Die Zigeuner-Frage: Ein österreichischer Dichter verirrt sich in die ungarische Politik

Wenn sich Schriftsteller auf das Feld der Politik begeben, ist stets Gefahr für die Wirklichkeit im Verzuge. Wäre Thomas Mann 1914 bei der Maxime „Dichter bleib bei Deiner Fiktion“ geblieben, so hätte er sich nicht mit seinem ebenfalls zu literarischem Ruhm gelangten Bruder Heinrich entzweit und sich nach Kriegsende nicht – wie viele seinesgleichen – für vom Schreibtisch aus erschallte Rufe zu den Waffen schämen müssen.

Kriegsbegeisterung schlug sich in seinen „Gedanken im Kriege“ nieder, in denen er den „bewaffneten Widerstand gegen den anti-heroischen und anti-genialen Geist der wölfisch-merkantilen Bourgeoisie-Republiken“ propagierte. Der Literatur-Nobelpreisträger ließ sich überdies in den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ auf gut 600 Seiten über den „Entscheidungskampf“ zwischen metaphysischer deutscher Nation und dem ihr wesensfremdem Westen aus: „Fort also mit dem landfremden und abstoßenden Schlagwort ,demokratisch’! Nie wird der mechanisch-demokratische Staat des Westens Heimatrecht bei uns erlangen“, befand er. Starker Tobak.

Ein Vergleich mit Thomas Mann verbietet sich zwar aus naheliegenden Gründen, doch soeben hat sich der (ober)österreichische Schriftsteller Erich Hackl in die ungarische Politik verirrt und aus manchem, was er dort aufzuspießen müssen glaubte, die Wirklichkeit ausgeblendet. Das betrifft zuvörderst die Situation der größten ethnischen Minderheit des Landes, nämlich der Zigeuner.

Ich ziehe diese Benennung dem medial durchweg in eifernder politischer Korrektheit (PC) gebrauchten Terminus „Roma und Sinti“ vor. Nicht allein weil alle germanischen, romanischen und slawischen Sprachen sie kennen.; und weil die überwältigende Mehrheit dieser zu vier Fünfteln in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien beheimateten ethnischen Minderheit den Ausdruck Zigeuner oder Gipsy bevorzugt, da er ihre Abstammung und ihre kulturellen Leistungen besser wiedergibt als die PC-Bezeichnung Roma, die sich ausschließlich auf männliche Erwachsene bezieht und Frauen außer Acht lässt. Sondern auch weil sich die ungarischen Angehörigen dieser Volksgruppe sowie ihr Selbstverwaltungsorgan Országos Cigány Önkormányzat (OCÖ) selbst cigány und cigányok (Zigeuner; Singular und Plural) nennen.

Hackl ist es in seinem in absoluter dichterischer Freiheit verfassten und im (eher linksgewirkten) „Spectrum“, der Wochenendbeilage der „bürgerlichen“ Tageszeitung „Die Presse“, erschienenen Beitrag „Wie pflügt man das Meer?“ allerdings nicht um ethno-linguistische Feinheiten aus der vergleichenden Sprachwissenschaft zu tun gewesen. Ihm und dem ihn publizierenden Presseorgan ging es vielmehr darum, die angeblich schändliche, von Rassismus geprägte Politik in Ungarn gegenüber den Zigeunern, namentlich unter dessen Ministerpräsidenten Viktor Orbán, anzuprangern. Und dabei, getreu der Volksweisheit „den Sack schlagen, aber den Esel meinen“, auf Zoltán Balog, den maßgeblich für die Integration, mithin für die Zigeuner zuständigen Minister, verbal einzudreschen.

Nun soll hier keineswegs der Eindruck erweckt werden, als ob hinsichtlich der Zigeuner-Frage respektive anderer Politikfelder in Ungarn „alles in Butter“ wäre. Oder dass Balog, von dem wir aus der Orbán-Biographie des polnischen Publizisten Igor Janke (http://www.andreas-unterberger.at/2014/03/viktor-orban-ij-freiheitsliebender patriot/?s=Janke#sthash.P3TQXer2.dpbs) wissen, dass er als einer der engsten Weggefährten des ungarischen Regierungschefs gilt, und dem Hackl den Mühlstein „Geschichtslüge“ umzuhängen trachtet, ohne Fehl und Tadel wäre. Längst hat Balog einen (nicht nur von Hackl) kritisierten Satz, wonach es „keine Deportationen von Roma aus Ungarn in nazideutsche Vernichtungslager gegeben“ habe, als „misslungen“ bedauert, ihn korrigiert: „Ungarische Roma sind der Vernichtung zum Opfer gefallen”. Er hat sich für eine Einrichtung ausgesprochen, welche „all das zu dokumentieren” habe.

Hackl kann allerdings der Vorwurf nicht erspart werden, aus seiner politischen Dichtung für das „Presse-Spectrum“ kurzerhand alles ausgeblendet zu haben, was seiner Absicht zuwiderlief, Balog zu diskreditieren. Und sich damit unter jene Mainstream-Skribenten einzureihen, für deren Ziel, Orbáns Ungarn in ein schiefes Licht zu rücken, eine ordentliche Recherche hinderlich ist.

