichtshof nicht links genug, sie hatte sogar einmal "gewagt", sich kritisch über die Abtreibung zu äußern.

Diese Entwicklung Europas zu einem zentralistischen Richterstaat erinnert übrigens auch lebhaft an die einstige Feudalklasse, deren Vorfahren ja auch als Richter (und Heerführer) begonnen und dann aus dieser Funktion heraus die absolute Macht an sich, an die eigenen Familien gerissen hatten, auch wenn dann Nachfahren charakterlich oder intelligenzmäßig oft letztklassig gewesen sind (William Shakespeare etwa hat für die Nachwelt drastische Bilder dieser Letztklassigkeit aufgezeichnet).

Zurück in die Gegenwart: Solange es keine klaren europäischen Gesetze gibt, wie die Organisation der Justiz in jedem einzelnen Mitgliedsstaat zu erfolgen hat, ist es ein historischer Skandal, wenn sich über den undefinierbaren Gummibegriff der Rechtsstaatlichkeit EU-Gerichtshof und Kommission das totalitäre Recht arrogieren, in allem und jedem den Mitgliedsländern dreinzureden und Vorschriften zu machen. Oder genauer: jenen Ländern Vorschriften zu machen, die eine parteipolitische Mehrheit in der EU nicht mag.

Es ist also auch in dieser Hinsicht erschütternd, dass die meisten österreichischen Politiker dem EU-Zentralismus zujubeln. Und nicht begreifen, dass schon morgen Österreich dessen Opfer sein kann.

Dieses zentralistische Denken hat Österreich ja ohnedies schon mehrmals voll getroffen. Zweimal ganz besonders demütigend:

Einmal, als im Jahr 2000 eine parlamentarische Mehrheit gewagt hat, eine den europäischen Linksparteien nicht genehme Koalition in Regierungsfunktion zu bringen. Damals hat man auch ohne jede Substanz behauptet, in Österreich wären Rechtsstaat und Demokratie bedroht.

Und ein andermal, als Kommission und Gerichtshof durchgesetzt haben, dass Österreich seine Universitäten und das dortige Gratisstudium (das ja in etlichen Disziplinen noch immer hohe Qualität anbietet) voll für EU-Ausländer öffnen müsse. Selbst für solche, die in ihrer Heimat nicht die Berechtigung zum Studium haben – etwa, weil sie als Deutsche zu schlechte Noten haben, um die Hürde des Numerus clausus vor den Eingangstoren deutscher Unis zu nehmen.

Tatsache ist ja: Das nationale Bildungssystem und viele andere Rechtsbereiche sind ausdrücklich vom EU-Recht ausgenommen. Aber im Lauf der Jahre haben sich die EU-Institutionen solche juristischen Kniffe ausgedacht, mit deren Hilfe sie in absolut jedes nationale Gesetz willkürlich hineinregieren können. Der wichtigste war die Übernahme der Grundrechte ins EU-Recht. Seither kann man – um nur das am häufigsten angewandte Beispiel zu nennen – jederzeit bei absolut jedem Paragraphen jedes Gesetzes in Frage stellen, ob er "rechtsstaatlich" sei. Das kann jeder drittklassige Jus-Absolvent  zumindest so lange durchargumentieren, so lange es keine exakt abgrenzende Definition gibt, was dieser Schaumgummibegriff eigentlich bedeutet.

Genau das gleiche Problem gibt es in Bundesstaaten wie Österreich auch innerstaatlich. Die Versuche einer zentralistischen Machtanmaßung sieht man im Verhältnis Bund-Bundesländer genauso wie im Verhältnis EU-Mitgliedsstaaten. Aber in Österreich muss der Bund respektieren, dass die Verfassung genau abgrenzt, wo er und wo die Länder zuständig sind. Der Bund kann das nur in einzelnen konkreten Materien mit einer Zweidrittelmehrheit durchbrechen – also nur durch eine Änderung der Verfassung. Das hat zumindest bis vor wenigen Jahren der Verfassungsgerichtshof auch korrekt überwacht und immer jede Machtanmaßung des Bundes in die Schranken gewiesen.

Dennoch kann es keine Zweifel geben, dass letztlich Föderalismus und Subsidiarität viel menschennäher und funktioneller sind als jeder Zentralismus. Dennoch versuchen vor allem linke Politiker immer wieder, mit irgendwelchen Tricks den Zentralismus zu stärken. Etwa einst durch die angebliche Notwendigkeit des Klassenkampfes oder neuerdings durch die angebliche Notwendigkeit der Planetenrettung vor einem angeblichen Verbrutzeln. Solche Tricks lassen sich juristisch immer darstellen.

