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Merkels Abgesang

Griechenlandkrise, Flüchtlingskrise, Brexit – das ehemalige CDU-Mitglied Bernd Lucke führt alle drei auf „historische Fehlentscheidungen“ der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel zurück. In einem Kommentar für Focus Online kommt der Wirtschaftsprofessor und EU-Abgeordnete zu einem vernichtenden Urteil: „Es fällt schwer, einen deutschen Bundeskanzler zu nennen, der in ähnlicher Weise Fehlentscheidungen zu verantworten hat wie Angela Merkel.“ 

Tatsächlich ist Merkels Agieren in allen drei von ihr mitverursachten Krisen symptomatisch für die Art und Weise, wie sie – und auch andere europäische Spitzenpolitiker – heute Entscheidungen fällen. Oder besser gesagt: nicht fällen. Der immergleiche Modus operandi Merkels: zuerst jahrelanges Ignorieren von Fakten und Warnungen. Also: autistisches Verhalten, fehlgeleitet vom Irrglauben, auf uns zukommende Probleme ließen sich aussitzen – und vorher muss man ja noch Wahlen gewinnen. 

Dann, nachdem die sich ankündigenden Probleme zu brennenden Problemen geworden sind, wenn es also eigentlich bereits fünf nach zwölf ist, wird die am wenigsten unpopuläre Maßnahme gefällt, die den geringsten Gegenwind in den Medien zu erwarten hat, die jedoch das Problem nicht löst, sondern mittel- und langfristig nur verschlimmert. Leider hat Merkel im Falle eines Scheiterns ihrer Vorhaben keinen Plan B, mehr noch: Es gibt nicht einmal einen durchdachten Plan A; von Organisation und Planung keine Spur. 

So ging Merkel in allen drei Krisen vor. Vielleicht liegt darin ihre einzige Prinzipientreue. Beginnen wir mit Griechenland. 

Griechenland-Krise 

Dass die griechischen Haushaltsdaten gefälscht waren, wusste man seit Jahren. Beständig warnte der Internationale Währungsfonds in aller Öffentlichkeit vor der gravierenden Verschlechterung der Schuldensituation und vor einem Bankrott der griechischen Banken. Merkel steckte den Kopf in den Sand. Vorausschauendes Vorgehen hätte ihr unangenehme Entscheidungen abverlangt. Möglich gewesen wären eine geordnete Staatsinsolvenz Griechenlands, eine Rekapitalisierung der griechischen Banken, ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro. Staatsbankrotte sind keine Katastrophe. Das Beispiel anderer Länder, etwa Argentiniens, zeigt: Nach einer harten Phase von ein bis zwei Jahren wächst die Wirtschaft wieder. Doch Merkel wollte Wahlen gewinnen. Also geschah nichts. 

Als im Jahr 2010 Griechenland tatsächlich vor dem Staatsbankrott mit negativen Folgen für weitere EU-Länder stand, stimmte Merkel anstandslos dem Bruch der Nichtbeistandsklausel im Maastricht-Vertrag zu – eine absurde Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen für andere EU-Länder. Anfang der 1990er Jahre war es noch Deutschland gewesen, das aus gutem Grund auf jene Klausel gedrängt hatte: Denn so schloss man eine Haftung der Europäischen Union und aller ihrer Mitgliedstaaten für einzelne Mitgliedstaaten aus. Die Regelung im Maastricht-Vertrag sollte einzelne Staaten zu Haushaltsdisziplin bewegen und verhindern, dass sie auf Kosten anderer über ihre Verhältnisse leben. 

Im Falle Griechenlands ist nun genau das eingetreten, was man eigentlich verhindern wollte. Auch wenn es die meisten Medien nicht interessiert: Griechenlands Schuldenproblem ist weiter denn je davon entfernt, gelöst zu sein. Allein im vergangenen Jahr stiegen die öffentlichen Schulden von rund 170 Prozent der Wirtschaftsleistung (301 Milliarden Euro) auf 180 Prozent (315 Milliarden Euro). 

