Die etwas andere Bilanz der Corona Pandemie

Im "Standard" vom 23.7. berichtete Dr. Mückstein aus der Gruppenpraxis für Allgemeinmedizin in Wien-Mariahilf über sogenannte Kollateralschäden der Pandemie, die er im Bereich seiner Patientenversorgung feststellen konnte: Alkoholmissbrauch und häusliche Gewalt hätten zugenommen, Home-Office und Kinderbetreuung seien zusätzliche Belastungen gewesen. Die Besuchsfrequenz in der Ordination sei dramatisch zurück gegangen und auch nach der Aufhebung des Lockdowns sei sie noch immer deutlich geringer als in Vor-Corona Zeiten. Dieser realistische Einblick in den aktuellen medizinischen Alltag einer großen Kassenordination blendet naturgemäß weiter greifende Auswirkungen der Pandemie aus.

Diese werden aber immer erkennbarer, da sie zahlreichen Patienten substantiellen Schäden zugefügt haben. Deren wahres Ausmaß wird allerdings nie genau eruiert werden können. Die diesen negativen Auswirkungen zugrunde liegenden Mechanismen lassen sich aber durch aktuelle Berichte aus führenden medizinischen Fachzeitschriften deutlich erkennen und substantiell belegen.

So wurde in einer Publikation des "Journal of the American Medical Association" (JAMA) im Juni der massive Einfluss der Pandemie auf die Aufnahmezahlen der Veterans Administration Hospitals (VA) analysiert: In den drei Corona-Monaten (März bis Mai) haben sich die Aufnahmen gegenüber den drei vorangegangenen Monaten von über 77.000 auf etwa 45.000 Patienten, d.h. um ganze 42 Prozent reduziert. Dabei wurden Schlaganfälle, Herzinfarkte, chronisches Herz und Lungenversagen (COPD), Lungenentzündungen und Blindarmentzündungen ausgewertet. Die Schwankungsbreite des Rückgangs reichte von 40% (Herzinfarkt) bis zu 57% (Blinddarmentzündung). Die Autoren folgerten, dass man die Morbidität und Letalität in der Coronakrise wesentlich weiter fassen müsse, als es die Zahl der Corona-Infizierten tatsächlich nahelegt.

Einen zahlenmäßig eindrucksvollen Beleg liefert eine Arbeit in der sehr renommierten Zeitschrift "Nature" (8. Juli), in der 17 Millionen elektronische Krankenakte des National Health Service in England ausgewertet wurden, darunter auch die Daten von fast 11.000 an Covid-19 Verstorbenen. Man konnte zeigen, dass Covid-19-Patienten im Alter von 80 plus ein um das 20-fache erhöhte Sterberisiko gegenüber der Altersgruppe 50-59 besitzen. Es starben auch mehr Männer als Frauen. Es überrascht auch nicht, dass Fettleibigkeit, Diabetes, Lungen-oder Herzerkrankungen, Nierenversagen, Patienten mit Autoimmunerkrankungen -oder immunsupprimierte Patienten und auch Krebserkrankungen als zusätzliche Risikofaktoren erfasst und quantifiziert werden konnten.

Auch ein negatives soziales Umfeld wie Armut, die Zugehörigkeit zur schwarzen oder südasiatischen Ethnie war mit einem höheren Sterberisiko verbunden, als dies bei der weißen Bevölkerungsgruppe der Fall war. Die Autoren sehen den Wert dieser extrem umfangreichen Studie nicht nur in der Erfassung und Analyse von Risikogruppen und -faktoren, sondern verweisen auch darauf, dass gesellschaftliche Ungleichheiten und soziale Verwerfungen die Erkrankung mit Covid 19 begünstigen.

Schätzungen ergaben laut deutschen Medien, dass in der Bundesrepublik etwa 52.000 Eingriffe mit notwendiger Intensivtherapie, das heißt vor allem Krebs- und Herzoperationen – der Pandemie geschuldet – um mehrere Monate verschoben worden sind. Das dürfte bei onkologischen Patienten die Chance auf Heilung verringert und jene auf das Sterben erhöht haben, auch wenn führende Onkologen davon sprechen, dass sich diese Wartezeit mit Chemotherapien hätte überbrücken lassen (Paul Sevelda).

Faktum bleibt, dass zahlreiche Patienten aus Angst vor Ansteckung den Spezialabteilungen ferngeblieben sind. Für Herzpatienten bedeutet ein mehrmonatiger Aufschub eines Eingriffes ebenso eine substantielle Gefahr für Gesundheit und Leben. Christian Hengstenberg, Chef der Kardiologie im AKH, hat diese Tendenz sehr deutlich thematisiert (Standard, 25.6.), wenn er berichtet, dass konkrete Patienten aus eben dieser Angst es verabsäumt haben, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen und deswegen schweren gesundheitlichen Schaden erlitten haben. Für den Fall einer neuerlich zunehmenden Infektionsfrequenz durch Covid 19 wird es eine der wichtigsten Aufgaben der Politik und der Ärzteschaft sein, dahingehend zu wirken, dass Patienten, die ein schweres Tumor- oder Herzproblem oder Warnsymptome eines Schlaganfalls haben, die notwendige Behandlung nicht aus Angst vor einer möglichen Ansteckung weiter hinausschieben, indem sie Ordinationen und Ambulanzen meiden.

Die Corona-Pandemie hat weltweit eine einzigartige und zum Teil auch irreale Situation geschaffen: die meisten Länder haben die Bekämpfung der Pandemie so sehr fokussiert und priorisiert, dass es zu schwerwiegenden Vernachlässigungen der Behandlung weiter Bereiche des medizinischen Alltags gekommen ist.

So berichtete Rudolf Likar, Intensivmediziner und Corona-Koordinator für Intensivmedizin in Kärnten, dass in seinem Bundesland 700 Spitalsbetten freigehalten wurden, obwohl es nur 80 intensivpflichtige Corona Patienten gegeben hat. Diese Kärntner Verhältnisse lassen sich grosso modo auch auf weite Teile Österreichs übertragen. Er kritisierte daher vehement, dass man das Gesundheitssystem im ganzen Bundesgebiet derart brutal heruntergefahren hat.

Eine weitere wichtige Lehre aus der aktuellen Pandemie muss sein, in Zukunft dafür Sorge zu tragen, dass betagte oder/und pflegebedürftige Heimbewohner als Hochrisikopatienten nicht nur streng isoliert, sondern auch effizient betreut und begleitet werden müssen. Auch das müsste uns der "schwedische Weg" gelehrt haben: Erreichte doch dort die Sterberate der an Covid-19 Erkrankten im Großraum Stockholm die brutale Zahl von 10,3 Prozent.

Österreichische Vergleichswerte schwankten um den 20. Juli zwischen 1,7 (Oberösterreich) und 7,5 Prozent (Steiermark), Wien lag mit 4,2 in der Mitte. Für den 27. August gelten folgende Werte: Oberösterreich 1,55 Prozent, Tirol 2,64, Niederösterreich 2,88, Wien 3,03 und für die Steiermark 6,8 Prozent.

Public-Health-Experte Martin Sprenger kritisiert auch massiv die Kommunikationsarbeit des Gesundheitsministeriums, die sich im Wesentlichen auf die tägliche Bekanntgabe der neuen positiv Getesteten beschränkt und nicht differenziert, ob diese Neuzugänge bloße Virenträger oder klinisch erkrankte Personen sind. Die von ihm geforderte Bekanntgabe der wichtigsten Kennzahlen zur Einschätzung der Pandemie-Gefahr, nämlich wie viele Menschen in Spitälern behandelt werden oder gar eine intensivmedizinische Betreuung benötigen, wird, wenn überhaupt, nur am Rande kommuniziert.

Die hier angesprochenen Negativeffekte der Pandemie in ihrer deprimierenden Gesamtheit als Kollateralschäden zu benennen, erinnert an Kriegsberichte, die den Tod von Zivilpersonen im Rahmen militärischer Aktionen emotionslos verniedlichen …

Die finale Bilanz der aktuellen Pandemie wird aber die vielen tausend Menschen berücksichtigen müssen, die indirekt zu "kollateralen" Opfern der Corona-Pandemie geworden sind, auch wenn diese zahlenmäßig nicht einmal annähernd erfasst werden können.

Zu diesen dramatischen Negativergebnissen addieren sich noch die schockartigen Wirkungen, welche die Bundesregierung durch beispiellose temporäre Beschränkungen von Grund -und Freiheitsrechten der Bevölkerung zugemutet hat. Und ist es überhaupt noch eine Erwähnung wert, dass uns die Pandemie die größte Wirtschaftskatastrophe seit 1945 beschert hat, die uns noch Jahre belasten wird? Einige Pessimisten wagen sogar die Behauptung, dass wir ohne grundlegende Änderung unseres Gesundheitssystems eine Neuauflage der Corona-Pandemie nicht bewältigen werden können. Da kann man den Topmanagern der Krise nur noch ein ungewöhnlich hohes Maß an Weisheit, Umsicht und Urteilsfähigkeit wünschen, um ihnen nicht ein Wort des amerikanischen Poeten Ezra Pounds entgegenhalten zu müssen: "Regieren ist die Kunst, Probleme zu schaffen, mit deren Lösung man das Volk in Atem hält."

Dr. Manfred Deutsch, Facharzt für Herz- und Gefäßchirurgie                                     

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