Über alte und neue Rattenfänger

Die Demokratie sei in Gefahr: Extremismus bedrohe sie, und dagegen helfe nur noch ein rettendes Mittel: "Die Mitte" müsse aufstehen, sich vereinigen und erheben und überall im Land Protestmärsche abhalten. Gelinge das aktuelle "Aufstehen", werde den "Rattenfängern unter den Extremisten" misslingen, was sie anstreben: "Land und Demokratie kaputtmachen."

Wer sind diesmal die "Rattenfänger von Hameln"? Rechte oder linke oder grüne Propaganda-Kohorten oder vielleicht schon die verfeindeten Straßen-Kohorten der ortsansässig gewordenen "Söhne des Propheten"? - "Aufstehen!" wurde in der Berliner Republik der Zehner- und Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts eine beliebte Turnübung, die als neue "basisdemokratische" Vergemeinschaftung funktionieren und schon Trump besiegen sollte. Jetzt aber ist das neue Gemeinschaftsturnen bedroht und muss womöglich in gesicherte Schutzräume verlegt werden.

Den Rattenfänger-Alarm des Jahres 2024 verkündete der deutsche Bundespräsident, und daher verwundert es nicht, dass sein allerhöchster Alarm bis heute alle verfügbaren Sirenen aufheulen lässt.

Denn nun weiß auch der letzte Bürger seines obersten Demokratie-Repräsentanten, dass der "Extremismus von rechts" gemeint ist. Zwar standen Bundespräsidenten bisher über allen Parteien, weil ihre Aufgabe gewesen war, alle Parteien und sogar die der jeweils aktuellen Opposition zu repräsentieren und durch gütige und besonnene Worte zusammenzuhalten.  

Aber in der Not anrückender Rattenfänger wurde offenbar schon Feuer auf dem Dach und auf den Plätzen und Straßen der Demokratie gesichtet. Bereits seit einigen Jahren melden informell vereinigte Journalisten und Medienkartelle, dass höchste Gefahr im Verzug ist. Außerhalb von EU-Europa seien autoritäre Regime und Systeme entstanden, die nun über Polen und Ungarn bis in die Mitte Europas vorzudringen versuchen, um irgendwo zwischen Straßburg und Brüssel einen Umsturz unter der Devise "Rechtsruck" durchzuführen.

Auch der oberste Demokratie-Repräsentant Österreichs, dessen Parteifarbe peinlich oft seine Repräsentationsfarbe verdunkelt, predigt den Wein der EU-konformen Lehre und Praxis. Ist also wenigstens noch die EU eine sichere Insel seliger und glühender Demokraten?

Populismus, her oder hin

Für den längst überholten Namen "Rattenfänger" wurde mittlerweile ein aktualisierbarer Name gefunden. Was auch höchste Zeit war, denn die Namen und Begriffe aus den Märchentagen der Gebrüder Grimm stammen bekanntlich aus den idyllischen Zwischenzeiten der Geschichte Europas, in denen das Deutsche Reich, noch weniger die EU, noch nicht einmal gezeugt, geschweige geboren waren.

"Populisten" sind die neuen Rattenfänger, die alle Bürger der friedliebenden Demokratiemitte zu einem Extremismus verführen möchten, der die Demokratie samt Mitte und "Reichtum der Vielfalt" beseitigen wird.

Wenn aber der Populist im Dschungelteich des ewigen Populismus gezeugt und geboren wurde, stehen wir vor einem Rätsel von Teich. Denn es scheint sich um einen merkwürdig fruchtbaren Teich zu handeln: Nicht nur mehrere, sondern sogar höchst – extrem – entgegengesetzte Populisten(arten) scheint er zu zeugen und zu gebären.

Mit einem Wort: "Populismus" ist ebenso ungreifbar (ein begriffloser Begriff), unbestimmt (nach Belieben bestimmbar) und polemisch missbrauchbar (ein stumpfes Schwert, eine Pistole ohne Pistolenkugel) wie viele andere Begriffe, die seit Kurzem zu höchsten populistischen Ehren gelangten. 

"Hass" oder auch "Liebe" und ähnliche Leitbegriffe der Medienexperten-Psychologie lassen sich als politische Begriffe nach gewünschtem Belieben zu jedem gewünschten Kampflied "instrumentalisieren". Und davon sind die Leitbegriffe der Biologie wie "Rasse" und "Geschlecht" nicht ausgenommen, wenn sie einmal als "unmögliche" Begriffe erkannt und polemisch missbrauchbar geworden sind.  (Wer diese Woche sein Geschlecht noch nicht gewechselt hat, darf noch eine weitere Woche verstreichen lassen.)

Klimawandel und Weltuntergang sind weitere uneindeutig deutbare oder mittels globaler Zertifikate gefügig zu machende Kampfbegriffe, während andere "Fachausdrücke" mittels fremdwortartiger Neuworte erfolgreich in politische Markennamen verwandelt wurden.  "Mann und Frau", "männlich und weiblich" dürfen noch einige Zeit so tun, als wären sie eindeutig deut- und verstehbar. Aber mit "divers" und "queer" hört sich jeder Deutungsspaß auf.  

Ist das Normlose einmal neue Norm geworden, weiß zwar jeder Philosoph, welche Stunde geschlagen hat, auf welchem letzten Abtritt welcher Kultur das Dasein gefristet wird. Aber auch dieser Philosoph nur dann, wenn er nicht in die Falle des universalen Nominalismus gefallen ist, wie nicht wenige seiner Kollegen und ohnehin die mitlauffreudige Schar der philosophierenden Jugend, die immer schon einen neuen Wind im neuen (digitalen) Blätterwald rauschen hören wollte. Auch katholische Universitäten suchen neuerdings mittels "m/w/d" nach passendem Personal.  

Drei Geschlechter-Schlagworte, die den Rang von "Mustermann"-Kategorien für Behörden-Formulare erreicht haben, sie haben daher ausgekämpft und gewonnen. Aber im neuen Geschlechter-Triumvirat verfügt die dritte Art ("d") über einen "Reichtum der Vielfalt" an neuen Sub-Arten, der die beiden ersten Arten zu altgedienten Arten degradiert, um sie für ein erfolgreiches Aussterben in den Randzonen der neuen Menschheit abreifen zu lassen.  

Alter gegen neuen Populismus

Bei gesinnungsfrohen Journalisten lesen wir noch heute von einem "aufkommenden Populismus" und staunen über die Chuzpe, mit der verschwiegen wird, welcher Abgrund zwischen den beiden Fundamental-Arten von "Populismus" längst schon "aufgekommen" ist.

Und diese kollektiv, aber "stillschweigend" eingeübte Verharmlosung setzt sich fort, wenn nicht über die einander ausschließenden Inhalte der beiden "Populismen" berichtet und mit reflektierter Gegen-Abwägung recherchiert wird, - stattdessen immer nur das gängige Reservoir an gängigen Empörungswörtern, mit denen die beiden Positionen nichtverkehrend miteinander verkehren, wiederholt wird. "Hass und Hetze", "Fake News" und "Demokratiefeindlichkeit" und noch viele andere Allgemeinvokabeln, die der flach denkende Rudeljournalismus liebend gern verwendet, um dahinter seine abgedroschene Intelligenz zu verbergen, bleiben je nach "Populismus"-Art ambivalent anwendbar, um das Mindeste zu sagen. Es scheinen gleichartige Schwerter zu sein, mit denen auf beiden Seiten gekämpft wird.

Nun ist aber bekannt, welche Populismusvariante diese Worte in Umlauf gesetzt hat, zuerst und zuoberst bereits das Wort "Populismus" selbst. Es war jene Avantgarde der Menschheit, die seit Kurzem und nach kurzer Erleuchtung weiß, welche wahren Meinungen und Gesinnungen durchzusetzen sind, und wenn es sein muss, mittels "populistischer" Methoden. Folglich glaubt sich das System wahrer Meinungen und Gesinnungen verpflichtet, das Gegensystem unwahrer Meinungen und Gesinnungen zu ächten und zu beseitigen.

Daher wird "Populismus" dominant von der linksgrünen Fraktion gegen "alles, was rechts ist" eingesetzt: als Kampfbegriff und führendes Schlachtenbanner gegen ein Heer von "rechten" Falschdenkern, die sich mit dem "dummen Pöbel" zu verbinden trachten und dessen altvordere Ansichten einer altgewordenen Menschheit, womöglich in einer "Festung Europa", zu retten versuchen.

Und die linksgrüne Erleuchtung der avantgarden Kämpfer scheint sich zu bestätigen, wenn die "rechten" Gegen-Fraktionen, darunter die gewesene Mitte, auf die bereits deutlich erkennbaren "Früchte" und drohenden Folgen der Harakiri-Projekte der woken und linksgrünen Ideologie mit Argumenten und Worten reagieren, die ubiquitär als  "populistische" denunzierbar sind. Von einer politisch wirksamen Fraktion der Mitte spricht man nur noch als Hoffnung auf eine neue Zukunft, speziell in Österreich.