Doch nicht nur der Staat ist hoffnungslos überschuldet, sondern auch die griechischen Bürger und Unternehmen stehen bei der öffentlichen Hand mit 91,6 Milliarden Euro knietief in der Kreide. In Wahrheit dürfte die Verschuldung in Ermangelung einer funktionierenden Finanzverwaltung noch höher sein. Konsequenz: Ständige Milliardentransferzahlungen aus anderen EU-Ländern verhindern – vorerst – den griechischen Staatsbankrott. Der deutsche Ökonom Hans Werner Sinn nennt das „Konkursverschleppung“. 

Flüchtlingskrise

Ähnlich fahrlässig war Merkels Agieren in der Flüchtlingskrise. Seit 2011 funktionierte das Dublin-System nicht mehr: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte untersagte damals den EU-Staaten, Asylwerber nach Griechenland zurückzuschicken. Die Begründung: Die Asylverfahren sowie die Unterbringung von Asylbewerbern in Griechenland verstoßen gegen die Menschenwürde. Fortan schob Griechenland Migranten ganz einfach weiter in den EU-Raum, von wo sie nicht mehr zurückgeschickt werden konnten. 

Gleichzeitig brach der Syrien-Krieg aus, der riesige Flüchtlingsströme in den Libanon, nach Jordanien und in die Türkei zur Folge hatte. Dass bald Scharen von Flüchtlingen ungehindert über Griechenland nach Mitteleuropa ziehen werden, muss jedem auch nur halbwegs weitblickenden EU-Politiker klar gewesen sein. Doch Merkel selbst erklärte kürzlich glatt: „Die Situation im Sommer 2015 traf mich und meine Bundesregierung eher unvorbereitet.“ Kann es sein, dass europäische Politiker im 21. Jahrhundert die am schlechtesten informierten Menschen sind?

Merkel hätte während der Eurokrise die menschenunwürdige Behandlung von Asylwerbern sehr leicht zum Gegenstand der Verhandlungen mit Griechenland machen können. Doch der Katalog ihrer Reformforderungen an Griechenland berührte das Thema nicht. 

Brexit

Wie es zum Austritt Englands aus der EU kam, ist Inhalt des nächsten Trauerspiels. Auch hierzu gibt es einen Prolog. Anfang 2013 kündete der britische Premierminister David Cameron das EU-Referendum an. Gleichzeitig forderte er eine Reform der EU – weniger Bürokratie, mehr Freiräume für die Mitgliedsstaaten. Dass Frankreich und Italien dem nicht viel abgewinnen konnten, war klar. Aber gerade Deutschland hätte sich dem britischen Vorschlag anschließen können – zur Freude vieler Deutscher und vieler anderer EU-Staaten. Vereint hätten Deutschland und Großbritannien eine längst überfällige EU-Reform umsetzen können und England wäre heute noch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Teil dieser EU. 

Doch Angela Merkel igelte sich lieber mit den anderen EU-Staaten ein, kam Cameron nicht einmal ansatzweise entgegen, brüskierte ihn viel mehr und signalisierte so den Engländern, dass selbst jede Hoffnung auf ein Reförmchen vergebens ist. Heute hat die EU eines ihrer wichtigsten Mitgliedsländer verloren, befindet sich in ihrer schwersten Krise und hat dafür mal wieder keinen Plan B. Deutschland hat mit England einen wichtigen Wirtschaftspartner und einen bedeutenden Nettozahler verloren. 

Ausblick

Merkels Versagen in diesen drei Krisen ist dramatisch. Persönlichkeiten wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle konnte Europa anscheinend nur in der Nachkriegszeit hervorbringen. Danach ist das politische Niveau mit jeder neuen Politikergeneration kontinuierlich weiter hinuntergesunken. Am Ende steht die Generation Merkels, deren vorrangige Leistung es zu sein scheint, innerparteiliche Konkurrenten auszutricksen, Probleme durch Ignorieren so lange wie möglich auszusitzen, die Bekanntgabe unangenehmer Wahrheiten anderen Parteikollegen zu überlassen, und wichtige Entscheidungen möglichst gar nicht zu fällen, um ja keine Fehler zu begehen. 

Sollte dieser Politikertypus dank Merkel mit der jetzigen EU-Krise endlich abgedankt haben, wäre dies das einzig Positive an Europas jetzigem Zustand. 

Johannes Knob ist das Pseudonym eines bekannten Journalisten, der bei einem anderen österreichischen Medium beschäftigt ist, wo er diesen Text leider nicht veröffentlichen kann. 

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