Aus all diesen Gründen sollte es eigentlich völlig eindeutig sein, dass Polen mit seinem Kampf gegen den EU-Zentralismus und Imperialismus auch voll die Interessen Österreichs vertritt. Die Polen, von den Höchstgerichten bis zum Parlament, wollen genau das, was richtig ist: Die EU und ihre Institutionen sollen zwar durchaus die Letztentscheidung in all jenen Materien und Rechtsfragen haben, die ihnen laut Vertrag auch zustehen. Aber der Rest sollte in der nationalen Souveränität verbleiben.

In den EU-Verträgen steht nichts vom Universitätssystem oder der Gerichtsorganisation oder der Umverteilung von sogenannten Flüchtlingen, die irgendein anderes EU-Land hereingelassen hat, und auch nichts vom Gelddrucken, von der Staatenfinanzierung durch die EU oder einer Schuldenaufnahme durch die EU. Und schon gar nichts von linksradikalen Schlagworten wie "Geschlechtergerechtigkeit", die jetzt verlangt wird, was immer diese jenseits der überall längst verfassungsrechtlich festgehaltenen Gleichberechtigung eigentlich genau sein soll.

Sehr wohl steht aber sehr viel vom Binnenmarkt in den Verträgen, also von den vier grundlegenden Freiheiten: freier Warenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr, freier Personenverkehr, freier Kapitalverkehr. In all diesen Fällen soll zu Recht die Letztentscheidung beim EuGH liegen, wenn jemand aus dem Land A seinen Rechtsstreit mit dem Land B nicht nur durch Gerichte des Landes B entschieden haben will (was ja etwa auch die Notwendigkeit von neutralen Schiedsgerichten im Fall von internationalen Handelsverträgen erklärt).

Genau unter diesen, wenn man so will "neoliberalen" Spielregeln haben zwei Drittel der Österreicher auch 1994 Ja zum Beitritt zur Union gesagt. Genau unter diesen Spielregeln habe auch ich mich damals sehr eindeutig und überzeugt dafür ausgesprochen.

Sollten die Spielregeln jetzt anders sein, sollte jetzt die EU totalitär und zentralistisch in allen Bereichen das letzte Wort haben wollen, dann wäre es demokratisch eigentlich zwingend, neuerlich das Volk darüber entscheiden zu lassen. Und dessen Entscheidung wird wahrscheinlich nicht nur in jenen Ländern, die nach 40 Jahren den Sowjet-Totalitarismus abgeschüttelt haben, anders ausfallen, als es sich die Machtgier in EU-Parlament, -Gericht und -Kommission vorstellt.

Aber jedenfalls werden sich die Osteuropäer mit Sicherheit von einem EU-Totalitarismus abwenden, nachdem sie mit so viel Heldenmut den Sowjet-Totalitarismus und seine Panzer abgeschüttelt haben. So viel Geld kann ihnen gar nicht winken – ganz abgesehen davon, dass die alte EU inzwischen wirtschaftlich von Frankreich bis Italien schwer marod ist, und dass auch Deutschland rapid in eine Multikrise schlittert, sodass bald kein Geld mehr da sein wird, mit dem man den Osteuropäern winken könnte. Die sich selbst prächtig entwickeln.

Damit erweist sich der gegenwärtige EU-Mainstream nicht nur als charakterlich letztklassig, sondern auch als dumm.

Wie sehr der von Brüssel betriebene Total-Zentralismus auf wachsende Widerstände stößt, ist nicht nur in Polen, Ungarn und Slowenien, nicht nur in Großbritannien, der Schweiz und Norwegen zu sehen, sondern auch schon im EU-Gründungsland Frankreich. Dort fordert der potenzielle konservative Präsidentschaftskandidat Barnier (ein langjähriger EU-Funktionär!!) zumindest in Migrationsfragengenau das, was Polen verlangt: Er verlangt eine Beschränkung des Einflusses europäischer Gerichte, denn Frankreich müsse seine "rechtliche Souveränität zurückgewinnen, um nicht länger den Urteilen des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterworfen zu sein",

Nachträgliche Ergänzung: Durch einen technischen Fehler ist der Text leider erst verspätet online gegangen. Bitte um Entschuldigung.

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