Reformen der Orbán-Regierung

Hätte sich Hackl darauf eingelassen, wäre er nämlich an gewissen Fakten nicht vorbei gekommen. So hat just Balog bewirkt, dass die Thematik „Geschichte und Kultur der Roma“ in den nationalen Lehrplan Ungarns aufgenommen worden ist. Im Geschichtsunterricht der Schulstufen fünf bis zwölf gehören die Themen „Kultur der Nationalitäten und Minderheiten in Ungarn“ sowie „Die Geschichte, der Zustand und der Integrationsprozess der Roma- Gesellschaft“ zum festen Lehrplan. Schon 2012 wurden der nationale Lehrplan und die Rahmenlehrpläne um das Thema „Roma-Holocaust“ erweitert. Im nationalen Lehrplan ist der Themenkomplex „Judenverfolgung, Weg zum Holocaust, Holocaust und Roma-Völkermord“ fest verankert. Balogs Ministerium hat auch dafür gesorgt, dass in den Schulstufen fünf bis acht neben „Holocaust“ auch „Benachteiligung und Ausgrenzung von Völkern, Volksgruppen, Nationalitäten“ Unterrichtsgegenstände sind.

Es hätte Hackl auch gut angestanden, darauf hinzuweisen, dass Ungarn mit der während seines EU-Vorsitzes im ersten Halbjahr 2011 eingebrachten „Roma-Strategie“ andere Mitgliedstaaten unter Zugzwang setzte. Dorthin, beispielsweise nach Rumänien oder Bulgarien, wird aber kaum publizistisches Augenmerk geworfen.

Die von Budapest initiierte „Roma-Strategie“ soll den Zugang der Zigeuner zu Bildung, Beschäftigung, Gesundheitsfürsorge und Wohnraum verbessern. Hinsichtlich des Abbaus der Benachteiligung der Zigeuner hat das vielgescholtene Ungarn in Europa zweifellos die Vorreiterfunktion übernommen. Für Balog ist es „unerlässlich, dass die Roma eigenständige Akteure werden" müssen. Er ist der „Architekt“ der Roma-Strategie und des von der Regierung Orbán verabschiedeten Programms zur „positiven Diskriminierung" von Zigeunern.

Ein Ziel sind 100.000 Arbeitsplätze für Zigeuner. Ein anderes Ziel lautet, dass mittels 20.000 Schul- und 5000 Hochschul-Stipendien sowie einer Quotenregelung für den öffentlichen Sektor Zigeuner auch in den öffentlichen Dienst Ungarns gelangen, wo sie 2010, beim Amtsantritt der Regierung Orbán II, gänzlich fehlten.

Orbán war es auch, der Lívia Járóka, lange Zeit die einzige Roma-Vertreterin im Europaparlament, als Abgeordnete seiner Fidesz-Partei, damit der EVP-Fraktion, nach Straßburg entsandte. Und seine Regierung griff gesetzlich in die weit großzügiger als in allen anderen EU-Staaten garantierte Versammlungsfreiheit ein und sorgte damit dafür, dass seitdem bedrohliche Aufmärsche uniformierter Rechtsextremisten in Ortschaften und Siedlungen mit Zigeuneranteil der Vergangenheit angehören.

In Ungarn ist die Arbeitslosigkeit unter Zigeunern hoch. 55 Prozent der Familien haben keine regelmäßigen Einkommen. Nur 27 Prozent der Männer im Alter zwischen 16 und 64 Jahren gehen einer Erwerbsarbeit nach. Mitte der 1980er Jahre, der Endzeit der sozialistischen Staats- und Kollektivwirtschaft, standen hingegen 85 Prozent in Arbeit, davon fast drei Viertel in der Bauindustrie. Schon während seiner Oppositionszeit hatte Orbán auf dieses Missverhältnis mit der Aussage reagiert, es könne nicht sein, dass die Demokratie bestimmte Probleme nicht löse, welche im Sozialismus beherrschbar gewesen seien. In diesem Satz sah der Regierungschef Orbán ebenso eine programmatische Verpflichtung wie sein für die (Zigeuner-)Integration zuständiger Minister Balog.

In Gegenden, in denen in der Altersschicht der Berufstätigen fast nur noch Zigeuner leben, beispielsweise in Nordost-Ungarn, ist eine produktive Wirtschaftstätigkeit nur mit gezielter Unterstützung zu bewerkstelligen. Daher richtet Balogs Ressort alle Bemühungen auf ein sinnvolles Verhältnis von Beschäftigungspolitik und Sozialpolitik. Bildung und Arbeit sind die Schlüsselwörter, die letztlich auch vor der Kriminalität bewahren.

