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Ein Wahnsinniger – oder „nur“ ein Verzweifelter?

Zuerst hat man es für eine der üblichen Beschimpfungen in Zeiten des Krieges gehalten. Aber jede Stunde mehr wächst das Gefühl, dass die Aussage mehrerer britischer wie ukrainischer Politiker wirklich stimmen könnte: nämlich dass Wladimir Putin wahnsinnig geworden sei. Hat doch der Diktator ohne jeden Grund nun auch die russischen Atomstreitkräfte in Gefechtsbereitschaft gebracht. Hat ihn der Umstand um den klaren Verstand gebracht, dass die Dinge lange nicht so gut laufen, wie er es sich vorgestellt hat? Putins Verhalten erinnert jedenfalls beängstigend an Adolf Hitler, der in seiner Schlussphase den Untergang ganz Deutschlands wünschte, weil es nicht imstande war, den Krieg zu gewinnen. Wenn ich untergehen muss, soll auch das Deutsche Reich untergehen. Hitler kämpfte daher bis fast zum letzten 15-Jährigen. Aber er hatte zum Glück keine Atomwaffen. So hatte sein Wahnsinn "nur" zum Tod von vielen Millionen im Krieg und im Holocaust geführt und zur 40-jährigen Herrschaft der Russen über ganz Europa.

Tatsache ist, dass es heute auf der Welt absolut kein Mittel gibt – außer der vagen Hoffnung auf eine Befehlsverweigerung durch russische Offiziere –, um Putin von einer solchen Tat abzuhalten, sollte er wirklich wahnsinnig geworden sein. Denn die einzig positive Seite der wechselseitigen atomaren Vernichtungsmöglichkeit kann ja nur solange funktionieren, solange beide Seiten rational handeln. Solange das alle wussten, hat die Welt eine relative lange Friedensperiode ohne Konflikte in den Dimensionen eines Weltkriegs oder darüber hinaus erleben dürfen.

Ost wie West haben gewusst: Wenn sie miteinander in eine konventionelle Kriegs-Auseinandersetzung geraten, wäre die Wahrscheinlichkeit groß, dass eine Seite den Atomzünder zieht, sobald sie "konventionell" ins Hintertreffen gerät. Daher haben beide darauf verzichtet, im konventionellen Bereich gegeneinander aufzutreten. Diese Abschreckungswirkung hat sicher eine Zeitlang funktioniert.

Genau um das zu vermeiden, haben es die Amerikaner vermieden, den Bitten der Ukrainer nachzukommen und ihnen durch eigene Truppen zu helfen. Das haben sie den Russen auch schon vor dem Einmarsch klar signalisiert, ihnen also damit freie Hand gelassen.

Umso kranker ist es, dass Putin jetzt dennoch eine atomare Drohung auffahren lässt, obwohl niemand aus dem Westen der Ukraine zu Hilfe gekommen ist. Und noch kranker ist es, gegen einen Nicht-Atomstaat wie die Ukraine solche Drohungen auszusprechen.

Sollte es im Kopf des einsam und aufgedunsen an riesigen Tischen hockenden Mann aber doch noch rational zugehen, dann ist die Versetzung der Atomraketen-Truppen in Alarmbereitschaft ganz klar Folge der Tatsache, dass die letzten Tage für ihn alles andere als so verlaufen sind, wie Putin es sich im Zeitpunkt des Angriffsbefehls wohl vorgestellt hat:

  1. Noch nie hat die gesamte Welt so geschlossen und empört gegen einen einzigen Mann aufgeschrien.
  2. Nirgendwo, außer in ein paar Postings nicht weiter ernstzunehmender Rechtsextremer und in getarnten russischen Plattformen, hat es irgendwo auch nur das geringste Zeichen von Sympathie oder Verständnis für Putins Einmarsch in der Ukraine gegeben.
  3. Selbst in Russland gibt es ungewöhnliche Proteste gegen den Machthaber, wegen der schon Tausende festgenommen worden sind.
  4. Erstmals hat auch ein offizieller russischer Diplomat bei einer internationalen Konferenz offen gegen den Krieg des Diktators Stellung genommen.
  5. Viele Auslandsrussen, vom führenden Dirigenten Kirill Petrenko, der erst vor ein paar Tagen in Wien aufgetreten ist, bis zum derzeit weltbesten Tennisspieler Medwedew haben gegen Putin Stellung genommen.
  6. Mit großer Sicherheit wird es in den nächsten Jahren außer in Belarus, Nordkorea und China keine Sportereignisse geben, an denen russische Sportler teilnehmen können – oder nur solche, die sich ausdrücklich von Putin distanzieren.
  7. Die Protestreaktionen der weltweiten Bürgergesellschaft ist weit heftiger, als es sich Putin wohl ausgemalt hat, der offenbar geglaubt hat, es genüge, ein paar Mal die Ukraine als Nazis zu beschimpfen, einen Raketenhagel loszuschicken und schon stünde die ganze Welt, oder zumindest deren linke Hälfte, gegen die Ukraine,.
  8. Sein Angriffskrieg hat nicht nur in der Nato, sondern auch in der EU eine große Geschlossenheit hergestellt, die einen kompletten Gegensatz zu den letzten Monaten und Jahren bedeutet. Dabei hat es Putin eigentlich immer wieder mit dem Motto versucht: Divide et impera!.
  9. Erstmals gibt die EU offiziell Geld an ein Land, damit sich dieses militärisch besser verteidigen und Waffen kaufen kann.
  10. Dazu kommen viele Millionen an Spenden, die auch aus privaten Quellen in die Ukraine fließen, die sich dabei insbesondere der jedem staatlichen Zugriff immunen Kryptowährungen bedienen.
  11. Nach ein paar Tagen des Zögerns hat die öffentliche Empörung selbst in der deutschen Regierung ein Aufgeben des linken Pazifismus bewirkt. Auch Deutschland liefert nun Waffen an die Ukraine, so wie es etwa Großbritannien, Tschechien, die Niederlande, Litauen schon getan haben.
  12. Auch der Ausschluss russischer Banken vom internationalen Verkehr trifft das Land enorm.
  13. Selbst die sich sonst immer in neutrale Irrelevanz flüchtende UNO übt offene und massive Kritik an Putin.
  14. Putin kann der Ukraine offensichtlich nicht die Kommunikation nach außen abdrehen, worauf diese in einem brillanten Schachzug jetzt die Fotos der gefallenen russischen Soldaten in die Welt schickt. Die zu sehen ist für viele nichtsahnende Russen ein arger Schock.
  15. Die österreichische wie die deutsche Telekom haben Telefonate in die Ukraine kostenfrei gestellt, eine weitere großartige Geste angeblich so gieriger "Kapitalisten".
  16. Der Milliardär Elon Musk hat seinen Satelliten-Internet-Dienst Starlink über die Ukraine geschickt, sodass die Menschen dort auch künftig jedenfalls eine Internet-Verbindung haben werden, die Moskau nicht abdrehen kann.
  17. Putin muss erstmals auch zur Kenntnis nehmen, dass sich der Westen nicht mehr vor einem Abdrehen des russischen Gashahnes fürchtet und offenbar schon intensiv an Ersatzlieferungen von Flüssiggas arbeitet.
  18. Es gibt zumindest Anzeichen, dass die russischen Soldaten unter völlig falschen Informationen in die Ukraine bewegt worden sind, nämlich dass es nur um eine Übung und nicht um einen Angriffskrieg geht. Das reduziert natürlich – bei aller technischen Überlegenheit – enorm die Kampfeskraft der russischen Truppen, wenn sie entdecken, dass alles ganz anders ist.
  19. Motivationslose Soldaten sind natürlich überhaupt ungeeignet für den Kampf in den Städten, sobald man aus dem sicheren Panzer aussteigen muss.
  20. Selbst der eigenen Bevölkerung hat  Putin nicht die ganze Wahrheit über seine "Spezialoperation" zu sagen gewagt und Ausdrücke wie Krieg oder Invasion auf die mediale Verbotsliste gesetzt.
  21. Die schlimmste Ohrfeige für Putin ist zweifellos, dass sich seine Truppen aus der zweitgrößten Metropole der Ukraine, nämlich der Millionenstadt Charkiw zumindest vorübergehend wieder zurückziehen mussten. Dabei ist Charkiw die am intensivsten russisch geprägte Stadt der Ukraine: 85 Prozent sprechen dort ausschließlich Russisch! Und dennoch gibt es auch in Charkiw keinerlei Sympathie für Putins Einmarsch, sondern erbitterten Widerstand.
  22. Erstmals muss Putin jetzt damit rechnen, dass die Ukraine möglicherweise – auch nach einem scheinbaren Sieg Russlands – noch jahrelang ein Gebiet sein wird, wo russische Exponenten jederzeit mit bewaffneten Hinterhalten rechnen müssen. Die Ukraine hat darin große Tradition: Sowohl nach der Oktoberrevolution wie auch nach dem zweiten Weltkrieg hat es dort lange heldenhaften Widerstand gegen die Russen gegeben.

Das alles heißt aber auch: Putin muss erstmals ernsthaft damit rechnen, dass er auch persönlich für seinen absolut einsamen Kriegs-Beschluss zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Auch wenn unklar bleibt, ob irgendein Gremium imstande ist, ihn zu stürzen, so ist klar, dass er seinen Terror – und Beschuss ziviler Wohngebäude ist nichts anderes als Terror – immer mehr intensivieren muss, um nicht ganz persönlich in Gefahr zu geraten.

Tatsache ist jedenfalls, dass er sich statt der Anerkennung auf Augenhöhe, die er mit seinen Aktionen eigentlich erpressen wollte, den Hass der ganzen Welt zugezogen hat. Sich persönlich, aber auch seinem – in Wahrheit unschuldigen – Volk. Es gibt keinen Weg, der erzwingen könnte, dass sich Hass in Liebe oder den verlangten Respekt verwandelt. Das kann keine demokratische Regierung von ihrem Volk verlangen, selbst wenn sie es wollte.

Die Ukrainer zeigen, dass sie lieber sterben wollen, als sich von Putin versklaven lassen. Und der Rest der Welt bewundert sie dafür und nicht Putin.

Das macht aber zugleich die Situation so ausweglos wie gefährlich. Denn selbst wenn er nicht wahnsinnig geworden sein sollte, scheint es für Putin keinen Ausweg mehr zu geben, bei dem er nicht trotz militärischer Überlegenheit sein Gesicht verlieren würde. In ausweglosen Situationen ist aber auch bei nicht-wahnsinnigen Menschen wirklich mit allem zu rechnen.

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