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Eine demaskierende EU-Groteske in zwölf Aufzügen

Der Zerfallsprozess der Europäischen Union spiegelt sich nun auch in einer Groteske um die Besetzung ihrer Spitzenfunktionen. Diese findet gleich in zwölf Abteilungen statt. Dabei geht es nicht bloß um den ja überall vorkommenden Dissens zwischen Parteien bei einer Entscheidungsfindung, sondern um fundamentale Konstruktionsfehler der EU, die sich dabei offenbaren.

Es bestätigt sich: Die Architektur der EU wurde von Reform zu Reform mehr verpfuscht; zu viele Möchtegern-Baumeister haben im Laufe der Jahre mit total unterschiedlichen Intentionen gegeneinander gewirkt; die allem zugrundeliegenden Interessen- und Machtkonflikte zwischen Groß und Klein, zwischen Bewahrungs- und Zukunftsorientierung, zwischen Zentralisten und Identitätsbewussten, zwischen Deutschland und Frankreich sind nie wirklich geklärt worden; nicht einmal die fundamentale Frage ist entschieden, ob die EU auf der Gleichheit der Staaten oder der Gleichheit der Menschen beruht.

In Wahrheit kann nur noch ein Zurück an den Start – oder zumindest ein Zurück um viele Felder die Union noch retten. Bei diesem Zurück müsste man sich vor allem gleichzeitig bewusst machen, wie lebenswichtig die EU als Wirtschaftsgemeinschaft ist, wie unnötig viele Einmischungen von EU-Instanzen in das Leben der Menschen, aber auch wie unverzichtbar für die Menschen ihre jeweilige nationale Identität ist. Diese Klärungen werden im Überlebensinteresse der EU früher oder später unabdingbar, auch wenn irgendwann irgendwie irgendwer für die Spitzenpositionen gefunden werden sollte.

Die zwölf Schlachtfelder der gegenwärtigen Groteske um die eigentlich banale Einzelfrage der Besetzung einiger Funktionen zeigen anschaulich gravierende Konstruktionsprobleme der EU:

  1. Sowohl der "Europäische Rat", also das Gremium der Regierungschefs, wie auch das EU-Parlament wollen das entscheidende Wort bei der Besetzung der wichtigsten Machtfunktionen haben – und beide können sich dabei auf Teile des derzeitigen EU-Vertrages stützen. Vom Volk ist in diesem freilich nirgends die Rede.
  2. Jedoch sind zumindest bisher weder das EU-Parlament noch der Rat zu irgendwelchen, geschweige denn klaren Entscheidungen imstande gewesen.
  3. Im Rat ist der wildeste Machtkampf zwischen Deutschland und Frankreich seit Jahrzehnten ausgebrochen. Und das in aller Öffentlichkeit. Jahrelang waren ja die Interessenkonflikte zwischen diesen beiden großen Staaten hinter verschlossenen Türen gehalten worden und letztlich unter ständigem Rufen "Hoch die deutsch-französische Freundschaft!" irgendwie beigelegt oder schubladisiert worden. Doch jetzt donnern die deutsche Bundeskanzlerin und der französische Präsident wie zwei Schnellzüge ungebremst aufeinander zu. Jetzt kann keiner mehr ohne große Gesichtsverluste abbremsen.
  4. Angela Merkel wird wohl auch in Berlin abdanken müssen, wenn sie dabei unterliegt. Da wird es ihr auch nichts mehr nützen, dass sie die gegenwärtige CDU-Chefin AKK – die sie im Vorjahr eigentlich selbst als spätere Nachfolgerin auserkoren hat – inzwischen mit ziemlichem Erfolg scheibchenweise demontiert hat (und diese sich auch selbst). Aber inzwischen ist in Deutschland der beim CDU-Parteitag von der Merkel-Front noch einmal abgewehrte Friedrich Merz schon wieder sehr selbstbewusst unterwegs.
  5. Für Deutschland als in jeder Hinsicht größtes EU-Land ist ein Aspekt besonders bitter: Das Land hat seit dem allerersten Kommissionspräsidenten Walter Hallstein noch nie eine EU-Spitzenfunktion besetzt, während Luxemburg schon dreimal einen Hallstein-Nachfolger gestellt hat, und einige andere Länder schon zweimal, während Italien derzeit sogar drei der fünf EU-Spitzenämter besetzt hält. Deshalb steht Merkel massiv unter Druck, jetzt wenigstens eines davon für Deutschland zu sichern. Sie gibt zwar vor zu kämpfen, aber auf Grund der Erfahrung gehen viele in Europa davon aus: Merkel blufft ohnedies nur, an Schluss gibt sie immer nach.
  6. Deutschland hat zwar gleich zwei Kandidaten im Rennen um solche Spitzenfunktionen. Aber beide drohen zu scheitern. Der eine, weil er zu unfähig ist, der andere, weil er zu fähig ist. Überdies scheint sich Merkel nicht entscheiden zu können, für welchen von den beiden sie wirklich kämpft. Das gibt sogar zunehmend den Spekulationen Platz, dass sie selber die EU-Kommission übernehmen will. Was sie aber wiederum mehr oder weniger entschieden zurückgewiesen hat (was freilich nicht viel heißt – sie kann sich ja nicht gut öffentlich ins Spiel bringen lassen, solange der Erfolg nicht sicher ist. Zumindest dann nicht, wenn sie noch weiter Bundeskanzlerin bleiben will).
  7. Der unfähige Deutsche heißt Manfred Weber. Er ist der Spitzenkandidat der trotz deutlicher Verluste als größte Fraktion aus der EU-Wahl hervorgegangenen Europäischen Volkspartei. Der Mann aus Bayern ist jedoch ein Leichtestgewicht (was eigentlich auch Sebastian Kurz sehen hätte müssen, der sich sehr für Weber exponiert hat). Er hat nie interessante Konturen oder gar Führungsfähigkeit gezeigt. Er hat nie ein exekutives Amt innegehabt. Er ist vielmehr eine matte Kopie der Angela Merkel, insbesondere auch beim Thema Migration. Ein spitzer Kritiker nannte ihn einen "Brüsseler Sektglashalter ohne Regierungserfahrung". Deshalb kann man den französischen Präsidenten an sich auch verstehen, der sich explizit und öffentlich gegen Weber ausgesprochen hat. Deshalb wäre es für Macron unerträglich, würde Weber doch noch Kommissionspräsident. Andererseits sind aber solche öffentlichen Festlegungen in der EU bisher ein No-Go gewesen. Sie bringen Macron daher auch viel Kritik ein.
  8. Der fähige Deutsche heißt hingegen Jens Weidmann. Der deutsche Bundesbankpräsident interessiert sich für den Job als Chef der Europäischen Zentralbank. Mit ihm sind die letzten Hoffnungen vieler Europäer auf eine Rückkehr einer verantwortungsbewussten und geldwertorientierten Euro-Politik verbunden. Aber genau das will Mario Draghi, der jetzige EZB-Chef und mit ihm die Gruppe der Schuldenmachländer rund ums Mittelmeer verhindern. Denn sie sind ja nur durch Draghis Nullzinspolitik bisher einer Pleite entgangen. Diese Politik würde aber bei Weidmann nicht so weitergehen. Das ist für diesen ein viel ernsteres Hindernis als die Tatsache, dass eben noch ein zweiter Deutscher im Rennen ist.
  9. Besonders grotesk ist aber auch das EU-Parlament, das die letzte Entscheidung trifft, sobald es vom Rat einen Vorschlag vorgelegt bekommt. Es beharrt einerseits kampfeslustig auf seiner diesbezüglichen Kompetenz; und es beharrt andererseits auf der Festlegung, dass nur ein "Spitzenkandidat" der letzten EU-Wahl Kommissionspräsident werden könnte. Jedoch gibt es für keinen der Spitzenkandidaten eine Mehrheit im Parlament, auch für Weber nicht! Sie sind gegen alles, aber nirgends dafür.
  10. Weber will noch dazu nach Merkelscher Art nicht auf die Stimmen der Rechtsfraktionen im Parlament angewiesen sein. Aber auch mit diesen würde es in dem total zersplitterten Parlament für ihn nicht reichen. Trotz des Rechtstrends bei den Wahlen dürfte daher am Ende irgendein Linker oder Linksliberaler das Rennen schaffen.
  11. Andererseits sitzen auch im Europäischen Rat die Regierungschefs etlicher "rechter" Länder, die alles andere als einen Linken oder eine deutsche Merkel-Kopie an der Spitze der Kommission wollen. Insbesondere die Osteuropäer werden vehement aufzeigen. Ungarn feiert bereits: Die Kandidaten Weber und Timmermans (sozialistischer Listenführer) seien wegen ihrer Kritik an Ungarn & Co durchgefallen. Was zwar verdient wäre, aber vielleicht doch nicht direkt zusammenhängt. Und dass die Italiener gleich all ihre drei Spitzenfunktionen verlieren sollen (EZB-Chef Draghi, Außenbeauftragte Mogherini und Parlamentspräsident Tajani), werden sie auch nicht leicht wegstecken.
  12. Das Hauptproblem aber ist die viel zu komplizierte Konstruktion der EU. Es braucht qualifizierte Mehrheiten im Rat (das heißt: die Zustimmung von 55 Prozent der Mitgliedstaaten, die wieder mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren), und es braucht eine echte absolute Mehrheit - also unabhängig von Enthaltungen - im total zersplitterten und durch keine Fraktions- oder Koalitionsdisziplin strukturierten EU-Parlament. Dann gilt halt: Wenn ein vorgeschlagener Kandidat dort keine Mehrheit bekommt, beginnt im Rat nach einem Monat die Prozedur von Neuem ...