Hinzu kommt die Errichtung menschenwürdiger Behausungen, an denen es in vorwiegend von Zigeunern bewohnten Siedlungen oft mangelt. Gelder werden aus dem Széchényi-Plan dafür, für den Straßenbau und die Wasserversorgung bereitgestellt. Balogs Ministerium sorgt besonders dort für menschenwürdige Unterkünfte, wo Eltern regelmäßig zur Arbeit gehen und ihre Kinder in die Schule schicken.

Ein schönes Beispiel findet sich in Hernadnémeti nahe Miskolc. Dort werden Zigeunerkinder direkt vom Kindergarten aus an einer völlig erneuerten Schule eingeschult. Bei gegenteiligem Verhalten wird Sozialhilfe und/oder Kindergeld gekürzt. Nicht immer ist Druck etwas Verwerfliches.

Sowohl in Ungarn als auch im Ausland lästern „Experten“ über die von der Regierung Orbán ergriffenen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, denen auch Zigeuner unterliegen. Publizistische Schreibtischtäter und ihre „Gewährsleute“ aus diversen NGOs nennen die aufgrund des Regierungsprogramms erbrachten Leistungen Zwangsarbeit. Natürlich stimmt es, dass die Entlohnung für diejenigen, die teilnehmen – es herrscht Freiwilligkeit – unter dem ungarischen Mindesteinkommen liegt. Richtig ist auch, dass über die Streichung von Sozialleistungen Druck auf „Arbeitsverweigerer“ ausgeübt wird. Aber in Übereinstimmung mit Aussagen von Pfarrern und Sozialarbeitern ist festzuhalten, dass infolge dieses regierungsamtlich verordneten Programms Betroffene sich wieder an eine von Arbeitstätigkeit bestimmte Tagesstruktur gewöhnen. Das gibt ihnen ein gewisses Maß an Würde (zurück), und für manche ist damit der (Wieder-)Einstieg in die Erwerbsarbeit verbunden.

Einsatz christlicher Initiativen

Zur ungarischen Wirklichkeit, über die Hackl der Einfachheit halber hinwegging, gehört überdies der kaum hoch genug einzuschätzende Einsatz karitativer, meist kirchlicher (oder durch Glaubensgemeinschaften initiierte) Einrichtungen. Catherine Gyarmathy, eine engagierte Schweizerin, ist hellauf begeistert davon, dass für die „Gesundheit der Roma-Bevölkerung viel getan“ werde. Man erteile Hygiene-Unterricht, gebe Anleitung zur Geburtenkontrolle, und neuerdings werde „versucht, die Roma-Frauen zu Vorsorgeuntersuchungen anzuregen.“

Man wirke auch der nicht seltenen Frühverheiratung von Mädchen entgegen, die oftmals erst 12, 13 oder 14 Jahre jung sind. Eine Stiftung entsendet jedes Wochenende junge Frauen und Männer, meist Studierende, in Dörfer mit Zigeunersiedlungen, „wo sie Roma-Frauen in Lesen und Schreiben unterrichten und den Männern zeigen, wie man Garten, Feld und Stall richtig betreut.“

Die theologischen Fakultäten ungarischer Universitäten haben Studienmodule für die Zigeuner-Seelsorge in ihre Curricula aufgenommen. Mittlerweile gibt es bei allen traditionellen Kirchen Ungarns – der römisch-katholischen, der reformierten (calvinistischen) und der evangelisch-lutherischen – speziell ausgebildete Seelsorger und/oder Katecheten, die sich in Roma-Pfarreien engagieren.

Eigens für die Zigeuner-Hilfe hat die reformierte Kirche ein bindendes Strategiepapier (www.ciganymisszio.reformatus.hu) erarbeitet. Die beiden protestantischen Kirchen Ungarns – Calvinisten und Lutheraner - sagen offen, dass Hoffnung für ihr Weiterbestehen „auf der Roma-Mission ruht“. Es gibt schon jetzt Kirchgemeinden, in denen Zigeuner die Mehrheit der Gläubigen stellen.

Catherine Gyarmathy ist „sehr beeindruckt von der Arbeit sowohl der Kirchen als auch der Laien, von den vielen freiwilligen Einsätzen, aber auch vom hohen Engagement des ungarischen Staates, der über verschiedene Stiftungen finanzielle Unterstützung leistet.“ Eine ihrer Bekannten aus Bosnien, „die in einer Menschenrechts-Organisation tätig und vor allem mit dem Roma-Problem beschäftigt ist“, habe ihr gesagt: „Unter allen mittel-, mittelost-, südost- und osteuropäischen Ländern unternimmt Ungarn die größten Anstrengungen“.

Diesen Eindruck habe auch sie, bekundet die Schweizerin Gyarmathy, die sich außer in Ungarn noch in Rumänien engagiert. Mit ihr hätte Schriftsteller Erich Hackl reden sollen, bevor er sich „dichterisch“, man könnte auch sagen „fiktiv“, über die ungarische (Zigeuner-) Politik ausließ und Zoltán Balog zu verunglimpfen trachtete. Was weder redlich ist, noch von Empfindsamkeit zeugt.

Der Verfasser ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)
Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print



© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung