Italienische Geschichtspolitik

Unter Ministerpräsident Matteo Renzi ähnelt die italienische Geschichtspolitik jener Russlands unter Präsident Wladimir Putin. Beide verordnen den Rückgriff auf eine jenseits ihrer Länder und außerhalb der heimischen Historikerzunft umstrittenen Symbolik. Putin ließ die pompösen Feierlichkeiten auf dem Roten Platz aus Anlass des „Sieges im Großen Vaterländischen Kriege“ vor 70 Jahren bewusst im Geiste, Gehabe und in der imperialen Geste des Generalissimus Josef Stalin inszenieren. Renzi hingegen ließ nicht etwa ein Kriegsende feiern, sondern ordnete zum 100. Jahrestag des Eintritts Italiens in den „Grande Guerra“ (24. Mai 1915) die Beflaggung aller öffentlichen Gebäude mit der Trikolore an.

Während man in Moskau auf die allseits bekannte Art, nämlich mit einer an die überwunden geglaubte Sowjetzeit gemahnenden martialischen Heer- und Waffenschau, an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnerte, ließ man sich in Rom dazu hinreißen, sozusagen regierungsamtlich den für Italien maßgeblichen Beginn des Ersten Weltkriegs zu glorifizieren.

Eine merk- und denkwürdige Symbolik, denn nirgendwo sonst wird heutzutage in staatlichem Rahmen noch ein Kriegseintritt gefeiert. Verständlich wird ihre Bedeutung für diejenigen, die sich des geschichtlichen Hintergrunds vergewissern, mehr noch für all jene, die direkt oder indirekt zu den Leidtragenden der damaligen italienischen Entscheidung gezählt werden müssen. Das sind samt und sonders die Nachfahren derer, die sich nach Abschluss der Pariser Vorortverträge 1919 in einem ungeliebten Staat und daher in fremdnationaler Umgebung wiederfanden, weil sich die eng mit dem römischen Seitenwechsel 1915 verbundenen imperialistischen Kriegsziele Italiens hatten verwirklichen lassen. Hier sind in erster Linie die Südtiroler zu nennen.

Der unmittelbar auf die Kriegserklärung folgende Kriegseintritt gegen den verbliebenen Zweibund aus Deutschem Reich und Österreich-Ungarn traf vor allem Wien mental wie militärisch unvorbereitet. Hatte doch das Königreich Italien bis dahin dem im Mai 1882 geschlossenen Dreibund angehört, einem Verteidigungsbündnis, welches die Unterzeichner zu gegenseitiger Unterstützung im Falle eines Angriffs anderer Mächte auf eines oder alle Mitglieder verpflichtete.

Italien hatte sich bei Vertragsabschluss davon Rückhalt für seine kolonialen Bestrebungen in Afrika erhofft. Doch im Laufe von zwei Jahrzehnten büßte der Pakt merklich an Bedeutung ein, wobei die Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn 1908 das Verhältnis Roms zu Wien enorm belastete. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs – infolge der Ermordung des österreichischen Thronfolgers, Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Gemahlin Sophie von Hohenberg – und der Kriegserklärung Wiens an Belgrad erklärte sich Rom mit der formell korrekten Begründung für neutral, der Bündnisfall sei nicht gegeben, denn Österreich-Ungarn und das Deutsche Reich hätten als erste die Kriegserklärungen abgegeben.

Die damalige italienische Regierung Antonio Salandra entschied sich dann in der Frage, auf wessen Seite es für den Fall der Neutralitätsbeendigung wechseln sollte, für einen Kriegseintritt zugunsten der aus Frankreich, Großbritannien und Russland bestehenden Entente. Mit dem berüchtigten Wort vom „Sacro egoismo“ („Heiligen Eigennutz“) begründete Außenminister Sidney Sonnino das, was in Wien der greise Kaiser Franz Josef nicht zu Unrecht „Treuebruch“ nannte, wenngleich uns seine hinzugefügte Einstufung „dessengleichen die Geschichte nicht kennt“ heute überhöht dünkt.

Zuvor waren Kompensationsforderungen für die Aufrechterhaltung der Neutralität – unter anderem die territoriale Ausdehnung bis zum Grenzverlauf des napoleonischen Staates im frühen 19. Jahrhundert – von Wien abgelehnt worden. Denn dies hätte neben dem Verlust des nahezu zur Gänze italienischsprachigen Welschtirols (Trentino) – worauf Wien durchaus zu verzichten bereit gewesen wäre – auch die Abtretung des damals zu mehr denn 90 Prozent deutschsprachigen südlichen Teils des heutigen Südtirols unter Einschluss Bozens bedeutet.

Dagegen gestanden die drei Entente-Mächte in dem am 26. April 1915 in London abgeschlossenen Geheimvertrag dem Seitenwechsler Italien weit mehr zu. Nämlich außer dem trientinischen den gesamten cisalpinen Teil des alten Habsburgerkronlandes Tirol bis zu der (von Irredentisten und Risorgimentisten nach der „Einigung Italiens“ 1861 ins Auge gefassten) „natürlichen geographischen Grenze am Brenner“.

Das südliche Tirol wurde – waffenstillstandswidrig – zu Kriegsende annektiert und gelangte gemäß dem geheimen Londoner Abkommen auf der Grundlage des Friedensvertrags von St. Germain-en-Laye (10. September 1919) als Kriegsbeute an Italien; ebenso wie übrigens das Kärntner Kanaltal, wie Istrien mitsamt der Hafenstadt Triest, sowie Gebiete an der dalmatinischen und albanischen Küste. Die rachsüchtigen Sieger waren nicht dem Vorschlag des amerikanischen Präsidenten Wilson gefolgt, bei der Nachkriegsgrenzziehung die sprachlich-ethnischen Verhältnisse zu berücksichtigen.

Zwischen Brenner und Salurn ging das faschistische Regime in den 1920er Jahren daran, Land und Volk mit aller Gewalt zu entnationalisieren. Alle kolonialistischen Zwangsmaßnahmen, die Bevölkerung des „Hochetsch“ („Alto Adige“ gemäß damals verordneter, alleingültiger Benennung) zu assimilieren, erwiesen sich aber als aussichtslos:  

  • der Name Tirol wurde verboten;
  • Personennamen (selbst auf Grabsteinen) wurden italianisiert;
  • sämtliche Örtlichkeitsbezeichnungen wurden italianisiert;
  • es durfte kein Deutschunterricht mehr erteilt werden;
  • in der Öffentlichkeit durfte nicht deutsch gesprochen werden;
  • die Orts- und Talschaftsmundarten waren in der Öffentlichkeit verboten;
  • Italienisch wurde alleingültige Amtssprache;
  • alle österreichischen Verwaltungsbeamten wurden durch italienische ersetzt;
  • alle gewählten Bürgermeister wurden durch per Dekret eingesetzte italienische  Amtsbürgermeister (Podestà) ersetzt;
  • in Massen wurden Italiener aus Süditalien nach Südtirol umgesiedelt.

Die Achsenpartner Hitler und Mussolini zwangen die Südtiroler in einem Optionsabkommen, sich entweder für das Deutsche Reich zu entscheiden und über den Brenner zu gehen oder bei Verbleib in ihrer Heimat schutzlos der gänzlichen Italianità anheim zu fallen.

Obschon die meisten für Deutschland optierten, verhinderte der Zweite Weltkrieg die kollektive Umsiedlung. 1946 lehnten die Alliierten die Forderung nach einer Volksabstimmung in Südtirol ab, woraufhin sich in Paris die Außenminister Österreichs und Italiens auf eine Übereinkunft zugunsten der Südtiroler verständigten, die Bestandteil des Friedensvertrags mit Italien wurde. Das Gruber-DeGasperi-Abkommen vom 5. September 1946 sah die politische Selbstverwaltung vor, und im Kulturellen wurden muttersprachlicher Unterricht sowie die Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache auf allen Feldern des gesellschaftlichen Lebens garantiert.

Zwar erließ Rom 1948 vertragsgemäß das vorgesehene Autonomie-Statut und deklarierte es – wie zwischen Vertragspartnern und Siegermächten verabredet – zum Bestandteil der italienischen Verfassung. Allerdings wurde die Provinz Bozen-Südtirol mit der Nachbarprovinz Trient in einer Region („Trentino - Alto Adige“) zusammengefasst. Dieser Trick des Trientiners DeGasperi führte die Majorisierung der deutschen und der ladinischen Volksgruppe durch die italienische herbei, die im Trentino absolut dominant war.

Dagegen und gegen die vom „demokratischen Italien“ ungebrochen fortgeführte Ansiedlung weiterer Italiener in ihrer Heimat protestierten die Südtiroler 1957 unter der Parole „Los von Trient". Mit Anschlägen auf „Volkswohnbauten“ und andere italienische Einrichtungen machte der „Befreiungsausschuss Südtirol" (BAS) die Welt auf die verweigerte Selbstbestimmung und die uneingelösten vertraglichen Zusicherungen Roms aufmerksam.

1960 trug der damalige österreichische Außenminister Bruno Kreisky den Konflikt vor die Vereinten Nationen, und da Italien trotz zweier UN-Resolutionen nicht einlenkte, erreichten die Anschläge im Sommer 1961 ihren Höhepunkt. Rom verlegte 22.000 Soldaten sowie Carabinieri in den Norden und stellte das Land unter Ausnahmerecht mit all den damit verbundenen rigorosen Gewaltmaßnahmen gegen die Bevölkerung. Südtirol rückte infolgedessen auch international in den Mittelpunkt des Weltgeschehens, woran sich heute außer der Erlebnisgeneration und Historikern kaum noch jemand erinnert.

Nach unzähligen zähen Verhandlungsrunden zwischen Wien und Rom im Beisein von Vertretern beider Tirol einigte man sich auf die Entschärfung des Konflikts, indem man 137 Einzelmaßnahmen an einen „Operationskalender" band – also an eine zeitlichen Vorgabe für die Umsetzung – und in einer sogenannten „Paket-Lösung" verschnürte. Bevor diese am 20. Jänner 1972 als „Zweites Autonomiestatut" in Kraft treten konnte, musste ihm die Südtiroler Volkspartei (SVP), die damals maßgebliche politische Kraft im Bozner Landhaus, zustimmen. Auf der SVP-„Landesversammlung“ in der Kurstadt Meran kam 1969 jedoch nur eine knappe Mehrheit dafür zustande.

Es sollte weitere zwanzig Jahre und ungezählter Verhandlungen im Reigen stets wechselnder italienischer Regierungen in Anspruch nehmen, die wesentlichen Bestimmungen über die Selbstverwaltung umzusetzen sowie die annähernde Gleichstellung der deutschen mit der italienischen Sprache im öffentlichen Leben sowie die Stellenbesetzung gemäß ethnischem Proporz zu verwirklichen. Erst 1992 konnte das „Paket" für erfüllt und am 11. Juni der Südtirol-Konflikt durch Abgabe der „Sreitbeilegungserklärung" vor den Vereinten Nationen formell für beendet erklärt werden. Zuvor hatte der damalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti im römischen Parlament sowie mittels eines Briefes nach Wien die Zusicherung gegeben, dass Änderungen daran nur mit Zustimmung der Südtiroler vorgenommen werden dürften.

Letzteres ist seitdem vielfach nicht eingehalten oder im Sinne der vom römischen Zentralismus in Anspruch genommenen „Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis“ stark verwässert worden. Die SVP fand sich immer öfter bereit, von Rom dekretierte Änderungen an Substanz und Charakter des Statuts letztlich in „kompromisslerische“ Reduktionsforme(l)n zu kleiden. Sie nahm diese Änderungen letztlich hin, um den Anschein von „Convivenza/Zusammenleben“ halbwegs aufrecht zu erhalten, und um die von ihr verabsolutierte, angeblich „beste Autonomie der Welt“ nach innen und nach außen als „modellhaft“ anzupreisen.

Seit dem Erstarken politisch-patriotischer Kräfte und nicht zu überhörendem Selbstbestimmungs- und Loslösungsverlangen von Italien, gibt sie wider besseres Wissen das Erlangen der „Vollautonomie“ quasi als (ihr) Hauptziel vor. Längst ist das im SVP-Statut verankerte Selbstbestimmungsgebot dem stetigen Arrangement mit Rom gewichen – ganz gleich, wer dort regiert und mal stärker, mal weniger stark ins Fleisch der Autonomie schneidet. Kein Wunder, dass die römischen Eliten längst den Behauptungswillen der (gleichsam mit der SVP in eins gesetzten) Südtiroler als zur Selbstaufgabe tendierend einschätzen und folglich als nahezu vernachlässigenswert empfinden mussten. Sie setzten immer wieder aufs Neue geschichtspolitisch bedeutsame Akten volklich-assimilatorischer Einebnung und also national(istisch)er Vereinnahmung. 

Als nichts anderes ist auch das eingangs beschriebene Beflaggungs-Dekret des Matteo Renzi zu sehen, welches Regierungskommissarin Elisabetta Margiacchi, seine Statthalterin in der (vorgeblich) „Autonomen Provinz Bozen-Südtirol“, dem Landtagspräsidenten, dem Landeshauptmann sowie den 116 Südtiroler Bürgermeistern zustellte. Nicht allein, dass dies Heimatbund (SHB), Schützenbund (SSB) und Vertreter der Oppositionsparteien im Landtag auf den Plan rief; auch der Rom gegenüber sonst eher samtpfötige Landeshauptmann Arno Kompatscher (SVP) bewies Rückgrat und stellte, was ihm die sonst eher seltene Zustimmung seiner politischen Gegner eintrug, kurzerhand fest: „Für uns eine Zumutung, der wir nicht Folge leisten werden“. Das sei hier ausdrücklich vermerkt.

Entsprechend national(istisch) wurde im Staatssender RAI die mediale Begleitmusik intoniert. Bruno Vespa, Moderator der italienweit ausgestrahlten Sendung „Porta a porta“, haute Anfang des Jahres Kompatscher „die angesichts der Staatsfinanzen nicht zu rechtfertigenden Privilegien der Südtirolautonomie“ um die Ohren. In der dem 100. Jahrestag des Weltkriegseintritts Italiens eigens gewidmeten Sendung schoss er sich auf den Südtiroler Fahnen-Streik ein: „Noch immer gibt es Teile Italiens, die sich in der Trikolore nicht wiederfinden. Da ist man fassungslos“.

Als ihm der Historiker Ernesto Galli della Loggia entgegenhielt, die Südtiroler und ihr Landeshauptmann fühlten sich als Österreicher und wollten daher nicht feiern, was in der Demokratie erlaubt sei, befand Moderator Vespa: „In all den Jahren hätten die Südtiroler ja nach Österreich abhauen können. Darum haben sie sich aber nicht besonders bemüht.“ Diesem despektierlichen Verdikt schlossen sich in einer Sendung der Anstalt RAI-Bozen nicht nur rechtsextreme Italiener wie der Landtagsabgeordnete Alessandro Urzí und Mitglieder der offen neo-faschistischen Gruppe „Casa Pound“ an; auch befragte Straßenpassanten forderten ungeniert „Südtiroler zur Auswanderung nach Österreich“ auf.

Als ob Renzis den Südtirolern verordnete Flaggenparade nicht bereits geschmacklos genug gewesen wäre, legten die italienischen Streitkräfte dieser nationalistischen Posse noch eine Schaufel Provokation auf, indem sie einen Staffellauf organisierten. Alpini, Soldaten der Gebirgsjäger-Truppe, trugen die Trikolore von Bozen aus zu einer pompösen Weltkriegsfeier nach Triest. Die Alpini lieferten mithin den Beweis, dass es Italien nicht um neutrales Gedenken an die Opfer des Ersten Weltkrieges ging, sondern um die Glorifizierung der Teilung Tirols und der Einverleibung Triests. Denn weder Südtirol noch Triest gehörten zum Zeitpunkt der Kriegserklärung (23. Mai 1915) zu Italien, sondern wurden ihm vier Jahre später als Belohnung für seinen Seitenwechsel zugesprochen.

Anhand von „Flaggen-Streit“ und „Trikolore-Streik“ erwies sich nicht zum ersten Mal der geschichtspolitisch motivierte Versuch national(istisch)en Einebnungsgebarens gegenüber den Südtirolern. Und dass dieser Geschichtspolitik maßgebliche Politiker der italienischen Linken wie Matteo Renzi Vertretern der rechten Mitte sowie der extrem(istisch)en Rechten, von denen dies zufolge ihres Weltbildes geradezu zwingend zu erwarten ist, in nichts nachstehen, zeigt das Beispiel des Giorgio Napolitano.

Am 11. November 2014 sprach der damalige italienische Staatspräsident auf einer anlässlich des Besuchs des österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer organisierten Pressekonferenz doch tatsächlich davon, Südtirol habe sich „für die Zugehörigkeit zu Italien entschieden“ („…il Sudtirolo-Alto Adige, che ha fatto la scelta dell'appartenenza statutale all'Italia….“). Weder Fischer noch irgendwer aus den Regierungsparteien SPÖ und ÖVP respektive aus der SVP widersprach dieser von Respektlosigkeit und Ignoranz gegenüber den Fakten gekennzeichneten Unwahrheit. Dies blieb oppositionellen Politikern in Wien und Bozen sowie SHB-Obmann Roland Lang und SSB-Landeskommandant Elmar Thaler vorbehalten.

Anders 2011, als ein Brief Napolitanos an den damaligen Landeshauptmann Luis Durnwalder für heftige Reaktionen sorgte. Napolitano hatte darin seinem Unmut über die bekundete Nichtteilnahme von Südtiroler Repräsentanten an den am 17. März 2011 stattfindenden Feierlichkeiten freien Lauf gelassen, den die Regierung Berlusconi aus Anlass der 150 Jahre zuvor in Turin vollzogenen staatlichen Einheit Italiens eigens zum Staatsfeiertag erhoben hatte. In besagtem Schreiben hatte der einstige Kommunist und Internationalist Napolitano, nun ganz die Personifizierung der einen, unteilbaren italienischen Nation, festgestellt: „Auch die deutschsprachigen Südtiroler sind Italiener“.

Und er hat allen Ernstes hinzugefügt: „Die große Mehrheit der deutschsprachigen Südtiroler fühlt sich auch so“. Woraufhin Durnwalder, der Zustimmung seiner Landsleute gewiss, kurzerhand erwiderte, „die österreichische Minderheit in Italien" habe „nichts zu feiern“. Denn bei der Gründung Italiens sei man nicht dabei gewesen, und am Ende des Ersten Weltkriegs habe man „Südtirol nicht gefragt, ob es annektiert werden“ wolle.

SSB und SHB ebenso wie oppositionelle Landtagsabgeordnete wiesen die geschichtsklitternde Insinuation des damaligen italienischen Staatsoberhaupts „energisch“ zurück: Napolitano wisse genau, „dass Südtirol kulturell, geschichtlich und sprachlich mit Italien von Haus aus wenig gemeinsam" habe. Der Reisepass sei „notgedrungen wohl das Einzige, was viele Südtiroler mit den Bewohnern Altitaliens wirklich gemeinsam haben". Außerdem stehe es wohl keinem Staatspräsidenten auf der Welt zu, Bürgern vorzuschreiben, welchem Volk sie sich zugehörig zu fühlen hätten. Das heutige Südtirol sei „lediglich italienische Kriegsbeute". Im Land an Eisack, Etsch und Rienz habe man „jahrzehntelang unter großen Opfern der italienischen Majorisierung, die von Italien mit wechselnder Intensität betrieben worden ist, standhalten können". Wenn man das 150-jahr-Jubiläum Italiens hernehme, „um subtil jene Assimilierungspolitik fortzusetzen“, so finde darin die zunehmende Ansicht ihre Bestätigung, wonach „sich Südtirol eher heute als morgen von Italien verabschieden“ sollte, hatte es in der scharfen Erklärung des Schützenbundes geheißen.

Das alles sind nicht Einzelfälle und kommt auch nicht von ungefähr. Mit der ihm eigenen Hinterfotzigkeit versucht das offizielle Italien die Geschichte umzuschreiben und also die unrechtmäßige Teilung Tirols zu legitimieren. Ohne Rücksicht auf historische Empfindlichkeiten setzt Rom – egal wer dort regiert, wie sich am Beispiel „des Südtirol-Freundes Renzi“ (Kompatscher) offenbart – den Südtirolern das italienische Geschichtsbild vor und erwartet Akzeptanz. Es lässt nicht ab von seiner alle Herrschaftsformen seit der staatlichen Einheit überspannenden Politik der „ewigen Italianità“ – entgegen allen Beteuerungen vom Walten des „Europäischen Geistes“.

Doch die Beschöniger der Verhältnisse und politischen Ignoranten diesseits und jenseits des Brenners sowie Profiteure des Status quo geben sich offenbar damit zufrieden, anstatt den Selbstbehauptungswillen der Südtiroler zu stärken und alle Anstrengungen auf die Überwindung der Teilung von Land und Volk Tirols zu richten. Diese historische Untat harrt weiter der Beseitigung mittels Gewährung der 1919 und 1946 verweigerten Selbstbestimmung.

Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

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