Kämpft ein "alter" gegen einen "jungen" Populismus, tobt nicht nur ein Kampf um die demokratische Mehrheitsmeinung - wie in den Demokratien des Westens von 1950 bis vielleicht 1995.  

Denn die bisher selbstverständlich "umstrittene" Mitte dieser Demokratien wurde erfolgreich unterwandert und ist bereits "flächendeckend" nach Linksgrün abgedriftet. Und da diese Drift die "richtige Richtung" in eine neue Zukunft einer neuen Menschheit vorzeichnet, schließt sich der Kreis des Begründungszirkels um ihre glühenden Anhänger. Gegen die neue heilige Mitte eines immerfort quellenden Urzirkels können alle Gegner nur mehr als kleingläubige ("rechte") Verhinderer des großen Fortschritts erscheinen.    

Es handelt sich um ein neues Avantgarde-Projekt, in dem die ästhetische Avantgarde der modernen Künste (nach 1945 bis vielleicht 1990) nur mehr eine untergeordnete Rolle spielt, schon weil die Unterhaltungsmoderne (mit dem Film an vorderster Front) die altgewordene "ästhetische Avantgarde" hinter sich gelassen hat.

Mit der Erosion der Mitte mussten auch Bildungsbürgertum und Hochkultur die Segel streichen, und Künstler jeder Art und Unart singen nun das neue Lied der neuen Menschheit.

Auch der "Brexit" wurde und wird bekanntlich unter "Populismus" rubriziert und "verstanden". Ein ganzes Volk, das der Insel-Briten, ist seither bei allen "glühenden" EU-Europäern in Verruf geraten. Und obwohl "Hass" eigentlich verboten ist, lässt sich erahnen, wie sie nun gehasst werden, diese insularischen Verweigerer des richtigen Weges, und wie ihnen zugewünscht wird, auf der falschen Seite der Geschichte zugrunde zu gehen.

Zwar ging die Zahl der einschlägigen antibritischen Zeitungs- und Medienartikel mittlerweile zurück. Aber bei jedem neuen "Flüchtlingsdesaster" auf dem Ärmelkanal, oder bei jeder Zurückweisung des "Ruanda-Modells" durch EU-hörige Anwälte in England, zittert eine Welle der Schadenfreude durch EU-Europa und seine glühenden Anhänger.

Ein neuer deutscher Sonderweg: antipopulistischer Populismus

Besonders in Deutschland, dem Land der wieder einmal gründlichsten und untertänigsten Mitläufer der epochal angesagten Bewegung ist das Schlag-Wort "Populismus" seit der waghalsigen Euro-Rettungspolitik von 2012 und der Völkerwanderungs-Tsunamis von 2015 überaus populär.

Sein radikal antipopulistischer Populismus scheint dem Volk der ehemaligen Denker und Dichter nochmals die Führungsrolle im europäischen Kampf gegen "alles, was rechts ist" zu garantieren.

Nun ist es jedoch das chronische Unheil Deutschlands schon seit Jahrhunderten, immer wieder die falsche Seite der Geschichte gewählt zu haben. Folglich bis zum bitteren Ende der falschen Seite und aller ihrer Mitlaufenden zu kämpfen: weshalb auch diesmal alle Europäer, egal ob glühende, laue oder kalte, sich nicht zur Seite stehlen können, wenn die (vielleicht jahrzehntelange) Schlacht um den großen Endsieg geschlagen wird.

Die scheinbar verrückte Analogie-Gleichung: Merkel habe das Harakiri, zu dem Hitler im 20. Jahrhundert Deutschland und Europa verführt habe, im 21. Jahrhundert "wiederholt", könnte noch als richtige Gleichung der ganzen modernen Geschichte Europas in die Geschichte eingehen. 

Aber noch stehen die Zeichen auf Sturm und Ungewissheit

Denn der "wahre deutsche Antipopulismus" und seine rotgrüne und EU-konforme Anhängerschaft hat bis heute viel zu leiden und zu bekämpfen: In vielen Ländern erhielten und erhalten die "Populisten" ("von rechts" und EU-skeptisch) verstärkten Zulauf und Unterstützung. Ein "Rechtsruck", den bereits die nächsten Europawahlen (Mitte 2024) bescheren könnten, wird nicht mehr ausgeschlossen.

