Über Privatisierung und Teilprivatisierung der Bildung

Die Debatte über den Versuch einer Gesamtschule bis zum 14. Lebensjahr in Vorarlberg verläuft wie alle diese Debatten in Österreich: Oberflächlich und nur auf Strukturen bezogen. Niemand diskutiert über Inhalte oder Entwicklungen, die von der Politik nicht beeinflusst werden können.

Da ich kein „Bildungsexperte“, sondern ein Bildungspraktiker bin, erlaube ich mir, einige interessante Beobachtungen anzuführen.

  1. Eine Mutter erschien anlässlich eines Elternsprechtages und ersuchte mich flehentlich, ich möge mich für ihren Sohn einsetzen. Sie klagte, ihr Sohn habe schon eine Klasse wiederholt und jetzt seien schon wieder drei Nicht Genügend zu erwarten. Ich sagte, dass ich keinen Einfluss auf die Notengebung von Kollegen habe. Ich könne dem Herrn Sohn etwas Druck machen und ihm gut zureden. Dann legte die arme Mutter einen Gang zu und meinte sinngemäß, dass ihr Sohn ein fauler Kerl sei, der eine Lehre oder eine BHS nie und nimmer schaffen könne. Eine AHS-Matura sei seine einzige Chance auf einen Schulabschluss. Der faule Herr Sohn hat dann doch die Matura irgendwie mit Ach und Krach geschafft. Inzwischen hat er es, wie ich kürzlich erfahren habe, bis zum Sozialarbeiter bei einer NGO in Wien gebracht.
  2. In einem am 27. Dezember 2008 in den Vorarlberger Nachrichten erschienenen Artikel kritisierte ich die Einführung der Neuen Mittelschule als unausgegorene Sache, die keine Qualitätsverbesserung bringen werde. Ich wurde deswegen vom damaligen Schullandesrat heftig gerügt. Seiner Meinung nach sei die Neue Mittelschule eine Bildungsrevolution. Leider hat nicht er, sondern ich Recht behalten. Die Neue Mittelschule hat sich als sündteurer Flop erwiesen. Die neuen Ambitionen in Vorarlberg, die Langform des Gymnasiums im Land abzuschaffen und stattdessen in BORGS umzuwandeln, die bei der letzten Zentralmatura deutlich schlechter abgeschnitten haben, werden vor allem zweierlei bewirken: Eine weitere Niveausenkung der Schulen und einen weiteren schweren Verlust der ÖVP bei den nächsten Landtagswahlen.
  3. Ein Kollege ersuchte mich, einige „vorwissenschaftliche Arbeiten“ zu kontrollieren. Dies ist die neueste verrückte Erfindung des bifie (Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens) anlässlich der neuen Zentralmatura. Alle Maturanten werden jetzt gezwungen, vorübergehend Miniwissenschaftler zu spielen. Von den sieben Arbeiten, die mir vorlagen, war nur eine astrein und mit Sehr gut zu beurteilen. Eine der Arbeiten war inhaltlich miserabel und so gespickt mit Rechtschreib-, Fall-, Stil- und Beistrichfehlern, dass auf einer Notenskala von 1 bis 5 ein Elfer gerechtfertigt gewesen wäre. Zudem waren ganze Textpassagen 1:1 aus dem Internet kopiert worden.
    Später erfuhr ich, dass alle Arbeiten auf der Konferenz mit Noten zwischen Sehr gut und Befriedigend beurteilt worden waren. Wir müssen heute mit der traurigen Realität leben, dass – nach Schätzung erfahrener Kollegen – etwa die Hälfte der heutigen Maturanten nur eine formale, jedoch keine reale Hochschulreife besitzt. Diese Formalmaturanten studieren dann lustlos herum und landen in einem der „Orchideenfächer“, die der Arbeitsmarkt nicht braucht. Diese Leute müssen froh sein, wenn sie als Genderbeauftragte oder in ähnlichen unwesentlichen Funktionen bei Kammern, Gewerkschaften oder Parteien unterkommen. Ganz schlimm stehen die Publizistikleute da. Durch den Niedergang der Zeitungen sind sie überflüssig geworden.
  4. Der Tag der offenen Tür der Illwerke/VKW im Montafon ermöglichte den Besuchern einen interessanten Einblick. Die Vorarlberger Pumpspeicherwerke haben für die Stromversorgung Europas eine herausragende Bedeutung. Die Illwerke/VKW haben auch hochwertige Bildung zu bieten. Männliche und weibliche Elektrotechnik-Lehrlinge haben am Tag der offenen Tür den Besuchern freundlich und mit Sachkenntnis ihre Arbeitsplätze gezeigt und erklärt. Diese Facharbeiter von morgen, die auch komplexe Automatikanlagen programmieren können, sind die wahre Elite von morgen. Sie wirken motiviert und selbstbewusst, weil sie wissen, dass sie die Akkus unseres materiellen Wohlstandes sein werden.
  5. Journalisten und Politiker beklagen immer wieder den hohen Anteil an sekundären Analphabeten in Österreich. Dieser Vorwurf richtet sich an die Volksschulen, aber über unsere Volksschulen wurde und wird nie diskutiert. Dieses Thema ist streng tabu, weil unsere Volksschulen eine „gemeinsame Schule“ darstellen. In Wahrheit, und das ist mehrfach getestet und bewiesen, gibt es zwischen den besten und schlechtesten Volksschulen enorme Unterschiede. Niemand wagt es aber, die Gründe zu hinterfragen und öffentlich zur Sprache zu bringen. Es hätte auch keinen Sinn, weil die Medien dieses Thema beharrlich unterbinden.
  6. Der Trend geht in Österreich in die gleiche Richtung wie im übrigen Europa, allerdings mit Verspätung. Das Bildungsbürgertum schickt seine Kinder in Privatschulen und kümmert sich um die Weiterbildung zu Hause, denn die lieben Kleinen besuchen nur noch an 180 Tagen im Jahr den Unterricht. An diesem niedrigen Anteil kann auch eine Ganztagsschule nichts ändern.
    Die Zahlen besagen, dass Kinder und Jugendliche 50 Prozent aller Tage ausschließlich unter dem Einfluss des Elternhauses stehen. Bildung ist also jetzt schon teilprivatisiert und wird auch in Zukunft vererbt werden. Keine Politik der Welt kann das Geringste dagegen unternehmen, es sei denn die Aufenthaltsdauer an den Schulen wird wieder drastisch erhöht. Das aber wird nicht geschehen. Sucht man im Internet unter Privatschulen oder „Independent Schools“, so ist festzustellen, dass in allen Ländern mit einem Einheitsschulsystem bis zum 14. Lebensjahr der Anteil an Privatschulen sehr hoch oder im Wachsen begriffen ist. Österreich wird hier nachziehen und in den internationalen Trend zur Privatisierung der Bildung einsteigen.

Die öffentliche Bildungsdebatte in Österreich pendelt zwischen Verschweigen, Unkenntnis, Dilettantismus und aufgesetztem Pseudo-Expertentum hin und her. Viel simpler und intellektuell weniger anstrengend ist es, über Strukturen zu reden und Schlagwörter wie „fördern und fordern“ oder „Bildungsgerechtigkeit“ endlos zu wiederholen – ad nauseam!

Es ist grotesk. Je mehr sich die Politik anstrengt, die Jugendlichen durch Nivellierung gleichzuschalten, desto mehr driftet unsere Gesellschaft durch die ungewollte aber jetzt schon vorhandene und immer weiter fortschreitende Privatisierung der Bildung auseinander.

Mag. Dr. Rudolf Öller, Jg. 1950; Gebürtiger Oberösterreicher und promovierter Genetiker unterrichtete an einem Gymnasium und einer BHS Biologie, Physik, Chemie und Informatik. Nebenberuflich Rettungssanitäter und Lehrbeauftragter beim Roten Kreuz Vorarlberg.

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