In vielen Schulen wird Gesinnung gefördert, nicht das Denken

In unseren Schulen gibt es einen nicht zu unterschätzenden Hang zu einer Art Betroffenheitserziehung. Dabei sind Antworten oft wichtiger als Fragen. Abgesehen davon, dass mir keine empirisch gesicherte Studie bekannt ist, die den Erfolg einer solchen Pädagogik belegen würde, muss klar sein: Eine Erziehung, die primär auf die Förderung der richtigen Einstellung abzielt, ist grundsätzlich antiaufklärerisch. Sie will eine Gesinnung fördern und nicht das Denken.

Ich möchte das an zwei Beispielen illustrieren:

Kaum eine Schule versagt sich einer aktiven Umwelterziehung, und diese ist ja auch seit Jahrzehnten in den Lehrplänen verankert. Unsere derzeitigen ökologischen Herausforderungen sind also sicherlich nicht die Folge mangelnder Umwelterziehung in den Schulen. Diese könnte sich sogar langfristig als kontraproduktiv erweisen, da sie junge Menschen in einem unreifen Alter mit sehr komplexen Problemen konfrontiert, die sie nicht einmal im Ansatz durchschauen können, ihnen aber gleichzeitig das Gefühl der Verantwortlichkeit vermittelt.

Die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer schreibt daher treffend: "Die Neigung der Pädagogik, für jede noch so skrupellose Verunstaltung der Lebenswelt ein pädagogisches Konzept parat zu halten, ist fatal: Je verantwortungsbereiter die Pädagogik in dieser Hinsicht ist, desto unbehelligter bleiben die Verhältnisse. Und die Schüler, die zur Verantwortung er- oder gezogen werden sollen, werden zu einer gefährlichen Illusion verführt: zur Illusion der Verantwortlichkeit."[i] Diese Überforderung führt also statt zur Bildung und zur Festigung der Persönlichkeit möglicherweise zu Frustration, Verunsicherung und Fatalismus nach dem Motto: "Man kann sowieso nichts machen!" Oder aber zum Fanatismus mit dem Wunsch nach radikalen Lösungen.

Problematischer als das ist aber die Tatsache, dass eine – insbesondere Emotionen bedienende – Betroffenheitserziehung den Menschen als Subjekt negiert, da sie ihm Normen des Zeitgeistes einzupflanzen versucht, statt ihn zur Selbstbestimmung zu führen. Ethisch und das heißt eben auch ökologisch verantwortungsvoll handeln kann ich nur als autonomes Wesen; zu dieser Autonomie müssen junge Menschen aber erst erzogen werden. Eine Umwelterziehung, die sich dem Anspruch auf Menschenbildung nicht versagt, müsste daher reichhaltige Naturerfahrungen ermöglichen; müsste helfen, die eigenen Sinne zu schärfen; müsste kritisches, differenziertes Argumentieren lehren; müsste biologisches, physikalisches, chemisches Wissen als Grundlage des Verstehens vieler Naturprozesse vermitteln, die durch menschliches Verhalten gestört werden.

Angesichts des fast universellen Herrschaftsanspruchs der Wissenschaften müssten in einer bildenden Umwelterziehung aber auch erkenntnistheoretische Grundprinzipien vermittelt werden. Denn wissenschaftliche Forschung zeigt sich durchaus als janusköpfig. So wird sie – als Grundlage der Technik – teilweise für die Umweltverschmutzung verantwortlich gemacht; zugleich aber sehen viele in ihr ein wichtiges Mittel zur Lösung von Umweltproblemen. Nicht zuletzt ist sie als Instrument zur Feststellung und Beschreibung von Umweltschäden unverzichtbar.

Eine auf wirkliches Verantwortungsbewusstsein zielende Umwelterziehung müsste daher auch Fragen wie die folgende des Philosophen Paul K. Feyerabend thematisieren: "Sind Physik und Biologie die Maßstäbe dessen, was wir über Welt und Menschen denken sollen, oder wird die Reichweite ihrer Ergebnisse erst durch andere (religiöse, künstlerische, politische) Maßstäbe bestimmt?"[ii]

Die Durchdringung der Umweltproblematik kommt also nicht aus ohne philosophische Fragen über den Sinn des Lebens, über Glück und Luxus, über die Möglichkeiten menschlicher Zukunftsgestaltung, über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft etc. Dasselbe gilt für psychologische Fragen über die Freiheit des Einzelnen und über die Motive seines Handelns.

Wie bei jedem komplexeren Thema kommt es auch bei der Umweltfrage selbstverständlich auf ein entsprechendes historisches Bewusstsein an, auf ein Wissen um die Spannung zwischen Zerstörung und Schutz von Lebens- und Naturräumen seit dem Beginn der Zivilisation. Das alles erhebt nicht den geringsten Anspruch, Probleme der Gegenwart zu lösen. Dazu sind Kinder und Jugendliche weder berufen noch in der Lage.

Ein solcher Unterricht vermittelt weder Zukunftsangst noch ein schlechtes Gewissen. Er schafft aber die Grundlage für verantwortungsvolles Handeln, schafft die Wissensbasis, um reale Probleme besser einzuordnen, fördert die Phantasie bei der Gestaltung der Zukunft, verletzt aber niemals den Anspruch, Menschen als autonome Individuen zu betrachten, die durch Erziehung und Unterricht in die Lage versetzt werden sollen, selbst urteilsfähig zu werden, statt nur zeitgeistige Parolen und Überzeugungen zu übernehmen.

Als zweites Beispiel sei die Prävention gegen Extremismus und Gewalt, gegen Vorurteile und Fremdenfeindlichkeit genannt. Auch hier ist es völlig verkehrt, die vordergründig als richtig erkannten Normen und Werte einfach zu propagieren oder gar zu versuchen, sie durch geschickte Psychotechniken ins Bewusstsein der jungen Leute zu schleusen. Tabuisierung vorhandener gesellschaftlicher Konflikte ist ebenso wenig zielführend wie die Verurteilung von Positionen, die nicht dem aktuellen Mainstream entsprechen. In beiden Fällen wird der andere – in diesem Fall der Schüler – nicht als denkendes Wesen ernstgenommen.

Wer hingegen die Autonomie des Einzelnen rückhaltlos akzeptiert und die Hinführung zur Mündigkeit als bleibenden Auftrag von Erziehung und Unterricht ansieht, "der sorge dafür, dass junge Menschen denken und urteilen, unterscheiden, entscheiden und verantworten lernen. Wer argumentiert, anerkennt den anderen als Person, nimmt ihn als Denkenden und Urteilenden ernst, räumt ihm das Recht ein, Argumente zu prüfen, eigene Gegenargumente vorzubringen."[iii]

Eine so geschulte Dialogfähigkeit ist eine wesentlich tragfähigere Basis für Humanität, Respekt und Gewaltlosigkeit als eine wie auch immer geartete Moralisierung. Sie achtet die Person als grundsätzlich nicht zu manipulierendes Subjekt und sie ermöglicht dem Einzelnen, sich in strittigen Fragen ein eigenes Urteil zu bilden und es argumentativ zu vertreten.

Ein bildender Unterricht, der gewaltpräventiv wirken will, sollte daher nicht einfach ein bestimmtes Verhalten als richtig und wünschenswert darstellen, sondern vielmehr echte moralische Dilemmata behandeln. Anhand solcher Konflikte kann die Argumentationsfähigkeit geübt und können gegensätzliche ethische Positionen durchdacht werden. Ein derart ausgerichteter Unterricht wird außerdem ein hohes Sprachbewusstsein vermitteln, denn Sensibilität für Sprache ist ein wichtiges Argumentationsinstrument und der beste Schutz vor der Verführungskraft von Rhetorik und Propaganda. Wer Extremismus und Gewalt vorbeugen möchte, muss auch den inhaltlichen Bogen weit spannen. Es genügt nicht, bloß Verdammungsurteile über bestimmte Denkweisen auszusprechen oder Beispiele richtigen Verhaltens vorzuführen. Denn Extremisten sind weder einfach dumm noch einfach böse. "Wenn das so wäre", schreibt Paul K. Feyerabend treffend, "gäbe es überhaupt keine moralischen Probleme. Idiotie und das absolut Böse liegen jenseits der Domäne menschlicher Moral."[iv]

Ein bildender Unterricht, der den Menschen stärkt und schützt, wird daher sowohl die Rolle der Aggressionsbereitschaft für die Phylogenese des Menschen behandeln als auch die Theorie und die Geschichte verschiedener Staatsordnungen reflektieren und zumindest eine grobe Vorstellung von der Rechtsordnung und den Grundwerten moderner Demokratien vermitteln. Ein solcher Unterricht wird die Frage erörtern, weshalb es in der Geschichte immer wieder zu Fanatismus gekommen ist und welche Folgen er hatte, er wird das Verhältnis von Politik und Moral problematisieren und er wird versuchen aufzeigen, welche Faszination von radikalen Positionen ausgeht, welchen Gesetzmäßigkeiten die Psychologie der Massen folgt und welche Chancen, aber auch welche Gefahren im Wahrheitsanspruch von Religionen stecken.

Das alles lässt sich am besten an fiktiven oder historischen Beispielen studieren. Andernfalls besteht die Gefahr, sich zu sehr in die Tagespolitik zu verstricken und Kinder entsprechend zu vereinnahmen, statt ein offenes und entspanntes Gesprächsklima zuzulassen, bei dem niemand das Gefühl hat, etwas Unpassendes zu sagen. All das regt in hohem Maße Bildungsprozesse an. Es macht gegen Extremismus und Gewaltbereitschaft immun, ohne einfach bloß Betroffenheit zu erzeugen und Gesinnungen zu festigen.

Ich habe zwei Beispiele gewählt, um zu zeigen, dass Schule sehr wohl einen Beitrag zur Zivilisierung und Humanisierung der Gesellschaft leisten kann, ohne den Imperativ der Menschenbildung zu verraten, ohne sich selbst durch zu viel Aktionismus zu überfordern und ohne ihre weltanschauliche Neutralität durch einseitige Parteinahme für zeitgeistige Positionen aufzugeben. Überhaupt sollten wir Lehrer uns sowohl im eigenen Urteil über politische Fragen zurückhalten als auch der Versuchung widerstehen, eine weltanschauliche Positionierung von den Schülern einzufordern. "Je ernsthafter der Schüler ist", gibt Karl Jaspers zu bedenken, "desto mehr verzichtet er auf vorzeitige politische Tätigkeit und auf endgültige politische Meinungen. Er will lernen, zuhören, fragen."[v] Geben wir ihm Gelegenheit dazu!

 

Der vorliegende Text ist ein Auszug aus dem kürzlich im Garamond-Verlag erschienenen Buch von Tomas Kubelik: "Warum Schulen scheitern. Betrachtungen eines Praktikers"

Tomas Kubelik, geb. 1976, ist AHS-Lehrer für Mathematik und Deutsch. Sein 2015 erschienenes Buch "Genug gegendert! Eine Kritik der feministischen Sprache" wurde mit dem Jürgen-Moll-Preis sowie mit dem Deutschen Schulbuchpreis ausgezeichnet. 

 

[i] Gronemeyer, Marianne: Lernen mit beschränkter Haftung, Darmstadt 1997, S. 130

[ii] Feyerabend, Paul K.: Die Wahrheit, das laute Kind, in: Der Spiegel, Nr. 26/1983, S. 142

[iii] Heitger, "Das Unzeitgemäße einer zeitgemäßen Pädagogik", S. 115

[iv] Feyerabend, Paul K.: Die Torheit der Philosophen. Dialoge über die Erkenntnis, Frankfurt am Main 1997, S. 124

[v] Jaspers, Karl: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch (Textauswahl und Zusammenstellung von Hermann Horn), München 1982, S. 185

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)
Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print



© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung