Selbstbestimmung und Staatsloyalität

Der Begriff der Selbstbestimmung hat seinen Anfang in der Aufklärung. Der Mensch kommt zur Überzeugung, dass er sein Ich selbst bestimmen darf, ja muss. Sich selbst gegenüber und gegenüber der Gemeinschaft. Die Forderung der Menschen nach Gleichheit an Macht, nach Freiheit sind Aufschreie, wenngleich sie mitunter heute falsch verstanden werden.

Die Selbstbestimmung geht aber über den Einzelnen hinaus, sie wird zum Gut, möglicherweise zu einem verhängnisvollen Gut der Gemeinschaft. Neben der Selbstbestimmung des Einzelnen tritt die Forderung nach Selbstbestimmung der Gemeinschaft. Sie hat andere Gesetze, Gesetze, die im Besonderen in der Mitte des 19. Jahrhunderts – denken wir an den Einigungsprozess Italiens – erkannt worden sind und heute augenscheinlich unter dem Begriff der Autonomie verstanden werden.

Doch kann man die Begriffe Autonomie und Selbstbestimmung synonym verwenden oder verstehen. Autonomie besteht aus Gesetzen, aufgrund derer in erster Linie die kleinere Gemeinschaft innerhalb der größeren Gemeinschaft existieren kann. Ihr politischer Zweck lag vor allem darin, die Demokratisierung der Gemeinwesen zu erringen. Diese Gesetze beziehen sich auf die frei gewählte Bestellung der Organe einer Gemeinschaft, auf die relative Weisungsfreiheit der Gemeinschaft und auf die finanzielle Hoheit der Gemeinschaft.

Sie sind im 19. Jahrhundert förmlich als ein Widerspruch zur patrimonialen, staatlichen Verwaltung gedacht worden. Die Namen von Stein und Gneist sind als geistige Träger der Selbstverwaltung untrennbar mit der Ausbildung der Autonomie, der Selbstbestimmung der kleineren Gemeinwesen in einem Größeren verbunden. Es handelt sich daher zunächst also um die Selbstbestimmung innerhalb eines festgefügten und in seinem Bestand keineswegs angezweifelten Staatsverbandes.

Zugleich gibt es, an sich ganz anders als in der Französischen Revolution, ein Aufwallen des Nationalvölkischen, insbesondere des deutschen Volkes. Ein Aufwallen, das schier den Menschen vergessen will, verfolgt man die Schriften und Debatten in der Frankfurter Nationalversammlung des Revolutionsjahres 1848. Die Nation, die Nationalitäten, sollen sich selbst bestimmen dürfen. Dieser Selbstbestimmung kommt eine ganz andere Bedeutung zu als der vorhin genannten, insbesondere dann, wenn sie in einem Staatsverband laut geworden ist, in dem der Einzelne aufgrund von Ereignissen, die außer seiner Macht standen, zu leben gezwungen war.

Hier geht die Selbstbestimmung der Einzelnen nicht nur dahin, ihre menschliche Existenz gesichert zu sehen und durch die Verwirklichung der Gleichheits-, Freiheits- und Brüderlichkeitsrechte die Gewähr zu bekommen, freier von Furcht zu sein. Die Selbstbestimmung geht vielmehr über den Einzelnen hinaus. Sie hat das Ziel, dass die einzelnen Mitglieder einer Gemeinschaft sich als Gemeinschaft selbst bestimmen und insbesondere den „richtigen“ Staatsverband oder die „richtige“ Entscheidung für eine gerechte Zukunft wählen können.

Es ist in der Regel mit viel Verzicht verbunden, für sich selbst als Person, als Teil einer Gemeinschaft, für Grund und Boden, Haus und Hof den Staatsverband zu wählen. Merkwürdig, wie die Selbstbestimmung der Menschen tief hineinwirkt auf die gesamte Lebensgrundlage, wie sie förmlich das Staatsgebiet mitbestimmen will. Da taucht aber ein grundlegendes Rechtsproblem auf, das heute ein neues Gesicht erhält, nachdem die Theorie einer unzeitgemäßen Rechts- und Staatslehre vom Obereigentum des Herrschers über Grund und Boden längst der Vergangenheit angehört.

Der Staat hat seine Hegemonialmacht über Grund und Boden nur delegiert erhalten. Die Selbstbestimmung der Gemeinschaft ist seine Vollmacht. Sie geht soweit, der Herrschaft zu entsagen. Ob das nun ein Recht ist, der Herrschaftsmacht eines Staates zu entsagen, oder ob es Auflehnung gegen die Obrigkeit ist, ist für mich als Historiker mit juristisch-politischem Interesse schwer zu beantworten. Hier scheiden sich wohl die Geister und werden sich immer scheiden müssen, und zwar danach, welche Basis sie dem Recht geben. Ist ihnen das positive Recht das einzige, so hat im Sinne des Vollenders des liberalistischen Staatsdenkens, Hans Kelsen, nach dem der Staat der alleinige Schöpfer und Träger des Rechts auf Selbstbestimmung seiner Gemeinschaft ist, dieser auch die Pflicht, auf den Ruf nach Selbstbestimmung zu hören.

Ganz anders aber, wenn man im Materiellen den Erkenntnisgrund des Rechtes sieht, im Menschen und seiner Würde, dann ist die Selbstbestimmung eine mit dem Dasein des Menschen notwendig verbundene Bedingung. Ohne deren Folge, die Gewährung der Selbstbestimmung, wird Recht verkürzt und Furcht erzeugt. Aus dem Wesen der Menschen folgt das Recht auf Gewährung der Selbstbestimmung. Sie ist die Folge der Würde des Menschen.

Die Selbstbestimmung der Menschen einer Gemeinschaft, ihren Staatsverband zu wählen, ist als ein naturrechtliches Optimum anzusehen. Dafür müssen wir alle kämpfen. Jedoch ist das Optimum nur selten erfüllt worden. Mit der Nichterfüllung des naturrechtlichen Optimums tritt die Frage nach der Staatsloyalität an jeden Betroffenen heran. Das ist der Verzicht auf die Mittel, sich aus dem Staatsverband gewaltsam zu lösen, der Gehorsam gegen das staatliche Gesetz, die Pflicht für den Staat. Sie ist das Opfer, das der Einzelne einer Minderheit dem Stolz der Mehrheit um des Friedens willen bringen muss, solange er es tragen kann.

In der Nichterfüllung des Selbstbestimmungsrechts und der ihr korrespondierenden Staatsloyalität liegt nun das eigentliche, menschliche Problem, das Schicksal der Angehörigen einer nationalen Minderheit und ihrer Vertreter. Die Frage, die die Diskussion der Staatslehre seit dem 20. Juli 1944 durchzieht, ist die nach der Zulässigkeit des Widerstandsrechtes.

Wer sich zum Naturrecht als wirksamem Recht bekennt, der wird – soll das Naturrecht nicht nur ein vages Lippenbekenntnis sein – auch das Widerstandsrecht bejahen müssen. Letzteres legt einen Grund für die Gefährdung des Völkerfriedens, tritt es doch mit dem Postulat eines geordneten Völkergemeinschaftslebens in Widerstreit. Der Mensch aber wird mit seiner Verantwortlichkeit und seiner Schuld immer vor eine Entscheidung gestellt sein. Ich lehne es ab, dass die Völkergemeinschaft vor dem Wohl der Einzelnen und der kleineren Gemeinschaften steht. Jene ist kein höheres Wohl, sondern ein anderes. Da wie dort regieren andere Gesetze. Die Gemeinschaft ist nicht die Summe der Einzelnen, sondern sie hat, wie schon von Aristoteles und Thomas von Aquin richtig erkannt, ihr Eigenes.

Nicht nur der, der einer Minderheit angehört oder mit dieser sympathisiert, nein, auch der Andere, der die Selbstbestimmung ignoriert oder ihr keinen Raum gibt, muss die Gefahr erkennen. Die Staatsloyalität ist ja nichts Starres, sondern sie ist beweglich, oft mehr, oft weniger. Ihr muss von anderen entgegengekommen werden.

Wie kann dies aber geschehen, wenn nicht durch die Gewährung der Erfüllung der Selbstbestimmung? Wenn wir auf Südtirol blicken, so ist an die Stelle der absoluten Selbstbestimmung die Gewährung einer relativen Selbstbestimmung getreten. Sie ist das dem Opfer der Minderheit korrespondierende Opfer des Staates! Diese Selbstbestimmung ist die Gewährung des positiven Rechts, die Angelegenheiten der betroffenen Gemeinschaft selbst zu ordnen, sie ist die Gewährung einer Autonomie im Sinne des Staatsrechts, nicht zu dem Zweck, demokratischen oder verwaltungsorganisatorischen Zielen Rechnung zu tragen, sondern zu dem, das Naturrecht der Gemeinschaft im Rahmen des Staates zu verwirklichen und damit selbst Naturrecht zu vollziehen.

Es geht heute nicht mehr darum, dem Einzelnen im innerstaatlichen Bereich das volle Menschenrecht zu erkämpfen. Dieses hat er ja entsprechend der Verfassungen. Wenn es im internationalen Bereich um die Völkerrechtssubjektivität des Einzelnen geht, so ist der Angehörige der Minderheit automatisch miteingeschlossen, das Schwergewicht muss aber auf die Gemeinschaft der Einzelnen, auf den Verband, auf die Körperschaft der Minderheitsangehörigen gelegt werden. Bilden die Angehörigen einer Minderheit wirklich einen Körper? Das hängt wohl auch von dem nach dem Gemeinwohl strebenden Gemeingeist und nicht nur vom Wollen einiger Funktionäre ab. Wenn es aber so ist, dann müssen die Staatsrechtsordnungen diesem Körper auch vom positiven Recht her den Status eines Rechtssubjektes zuerkennen und ihm gegebenenfalls das Recht auf Selbstbestimmung gewähren.

Die Minderheit, die kraft ihrer inneren Struktur den Körper einer Gemeinschaft bildet, soll das Recht als Mittel dazu haben, ihren natürlichen Bestand zu erhalten, die Angelegenheiten selbst zu ordnen, die ihre Interessen zunächst berühren und die sie mit eigenen Mitteln durchführen kann, und sie soll ebenso das Recht haben, eine solche Autonomie zu verteidigen. Einige preisen die Autonomie Südtirols im internationalen Vergleich als Modellautonomie und exportieren sie nach außen, quasi als Kassenschlager für das friedliche Lösen ethnischer Konflikte. Für mich ist sie jedoch nur eine Zwischenlösung, eine Zwischenlösung auf dem Weg zur Selbstbestimmung.

Erst das Tragen von Rechten und Pflichten macht einen Volkskörper nämlich zur Rechtsperson und, verwandelt das Selbstbestimmungsrecht im Rahmen eines Staates zu einem Programm, das im Aufbau eines Staates organisatorische Institution ist. Bekennt man sich zu dem Völkergemeinwohl als Zweck der völkerrechtlichen Gemeinschaft, sowie die christliche Staatslehre den Zweck des Staates in der Erreichung des Gemeinwohls sieht, dann wird das Anliegen, Minderheiten eine Rechtspersönlichkeit zu geben, der Staatsphäre entgleiten und ein Anliegen des Völkerrechts sein müssen.

Südtirol hat eine Selbstverwaltung, die geeignet ist, die Erhaltung und Entwicklung einer Minderheit zu gewährleisten. Dennoch zeigt sich, auch wenn einige das Gegenteil behaupten, dass die Anwendung der einschlägigen Bestimmungen bis heute nicht hinreicht, der Autonomie eine Gestalt zu geben, die ihr völkerrechtlich gebührt, und sie es den Angehörigen einer Minderheit schwer macht, leichten Herzens Staatsloyalität zu zeigen. Das Problem Südtirol ist ein Rechtsproblem. Als solches ist es von der Anwendung der die Autonomie gewährleistenden Rechtsvorschriften beeinflusst. Hierbei geht es um Kämpfe juristischer Natur, die die Gestalt der Rechtsvorschriften in ihrer praktischen Tragweite beeinflussen.