In Italien, in den Niederlanden, und auch in den USA, wenn man die Präsidentschaft Bidens als schwaches Interregnum vor der Wiederkehr Trumps bewertet, kam der "rechte" Aufschwung nicht von ungefähr. Und in Deutschland wird die Erosion der traditionellen Volkparteien durch den Aufstieg der AfD verstärkt vorangetrieben. Eine neue Partei, die als Neo-Nazi-Partei stigmatisiert wird, und deren dennoch wachsende Zustimmungsraten sich offenbar dem Versprechen verdanken, in Deutschland (und vielleicht auch in der EU) nochmals zu retten, was vielleicht noch zu retten sein könnte.  

Der mentale europäische Bürgerkrieg der beiden Bewegungen, die sich gegenseitig als "Populisten" denunzieren, wird heute zumeist noch medial, mit Schlagworten und Halb-Argumenten geführt.

Doch erwartungsgemäß werden die fanatischsten, weil gründlichst gläubigen und gehorsamst mitlaufenden Kämpfer unter den deutschen Populisten und Antipopulisten anzutreffen sein.

In Deutschlands junger Berliner Republik entsteht mittlerweile sogar am linken Rand der linken Fraktionen eine neue "(anti)populistische" Bewegung (BSW), die mit dem aktuellen Kurs der regierenden rotgrünen Parteien nicht einverstanden ist.

In den geschrumpften und sich spaltenden Großparteien aus der Zeit der Bundesrepublik Deutschland greift Panik um sich: Böse Mächte planen einen Angriff auf Deutschlands Demokratie. Der verunsicherte Bürger wird mit dringenden Apellen ermahnt, "demokratiefest" zu bleiben, und Bundespräsidenten ersuchen ihre Redenschreibern, auf die Rattenfänger von Hameln zurückzugreifen.

Doch alle Panik ändert nichts mehr am Status quo: Jeder Panik-Appel bleibt im Fangnetz der Phrasen-Krake "Populismus" hängen. Jeder Appell geht mit seinem durchschimmernden Gegen-Appell schwanger: Der regierende (linksgrüne) Populismus muss den Bürgern "seiner" Demokratie unterstellen, bedrohtes Opfer von (rechten) "Rattenfängern" zu sein. Der nicht regierende Populismus muss den Regierenden unterstellen, die Vernichtung nicht nur der Demokratie, sondern bereits der gesamten Ökonomie und Wirtschaft des Landes weit vorangetrieben zu haben.

Daher wird auch die mentale Grundlage der modernen Demokratie, die Freiheit des Denkens und Entscheidens mündiger Bürger, zum handlichen Schlagwort "Meinungsfreiheit" verdünnt, um mittels geeigneter Dekrete das auserwählte avantgarde Meinen als richtiges Meinen durchzusetzen. Mit der unvermeidlichen Konsequenz, dass der nicht mehr schlafende Nachtwächter-Staat seine Denunziations-Fähigkeiten entdeckt: Er beginnt, ungesunde Meinungen auszuschnüffeln, um die wahre und gute Umerziehung der gewünschten neuen Demokraten nicht zu gefährden. "Nehmt Haltung an!", ruft die neue Gouvernante, - im Dienst eines kommenden künftigen Herrn, der den Ungehorsamen die Rute nicht mehr nur ins Fenster stellen wird. (Stets wieder erscheint das Schreckbild einer Feuerwehr, die überall neue Feuer legt, um als "Retter in der Not" angerufen zu werden. Die Lunten von Hass, Rassismus, Diskriminierung und Fake News glosen an jeder Ecke.)

Die Eliten der neuen Avantgarde im Kampf der Appelle

Die Eliten der Menschheitsavantgarde sind linksgrün und haben ihre Leitthemen zur neuen Leitkultur des Westens erhoben: Warum sollte, was bei Marx und Engels gescheitert ist, nochmals scheitern? Noch heute verkündet jedes "Karl-Marx-Lesebuch", das deutsche Verlage in geradezu periodischer Neuauflage veröffentlichen, die Heilsbotschaft der ewig siegreichen Jugendlichkeit: "Es kommt darauf an, die Welt zu verändern."  

Erstens das Geschlecht des Menschen, das nun "divers" definiert und divers gelebt werden soll, was zu einer neuen, erstmals selbstbestimmten Jugend führen wird. Zweitens die Eingeweide der nationalen Sprachen, die dem Genderfleischwolf zuzuführen sind. Drittens die Völkerwanderungsbereitschaft aller Menschen aller Kontinente: Afrika und Asien siedeln ab jetzt in Europa und Amerika. "Kein Mensch ist illegal." Und noch weniger ist es viertens illegal, wenn die Menschen des "globalen Südens", die bald schon "Land unter" melden werden, in den sicheren Norden ziehen, wo Klimawandel-Pakte die nächste aller Sintfluten besänftigen und aufhalten.

Diese sehenswürdige To-Do-Liste der unabwendbaren Veränderungen, verlängert sich beinahe schon im Tages-Rhythmus um neue Gerechtigkeiten, die nur darauf warten, von bisher unbemerkt Verfolgten und Beleidigten entdeckt zu werden. Woraus unmittelbar ersichtlich wird, dass das Projekt einer offenen Superdemokratie in Europa – die EU – das politische Vorzeigeprojekt der neuen Avantgarde ist. Scheitert dieses Projekt, ist auch die Heilsbotschaft der neuen Avantgarde gefährdet und in Frage gestellt, beispielsweise durch einen immer schon erkannten "Populismus", der Europas Freiheit und Wohlergehen beseitigen und zerstören wird. Auf die großartigen Errungenschaften der EU werden die Herrschaftssysteme europäischer und asiatischer Autokraten folgen. Und gegen diese könnte auch die Gründung neuer Kalifate in ganz Europa nicht mehr hilfreich sein.  

Deutschlands amtierende Superdemokraten

In Deutschland existiert bereits eine lange Reihe von Versuchen, die potentiellen und aktuellen Feinde der Demokratie an die Kandare zu nehmen. Obwohl sich diese sich für das genaue Gegenteil von Demokratiefeinden, für entschiedene Demokratiebewahrer halten. Der Grund für dieses extremkontroverse Verständnis von Demokratie und Demokratie-Bewahrung und -Förderung wurde gezeigt: Die zurzeit an der regierenden Macht lagernden Demokraten (vorerst noch eine Mischung von Parteien verschiedener Couleurs, die jedoch einer dominanten rot-grünen Kompass-Richtung folgen) verstehen sich als Avantgarde einer neuen Menschheit.

Ihre Agenda ist daher in ihren Augen nicht nur höchst demokratisch, sondern sogar höher als demokratisch legitimiert. Weshalb sie sich eines "legitimierenden" Rückhalts bei den zentralen internationalen Organisationen wie UNO und EU und zugleich bei nichtregierungsamtlichen NGOs versichern, die gleichsam als Avantgarde in der Avantgarde agieren. Und wie immer, wenn ein neuer Wind durch die endlosen Reihen der Menschheit bläst, existiert noch eine dritte Instanz, die den überdemokratischen (menschheitlichen) Rückhalt stärkt und oft sogar dominiert: Die veränderungsfreudige Jugend jeder neuen Zeit macht mit und ist überzeugt, aus freien Stücken mitzumachen. Der unverwüstliche Optimismus der Jugend, alles wird wieder gut (ausgehen), überzeugt als unüberbietbarer Hoffnungsgarant.

Aber noch ein anderer Grund befördert das extrem kontroverse Verständnis von Demokratie und Demokratie-Rettertum: Es ist das keineswegs neutrale oder gar unschuldige Prinzip der repräsentativen Demokratie, das immer wieder mit den Grundprinzipien derselben Demokratie, auch den rechtsstaatlichen, in offene oder vertuschte Konflikte gerät.

Zwei "Geburtsmängel" der repräsentativen Demokratie vertragen sich nämlich nicht mit historischen Zeiten, die stürmischen Veränderungen im Inneren wie im Äußeren ausgesetzt sind: Die mehrjährige Länge des Repräsentierens und die knappen Wahlsiege jener Parteien, die dennoch regieren, als hätten sie eine große Mehrheit hinter sich vereinigt. Daran ändert sich nichts, wenn sich mehrere Parteien zu einem Regierungsteam zusammentun, weil ihre politischen Ziele angeblich doch harmonisierungsfähig wären. Eine Konsens-Illusion, die selten eine ganze Repräsentations-Periode überlebt. 

Die Vielfalt der Vielfalten: Paradies oder Inferno?

In der Monarchie ging die Regierungswalt bekanntlich vom Monarchen aus, der wiederum durch Gottes Gnadentum und damit von zumindest einer der diversen Kirchen, die noch nicht "divers", sondern nur verschiedene Kirchenarten des Glaubens an Gott waren, zur Machtausübung befugt und befähigt war. In der Demokratie hingegen soll die Regierungsgewalt "vom Volk ausgehen". Aber dieser Sonntags-Satz aller Demokratien gerät meist schon am Montag der Woche nach dem Sonntagswahltag in die Turbulenzen erheblicher Unglaubwürdigkeit.

Denn besteht das Volk nur noch als Sammlung vieler und sehr verschiedener Bevölkerungen, aber auf demselben Staatsgebiet, über das oft schon die Monarchen regierten, dann leben und kämpfen die modernen Demokratien durch und für einen permanenten Vielvölkerstaat. Und was diese Art von "Vielfalt" bedeutet, darüber hat Europas Geschichte seine Völker gründlich und erschöpfend belehrt.

Der dritte Mangel ist ein erworbener, ein freiwillig erworbener: Durch ihren Beitritt zur EU haben alle beigetretenen Demokratien der Nationalstaaten Europas eine doppelte Repräsentationsaufgabe zu bewältigen. Denn ihr eigenes Bevölkerungs-Volk ist nun zugleich auch ein "EU-Volk" und daher berechtigt, an EU-Wahlen teilzunehmen und die repräsentativen Mandate von EU-Parlament und EU-Kommission(en) mitzubestimmen. Erstmals in ihrer langen Geschichte leben und kämpfen die Völker und Staaten Europas als Mitglieder einer gigantischen europäischen Monsterdemokratie. Obwohl auch die EU-Beitrittswahl 1994 in den teilnehmenden Staaten eher knapp ausfiel, weshalb die aktuell gewählten EU-Regierenden des "EU-Volks" immer nur in kurzen Hosen und Hemden (und umso kräftigeren Worten und Phrasen) regieren und repräsentieren können.

Dass die aufgezeigten "Vielfalten" (von der Menschheitsavantgarde bis zur EU-Machtübernahme) zu einer gewaltigen Überforderung der gerade noch "Bürger" zu nennenden Menschen in Europa geführt haben, lässt sich beispielhaft an den Kirchen Europas ablesen. Diese leben im Glauben (christlicher Provenienz), im Besitz der höchsten und lebensentscheidenden Wahrheit zu sein.

Daher rührt ihre Überzeugung, auch über alle anderen Wahrheiten und vermeinte Unwahrheiten der Zeit urteilen, womöglich sogar "richten" zu können. Wie aber soll man die (neuen) "Zeichen der Zeit" lesen und verstehen können, wenn ihrer zuviele und allzu verschiedene sind? Weil Kirchenobere und Theologen kraft ihres Heiligen Geistes über auserwählte Erkenntniskräfte verfügen?

Doch scheint es mit diesen Kräften nicht weit her zu sein, wie die Anpassungs-Exzesse der Kirchen und Theologen an die neuesten Errungenschaften der menschheitlichen und "ästhetischen" Avantgarde erkennen lassen. Keine Verrücktheit und "Befreiung", die nicht die Gemeinden und auch den Altarraum des "Allerheiligsten" besucht und entweder "öffnet" oder/und schamlos entwürdigt.

Wenn sich der normal gebliebene Gläubige angesichts dieser wirklich "diversen" Öffnungen und Befreiungen fragt, "was hätte Jesus dazu gesagt?", dann folgt er einem religiösen Pfad, dessen erklärte überpolitische Liebes-Neutralität in den anderen Religionen dialogfähige Partner findet. Aber die gemeinschaftliche Einkehr aller Religionen in das Haus eines erhofften gemeinsamen Jenseits wiederholt nur die illusionären Hoffnungen, die schon das minimale "Weltethos" nicht einlösen konnte. 

Was ein allwissender Jesus gesagt und erkannt hätte, bleibt    allesumfassend: Keine mögliche Aussage, die nicht als wirkliche behauptet werden kann. Frage und Antworten sind gleichermaßen illusorisch und weltflüchtig. 

Folglich sind die beklagten Verwerfungen und Zerfallserscheinungen in den vielfältigen Arten des Zusammenleben der Menschen, von den politischen bis zu den familiären, auch in die Mitte der Kirchen eingekehrt. Kirchenoberen, die den Weg in und mit der EU als Gebot der Stunde und fast schon geheiligtes Zeichen der Zeit predigen, stehen andere Kirchenobere und auch Theologen gegenüber, die in das grauenerregende Innere eines sich nahenden Höllenschlundes schauen.

 

Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.

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