Abonnenten können jeden Artikel sofort lesen, erhalten anzeigenfreie Seiten und viele andere Vorteile. Ein Abo (10 Euro pro Monat) ist jederzeit beendbar und endet extrem flexibel einfach durch Nichtzahlung. 

weiterlesen

Eine Union steuert auf den Zerfall zu

Es kann einen nur mit tiefer Trauer erfüllen, wie stramm die Europäische Union dem eigenen Untergang zusteuert. Dieser wird zwar nicht heuer oder im nächsten Jahr eintreten, aber mit großer Wahrscheinlichkeit – sollte nicht noch ein später Ruck der Vernunft durch die EU gehen – spätestens in den Dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts. Das Integrationsprojekt hat seit der Jahrtausendwende schrittweise und in den letzten Monaten sogar mit erhöhter Selbstzerstörungskraft eine katastrophale Entwicklung genommen. Diese führt diametral weg von den so großartigen Errungenschaften der ersten EWG/EG-Jahrzehnte. Dafür gibt es gleich mehrere, sich vor allem im Zusammenspiel fatal auswirkende Gründe, von der Überregulierung bis zur Überdehnung.

Der wichtigste Faktor wird freilich nie offen ausgesprochen. Er besteht im Hang von Menschen und Organisationen nach immer mehr Macht. Dieser Hang führt quer durch die ganze Geschichte auf allen Ebenen immer wieder zu Machtkämpfen zwischen oben und unten, zwischen links und rechts.

Im Fall der EU ist es insbesondere ein Machtkampf zwischen den Nationalstaaten und den Zentralstaats-Protagonisten ebenso wie unter den einzelnen Körperschaften der EU (insbesondere zwischen EU-Parlament, Kommission, Rat und Gerichtshof). Alle geben dabei – natürlich – vor, es doch nur gut zu meinen. Und dass es am besten wäre, wenn gerade sie die Macht hätten, Dinge zu regeln. Doch zumindest im Unterbewusstsein geht es jedem einzelnen Akteur im Grund nur darum, mehr Macht, mehr Einfluss für sich und die eigene Organisation zu erreichen.

Am lautstärksten versucht dies das EU-Parlament. Am effektivsten aber der EU-Gerichtshof. Er hat in den letzten Jahren einige Formulierungen über Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit in den neuen EU-Verträgen zu einer zentralstaatlichen Generalkompetenz ausgebaut, mit der er sich selbst die Berechtigung zugesprochen hat, in alles und jedes in den einzelnen Mitgliedsstaaten eingreifen zu können.

Dagegen erhebt sich von Monat zu Monat in immer mehr Mitgliedsstaaten Widerstand. Insbesondere bei einer Reihe osteuropäischer Staaten, aber auch beim deutschen Verfassungsgericht in Karlsruhe. Dieses hat in mehreren Urteilen Zentralisierungstendenzen und Kompetenzüberschreitungen durch EU und EZB angeprangert (insbesondere bei der Schuldenpolitik), für die es keine Grundlage in den EU-Verträgen gibt.

Dem steht die zynische Machtanmaßung durch den EU-Gerichtshof gegenüber, die auf den Satz hinausläuft: Wir sind für alles zuständig, wofür wir uns zuständig erklären.

Karlsruhe war zwar nicht dieser Meinung, hat sich aber letztlich nicht getraut, ein hartes Kontra zu geben. Für die deutschen Verfassungsrichter trifft wohl der alte Valentin-Spruch zu: "Mögen täten wir schon wollen, aber dürfen haben wir uns halt nicht getraut."

Österreich und seine Verfassungsrichter haben sich nicht einmal getraut, so weit zu gehen. Als der EuGH die Republik zum freien Zugang für alle EU-Bürger zu unseren Gratis-Universitäten gezwungen hat, haben die Österreicher das geschluckt – obwohl es keine einzige Bestimmung in den EU-Verträgen gibt, welche die Universitäten und den Zugang zu ihnen zur EU-Kompetenz machen würden.

Aber schon damals hat sich der EuGH unter Berufung auf allgemeine Gleichbehandlungsformulierungen eine Generalkompetenz zur Einmischung selbst in solche nationalen Fragen eingeräumt. Seither wird das österreichische Uni-System von jenen Deutschen gestürmt, die zu schlechte Schulnoten hatten, um die Numerus-Clausus-Bedingungen zu erreichen (was zweifellos eine negative Auswahl nach Österreich bringt, die uns noch dazu sehr teuer kommt). Lediglich in einigen Studien wie Medizin wurde von Österreich die Bremse versucht, dass "nur" 25 Prozent der Studenten in Österreich aus anderen EU-Ländern kommen dürfen. Und selbst bei dieser Bremse ist ungewiss, ob sie auf Dauer funktioniert. Denn sie hängt davon ab, dass niemand das Thema neuerlich vor den EuGH bringt, dass die Kommission sich zurückhält.

Ganz anders die Osteuropäer. Nach der Reihe stellen sie sich derzeit auf den Standpunkt: Die EU hat nur dort Kompetenzen, wo der EU-Vertrag das auch ausdrücklich vorsieht. Das ist ein absolut fundamentaler Gegensatz zur EuGH-Judikatur.

Auf der Gegenseite haben sich die drei Zentralisierungskörperschaften der EU – Kommission, Parlament und Gerichtshof – immer tiefer eingegraben. Sie haben keine Sekunde lang eingelenkt und einen Kompromiss gesucht. Sie haben ganz im Gegenteil den Zentralisierungsdruck noch erhöht. Sie meinen, sich in allem und jedem in alle inneren Angelegenheiten der Mitgliedsländer einmischen zu dürfen.

Jetzt haben in Polen jedoch sowohl das Verfassungsgericht wie auch die Regierung ausdrücklich gesagt, dass die EU nur in jenen Bereichen etwas zu sagen hat, die ihr im Vertrag auch zugesprochen worden sind. Etwa für Fragen des derzeit diskutierten nationalen Richterrechts gibt es jedoch keine Grundlage im EU-Vertrag. Deshalb haben die Polen beinhart die EU-Einmischung zurückgewiesen.

Damit donnert die polnische Lokomotive derzeit ungebremst auf jene der EU zu.

Ähnliche Konflikte gibt es auch mit anderen Ländern, wenngleich auf kleinerer Flamme. Besonders Ungarn ist solidarisch mit Polen. Es hat jetzt zwar in einem Detail (die Frage, wieweit die NGOs ihre Finanzierung offenlegen müssen) einen kleinen Schritt angesichts eines EuGH-Urteil zurück gemacht, bleibt aber ansonsten hart.

Wie wird es da nun weitergehen?

Gar nicht gut, kann man prophezeien. Zwar ist es durchaus möglich, dass auch die Polen noch einmal im allerletzten Moment eine Notbremsung einlegen. Aber das wird mit Garantie keine dauerhafte Lösung sein.

In Brüssel und in den sechs Gründungsstaaten der EWG/EG/EU ist man ohne lang nachzudenken überzeugt, dass man sich in all diesen Konflikten durchsetzen wird. Denn die Osteuropäer seien viel zu gierig auf das Geld, das ihnen über die diversen EU-Fonds zufließt, als dass sie austreten würden; das ließe ihnen keine andere Option, als sich den EU-Beschlüssen zu beugen. Das ist aber eine sehr kurzsichtige Strategie.

Denn sie übersieht gleich mehreres:

  1. Die osteuropäischen Staaten vom Baltikum bis zur Adria entwickeln sich im Schnitt wirtschaftlich brillant. Sie wachsen viel rascher als die Westeuropäer. Sie werden daher immer weniger Netto-Empfänger sein, womit man ihnen auch immer weniger mit Geldentzug drohen kann.
  2. Die Mittelosteuropäer sind untereinander hochgradig solidarisch. Das bezieht sich nicht nur auf die vier Visegrad-Staaten, sondern jedenfalls auch auf Slowenien, und möglicherweise auch weitere Reformstaaten (so sind die Litauer als Folge der Massenabschiebungen irakischer Migranten durch Belarus neuerdings zumindest in Sachen Migration ganz auf die Seite von Ungarn & Co gerückt, während bisher das Thema für sie wenig relevant gewesen war).
  3. Wenn die EU-Zentralisten wirklich auf hart spielen, dann werden auch die Reformstaaten auf hart spielen und etwa durch kollektive Veto-Ausübung vieles in der EU blockieren. Wenn es einmal soweit ist, wird ein Zurück, ein Kompromiss noch viel schwerer werden.
  4. Die Strategie der EU-Zentralisten ist auch psychologisch total falsch, weil es sich kein Volk auf  Dauer gefallen lässt, wie ein Kolonialvolk gedemütigt zu werden, dem man nur die Banane vor die Nase halten muss, damit es pariert.
  5. Sollte sich der Konflikt längere Zeit hinziehen, dann werden sich diese Staaten immer stärker nach Beziehungen und Freundschaften außerhalb der EU umsehen: China ist in diesem Raum schon jetzt sehr aktiv, aber auch Russland hat etwa in Ungarn schon sehr gute Kontakte (in Polen und im Baltikum hat es freilich noch lange keine Chancen); aber auch die USA und Großbritannien könnten entdecken, dass Europa aus mehr besteht als Brüssel und Berlin.
  6. Vor allem sind die Bevölkerungen dieser Länder noch sehr stark vom Widerstand gegen die sowjetische Diktatur geprägt. Sie haben noch zentral in ihrem kollektiven Gedächtnis gespeichert, dass es einzig ihr nationaler Zusammenhalt gewesen ist, der ihnen geholfen hat, die Fremdherrschaft abzuschütteln.