Die Realisierung des Autonomiestatus war von der Möglichkeit bedingt, die einzelnen Bestimmungen voll ausschöpfen zu können. Dagegen wendet sich die italienische Rechtspraxis, und nicht nur sie, sondern wohl auch die italienische Staats- und Rechtswissenschaft. In der Regel sind die Einwände, die die volle Handhabung verhindern, von einer Sachlichkeit getragen, deren Problematik nur der mit der Handhabung des positiven Rechts Vertraute erkennen kann. Der Verwirklichung der der Provinz Bozen gewährleisteten Rechte wird vonseiten des Gesetzgebers oft entgegengesetzt, dass diese oder jene Bestimmung widersprüchliche „Grundsätze“ enthalte oder diese oder jene Bestimmung noch nicht getroffen werden könne, weil zu ihrer Handhabung ministerielle Durchführungsvorschriften vonnöten oder noch nicht erlassen worden seien.

Hat Südtirol das Recht, seine Autonomie vor einer unabhängigen Instanz zu verteidigen? Es gibt keine mir bekannte Verfassungsgerichtsbarkeit, von der die Autonomie Südtirols gegen Eingriffe des italienischen Staates geschützt werden könnte. So ist diese Autonomie allein vom guten Willen der italienischen Regierungen abhängig. Das kann nicht bestritten werden, wenn man vom Standpunkt des positiven Rechtsdenkens ausgeht, wie ihn die italienische Rechtspraxis mit aller Konsequenz und Sachlichkeit vertritt, also einem „Recht ohne Pflicht“. Dieses einzuhalten ist eben kein Recht, sondern es sind nur unverbindliche Zusagen.

Gilt für den innerstaatlichen Bereich das Gebot, Verfassungsgerichte mit der Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit staatlicher Hoheitsakte gegen die Minderheit zu betrauen, so gilt für den völkerrechtlichen Bereich Grundlegendes: Die Konvention für die Menschenrechte müsste im Sinne derselben den Rechtsschutz erweitern. Dies dürfte aber nicht nur so unverbindlich geschehen, sondern es wäre Folgendes klar auszusprechen:

Die Organe der die Minderheiten verkörpernden Selbstverwaltungseinrichtungen haben das Recht, nach der Erschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel Beschwerde zu führen, wegen

  • der Verletzung der Rechte der Minderheit durch Gesetze oder Verwaltungsakte des Staates,
  • der Verletzung der Rechte der Minderheit durch Unterlassung gebotener Maßnahmen zur Ausgestaltung der Selbstverwaltung und
  • der Verletzung der Rechte der Minderheit durch ständige Interpretationen von Rechtsvorschriften zu Ungunsten der Minderheiten.

In Italien würde dies einen Sturm der Entrüstung auslösen. Es heißt, das alles sei durch die Streitbeilegung 1992 und den Europäischen Gerichtshof und die „innerstaatliche Angelegenheit“, Südtirol betreffend, schon erfolgt. Dies ist es dem positiven Rechte nach, nicht jedoch gemäß der Rechtsidee. Ist das Werden einer Minderheit ein völkerrechtliches Problem, dann muss auch die Sicherheit der Minderheit ihren letzten Anker auf der Ebene des Völkerrechts finden.

Und was wäre der letzte Anker Südtirols? Die Gewährung der Rechte der Minderheit durch Staats- und Völkerrecht und die Sicherung dieser vor einer unabhängigen Instanz stärken die Möglichkeit der Ausübung der Selbstbestimmung und erleichtern die Loyalität. Auch würde ein kontradiktorisches Verfahren vor einem Gericht die Debatte über das Recht eröffnen. Des Weiteren könnten Verhärtungen gelockert und Gegner einander nähergebracht werden, sofern nur beide das völkerrechtliche Gemeinwohl realisieren wollen. Dazu bedarf es nur der Besinnung. Wenn man sich aber nicht dazu durchringt, so gelangt man keinesfalls zum Menschenrecht auf Selbstbestimmung.

Dann aber, meine Damen und Herren, ist das Problem der Minderheit in Europa kein Rechtsproblem mehr, sondern eine Bitternis, die dem Gemeinwohl der Staaten oder der Nationen wie Gift entgegenwirkt. Der Kampf darum wird zu Ungunsten der Minderheit geführt, weil der Staat der Stärkere ist, auch wenn dieser weiß, dass Minderheitenprobleme – historisch gesehen – in der Regel unfreiwillig oder als Ergebnis kriegspolitischer oder aufgrund von Friedensdiktaten erzwungener Maßnahmen entstanden sind.

Andreas Raffeiner ist Südtiroler, Diplomand aus Geschichte.

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