Angesichts dieses Schlamassels zeigt sich wieder einmal deutlich: Im Vergleich zu den Verfassungen vieler Länder ist der EU-Vertrag schlimmer Pfusch, bei dem schon viel zu viele Köche die Suppe versalzen haben. Wie klar und eindeutig ist dagegen beispielsweise in Österreich die Verfassungslage: Wer bei der Volkswahl gewinnt, wird Bundespräsident. Punkt. Und der, den dieser zum Bundeskanzler ernennt, der wird Regierungschef. Punkt. Und er bleibt dies bis zu seinem Rücktritt, außer es findet sich eine Mehrheit für ein Misstrauensvotum. Punkt.

Wenn aber nicht einmal so grundlegende Dinge funktionieren, wenn die EU von einer Selbstlähmung in die nächste fällt, sind die Bobo-Phantasten einfach absurd, die von "Vereinigten Staaten von Europa" träumen und von einer gemeinsamen Verteidigung (ohne Armee und Oberbefehlshaber …) faseln. Da braucht man gar nicht zusätzlich darauf  zu verweisen, dass die EU nicht einmal die teilweise Okkupation des Territoriums eines Mitglieds (Nordzypern wird von der Türkei besetzt gehalten) verhindern kann, sondern kleinlaut den Okkupator weiterhin hofiert und als Beitrittskandidat behandelt. Oder dass sie zum Selbstbestimmungsrecht (siehe etwa Katalonien) keine Meinung wagt. Selbst in ihrem ureigensten Gebiet, der Handelspolitik, ist die EU nicht mehr aktionsfähig, wie die fehlende Antwort auf die diversen Handelskriege zeigt (wo ja beispielsweise gegenüber China der verhasste Trump eindeutig auch europäische Interessen vertritt, Europa jedoch schweigt).

Zusätzlich rennen von Großbritannien bis zur Schweiz der EU neuerdings die Partner davon. Und der Union fällt dazu nur ein, diese Länder zu beschimpfen, aber nicht konstruktiv zu verhandeln, um diese Länder möglich eng an sich zu binden.

Wo zeigt die EU überhaupt noch Handlungsfähigkeit? Die Antwort ist leicht polemisch, aber keineswegs ganz falsch: bei der österreichischen Karfreitags-Regelung und bei den Vordienstzeiten-Anrechnungen der österreichischen Beamten. Und natürlich bei der von Brüssel geliebten Vorzugsschülerrolle in Sachen Klimapanik – die aber sinnlos, lächerlich und vor allem für Europa selbstbeschädigend ist, solange der Rest der Welt nicht mitmacht.

Es ist ernüchternd, wenn die Union nur noch dort aktionsfähig zu sein scheint, wo man sie absolut nicht braucht.

PS: Dass Österreich seit dem Beitritt fast nie jemand Geeigneten für EU-Spitzenfunktionen hatte und hat, spricht freilich nicht gegen die EU, sondern nur gegen Österreich. Lediglich Wolfgang Schüssel war eine Zeitlang im Gespräch. Aber das ist auch schon alles in einem langen Vierteljahrhundert gewesen. Das hängt aber nicht mit der - international klarerweise völlig isolierten und bedeutungslosen - Übergangskanzlerin zusammen, sondern damit, dass Österreich in Wahrheit schon vorher völlig isoliert gewesen ist. Es hat die einst unter Schüssel vorsichtig angegangene mitteleuropäische Zusammenarbeit völlig links liegen gelassen. Dabei wäre Österreich zusammen mit den vier Visegrad-Staaten ein viel ernst zu nehmender Faktor.

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