Kein einziger Mensch in den Reformländern versteht daher die fixe Idee der Deutschen, dass Nationalismus etwas Schlechtes wäre. Ganz im Gegenteil: Für sie sind die eigene Nation und der nationale Zusammenhalt fast die einzige positive Kraft, die sie in der Geschichte erlebt haben. Diese hat ihnen auch geholfen, die ersten 15 Jahre nach Abschütteln der Sowjetdiktatur zu überleben, als die EU noch in weiter Ferne gewesen ist.

In Brüssel und Umgebung muss man grenzenlos naiv sein, wenn man diese Zusammenhänge nicht begreift. Die Mittelosteuropäer haben mit dieser Kraft sowohl Nazi- wie Sowjet-Diktatur bekämpft und überlebt. Für sie ist es daher ganz selbstverständlich, dass sie sich von Brüssel schon gar nicht unterjochen lassen. Sind doch dessen einziges Unterjochungsinstrument nicht Panzer, sondern nur Geld.

Zugleich ist völlig klar, dass jenes Geld immer weniger wird, das an die Osteuropäer fließt. Aus mehreren Gründen:

  • wegen der mauen Wirtschaftsentwicklung in den südeuropäischen Staaten, die immer mehr der verfügbaren Hilfsgelder wegsaugen;
  • wegen der schweren Selbstbeschädigungen vor allem Österreichs und Deutschlands bei den an Don Quixote erinnernden Versuchen zur Rettung des Weltklimas, sodass auch diese Länder immer weniger Nettozahler spielen können;
  • und wegen der gewaltigen Kosten durch die Migranten-Massen. Wenn die EU-Zentralinstitutionen so weitertun, wenn der Klimatotalitarismus wirklich so kommt, wie jetzt von der EU-Kommission vorgeschlagen, dann ist der Tag nicht mehr allzu fern, da die Osteuropäer zu dem Schluss kommen werden: In dieser EU haben wir eigentlich nichts mehr verloren.

Das wäre natürlich für alle beteiligten Nationen tragisch, weil das großartigste Projekt des 20. Jahrhunderts, also jenes der Schaffung eines gesamteuropäischen Binnenmarktes, für alle große Vorteile gebracht hat und weiter bringen würde. Aber eine ähnliche Katastrophe ist ja schon einmal beim Brexit passiert, wo die EU auch keine Sekunde von ihrem hohen Ross heruntergestiegen ist, bis es zu spät für sie war.

Hätten sich die EU-Politiker statt von ständiger Machtausweitung zu träumen, darauf konzentriert, den Binnenmarkt gut am Funktionieren zu halten, wäre damit allen gedient gewesen. Aber sie wollen halt mehr. Und sie werden daher den Osteuropäern wohl noch weniger entgegenkommen als den Engländern. Haben die Menschen in Brüssel und Umgebung doch hohe Wertschätzung für die Briten, deren Sprache überdies alle beherrschen. Hingegen verstehen sie die Osteuropäer in deren so ganz anderen Werthaltung nicht. Und unterschwellig ist da wohl auch ein wenig Rassismus und Verachtung für die Osteuropäer im Spiel.

Wer begreift denn schon, dass weniger Europa letztlich viel mehr Europa wäre, dass der Versuch, alles zu wollen, alles zu zerstören droht! Er tut dies vor allem dann nicht, wenn er selber zu jenen gehört, die in einem "Mehr Europa" selbst mehr Macht hätten; die wie einst der gute Kaiser besser als alle anderen zu wissen glauben, was denn gut für die Menschen wäre, die diese – um nur eine besonders dramatische Fehlentwicklung zu nennen – sogar totalitär zu entmündigen versuchen, weil sie  nicht bereit sind, für eine angebliche Rettung des Weltklimas dramatische Wohlstandseinbußen hinzunehmen.

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)
Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print



© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung