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Wenn der triste Alltag die alte Liebe einholt

Auf nur wenige Dinge bin ich in meinem beruflichen Leben wirklich stolz. Dazu gehört jedenfalls die Tatsache, dass ich als erster politischer Journalist Österreichs schon Beginn der 80er Jahre für einen Vollbeitritt zur Europäischen Union – die damals noch EG geheißen hat – eingetreten bin. Unter viel Kritik von Menschen und Organisationen (wie der Wirtschaftskammer und Rot-Grün), die sich jetzt oft als Erfinder Europas gerieren. Offensichtlich habe ich, so wurde mir nachher von mehreren Seiten gesagt, durch die Forcierung des EU-Themas manche Entscheidungsprozesse beeinflusst.

Ich halte auch heute noch die EU-Mitgliedschaft für absolut alternativlos. Der Beitritt zum großen Binnenmarkt mit der gemeinsamen Währung war und ist richtig, wichtig und notwendig, wenn Österreich nicht in eine schwere Krise abstürzen will. Heute freilich kommt zu dieser noch immer positiven Grundtendenz ein rasch wachsendes Unbehagen dazu – ein trauriges Unbehagen darüber, wie sich die EU im europäischen Alltag entwickelt.

Die Anzeichen mehren sich, dass die Union zu einem überregulierenden und ob einer schlechten Verfassung ineffizienten Moloch mutiert ist, dass sie nicht mehr den Mut hat, durch echte Reformen den Platz für neues Wohlstandswachstum zu schaffen. Es scheint überdies so, dass die Union so viele Bruchstellen in ihrer Konstruktion hat, dass ihr Scheitern oder ihre totale Lähmung heute als ein realistisches Szenario gewertet werden muss.

Diese Sorge lässt sich in vielen Perspektiven festmachen:

Die EU hat sich vom faszinierenden Projekt „Mehr Wohlstand und Sicherheit für alle Europäer durch mehr Raum für den Markt“ zu einem Projekt einiger Eliten mit ganz anderer Motivation gewandelt. Der Beamtenstab der Kommission wurde durch bürgerferne Gesellschaftsveränderer und fanatische Überregulierer unterwandert. Die einstigen Gegner der Integration haben den Marsch durch die Institutionen angetreten. Ihr Motto war offenbar: If you cant beat them join them. Wenn wir die EU nicht umbringen können, dann ändern wir sie in unserem Sinn.

Die schwache Besetzung der neuen EU-Spitzenpositionen zeigt, dass zumindest die Regierungschefs gar keine gut funktionierende EU wollen. Hier wurden die Europäer glatt betrogen, denen durch den mühsam zustande gekommenen Lissabon-Vertrag eine Stärkung versprochen worden war. Und jene, die eine Stärkung gefürchtet haben, haben sich diesbezüglich umsonst gefürchtet.

Die wachsende Bürgerferne zeigt sich selbst dann, wenn die EU unter dem Titel „Europa der Bürger“ Programme entwickelt. Da wimmelt es nur so an Eliten und Political correctness orientierten, aber bürgerfernen Vokabeln und Formulierungen: „Zivilgesellschaft“, „Erinnerungskultur“, „BürgerInnen, Bürgern/innen“. Mit diesem Technokratensprech erreicht man nur sehr wenige Europäer.

Die Bürger fühlen sich bei wichtigen Entscheidungen ignoriert wie etwa bei dem mehrheitlich abgelehnten Beitrittsverfahren für die Türkei. Sie haben das Gefühl, dass eine politisch-technokratische Elite diesen Beitritt einfach trotz des Unwillens der Bürger durchzieht.

Die Bürger würden sich primär erwarten, dass die EU funktioniert. Dass sie sich nur dort einmischt, wo dies wirklich zur Absicherung des Binnenmarktes notwendig ist. Also in der Technokratensprache: Sie sollte Subsidiarität nicht nur predigen, sondern auch leben.

Eine Gedankenpolizei, wie sie etwa die in Wien eingerichtete und ständig weiter wuchernde EU-Behörde zur Jagd auf angeblichen Rassismus ist, entspricht nicht dem Zweck der EU und ist kontraproduktiv.

Die EU ist heimischen Politikern nur dazu gut, für alles und jedes einen ständig bereitstehenden Sündenbock zu haben, der sich nicht wehrt. Denn die Information über Europa in den einzelnen Ländern haben sich die Länder ausdrücklich selbst vorbehalten. Die aber hüten sich, die EU allzu gut hinzustellen.

Die Wahlen zum europäischen Parlament haben europaweit eine Riesenschwäche: In jedem anderen Land der Welt wählt man zumindest indirekt den Premier. Nur nicht in der EU. Kommissionspräsident Barroso und sein Gegenüber, der deutsche Sozialdemokrat Schulz, wurden  außerhalb ihrer Heimatländer in keiner Weise präsentiert. Es war keinem Wähler wirklich klar, dass sie die Spitzenkandidaten ihrer jeweiligen Parteiallianzen waren. Wenn sie das überhaupt waren.

In der EU herrscht ein skandalös ungleiches Wahlrecht, das die Großen massiv benachteiligt. Österreich profitiert zwar davon – die ganz kleinen Staaten noch mehr –, die Deutschen aber ärgern sich. Würde sich Deutschland nämlich auf 17 Bundesländer aufteilen und  jedes davon alleine EU-Mitglied werden, hätten die Deutschen plötzlich in der Summe dieser Länder viel mehr Kommissare, mehr Sitze im Parlament und mehr Stimmen im Rat. Ebenso stehen durch das ungleiche EU-Abstimmungssystem den Nachfolgeländern der Tschechoslowakei und Jugoslawiens viel mehr Sitze zu, als wenn sie solo geblieben wären. Kein Wunder, dass der deutsche Verfassungsgerichtshof in Karlsruhe da besonders kritisch herummeckert. Wobei er sogar das juristische Potenzial hat, die Union zum Scheitern zu bringen.

In der EU fehlt das in den meisten Nationalstaaten selbstverständliche Wir-Gefühl. Solche Emotionen entstehen aber nicht auf Befehl oder durch bürokratische Programme, sondern durch emotionale Identifikationspunkte. Diese können etwa Dinge wie das Neujahrskonzert für Österreich sein, Länderspiele und andere Sportereignisse, und besonders häufig eine gemeinsame Sprache, Religion und/oder Geschichte. Die Europäer haben hingegen nur eine Geschichte, in der sie sich gegenseitig bekämpft haben.

Europas Identität leidet unter der teuren räumlichen Trennung zwischen Kommission und Parlament beziehungsweise zu einem ständig zwischen seinen Amtssitzen wandernden Parlament (übrigens wieder Schuld der Franzosen). Es ist einfach absurd, dass das von den Bürgern gewählte und angeblich so mächtige Parlament nicht einmal das lächerliche Recht hat, über seinen eigenen Sitz zu entscheiden.

Europa hat es unter dem Terror eines laizistischen Nihilismus in der neuen Verfassung nicht einmal geschafft, seine gemeinsamen geistigen Grundlagen auch nur beim Namen zu nennen. Die da primär wären: das Christen- und Judentum mit der gleichen Würde jedes Menschen; die griechisch-römische Antike mit der Entwicklung eines modernen Rechtssystems; und die Aufklärung mit der Betonung der Vernunft.

Europa weiß nicht, wo es aufhören soll. Sind etwa Russland, die Türkei, Israel, Palästina, Marokko, die Ukraine denkbare Mitglieder der Union? In jedem dieser Länder gibt es zumindest eine Diskussion über einen Beitritt.

Der Lissabon-Prozess ist grandios gescheitert: Mit diesem wollte sich die Union bis 2010(!) zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt machen. Dieses Ziel ist längst unter dem Bremsdruck von gewerkschaftlichen und grünen Anliegen vergessen worden. In Wahrheit fällt Europa ständig immer weiter zurück, insbesondere im Vergleich zu Asien.

Europa hat auch viel zuwenig energisch reagiert, als klar wurde, dass alte Mitglieder wie Griechenland und neue wie Bulgarien bei Umsetzung der EU-Regeln massiv geschummelt haben. Europa hat sich auch immer wieder von einigen Mitgliedsstaaten finanziell erpressen lassen: Nur deswegen findet man beispielsweise heute kreuz und quer durch Spanien und Portugal neu gebaute, aber fast nicht benutzte Autobahnen quer durch die Wüste.

Der Europäische Gerichtshof  judiziert extrem expansiv. Das heißt, er mischt sich mit Hilfe juristischer Kniffe in immer mehr Bereiche ein, die nach der Vertragslage eigentlich gar nicht EU-Kompetenz wären. Etwa in die Frage, wer in Österreich Medizin studieren darf.

Die EU-Kommission hat zu viele Beamte und Gremien. Sie alle wollen die eigene Existenzberechtigung ständig primär dadurch rechtfertigen, dass sie immer neue Bereiche regeln. Andernfalls fürchten sie den Vorwurf der Untätigkeit von Medien oder Abgeordneten.

Last not least das Hauptproblem der heutigen Union: Ihr sind die beiden entscheidenden historischen Existenzgrundlagen weggefallen.


  1. Die eine war das „Nie wieder!“ nach einem 30-jährigen europäischen Bürgerkrieg, nach Jahrhunderten, in denen sich beispielsweise die Menschen auf beiden Seiten des Rheins immer wieder bekriegt haben.

  2. Das andere war die gemeinsame Angst vor der gewaltigen Bedrohung durch den Kommunismus. Dieser Bedrohung wollte man nicht nur durch gemeinsame Verteidigung (über die Nato), sondern auch durch gemeinsamen Wohlstand über einen gemeinsamen Markt (in den diversen Vorläufergemeinschaften der EU) entgegentreten, um zeigen zu können, welches Gesellschaftsmodell besser funktioniert.


Beide Ziele wurden einst grandios erreicht, sind heute aber für keinen Europäer mehr eine Antriebskraft. An ihre Stelle trat das geistige Vakuum einer Sinnkrise. Der Wohlstand durch einen funktionierenden Markt alleine ist vielen zuwenig. Daher wird nun von manchen versucht, Political correctness zum letzten Sinn der EU zu machen. Was naturgemäß ebenso grandios scheitern muss.

Am wahrscheinlichsten ist, dass keinerlei sinnvolle Konsequenzen aus all diesen Fehlentwicklungen gezogen werden. Das aber hat dann klare Konsequenzen: Europa wird dann weiter ökonomisch wie politisch marginalisiert – und damit verarmen. Sein Schicksal wird ähnlich dem der Griechen. Die träumen seit langer Zeit nur noch von ihrer stolzen Vergangenheit; für die Gegenwart sind ihnen lediglich viel Kultur, Geschichte und Knowhow für kulinarisch Genüsse geblieben.

(Dieser Text erscheint in deutlich ausführlicherer Form in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift „Conturen“ - http://www.trendconsult.at/p_conturen_1.htm)

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