Buchbesprechung: Inside Occupy

Beim Erwerb dieses Buches schloss der Rezensent aus dessen Titel auf eine kritische Auseinandersetzung mit dem besprochenen Thema – etwa in der Art der amüsant zu lesenden Polemik „Unter Linken“, aus der Feder von Jan Fleischhauer. Ein Irrtum. Denn der Autor, der amerikanische Kulturanthropologe David Graeber, ist keineswegs von der zeitgeistigen Religion des Antikapitalismus abgefallen, sondern ein von seiner Sache mehr denn je überzeugter Aktivist der Occupy-Wallstreet-Bewegung.

Nach eigener Einschätzung ist er Anarchist. Wenn das jemand von sich behauptet, dann handelt es sich gewöhnlich um radikale linke Kollektivisten, die privates Eigentum strikt ablehnen, sofern es das Ausmaß von Leibwäsche, Monatsbinden und Rasierzeug übersteigt. Historische Exemplare dieser Gattung waren etwa Pierre-Joseph Proudhon oder Michail Bakunin. „Rechte“ Anarchisten dagegen – die sich auch selbst als solche verstehen, Individualanarchisten oder „Anarchokapitalisten“ – traten, wie Murray Rothbard, wesentlich später, nämlich erst im zwanzigsten Jahrhundert, auf den Plan. Dagegen hätten die Herren Lysander Spooner, Henry Thoreau oder Max Stirner wohl vehement bestritten, Anarchisten zu sein.

Von einem Mann, der seine Hand an der Wiege der Occupy-Bewegung hatte und der von der Verwerflichkeit der Marktwirtschaft einerseits und der Korruption des politischen Systems der USA andererseits tief überzeugt ist, kann keine kritische Auseinadersetzung mit dem Thema „Occupy“ erwartet werden. Dafür liefert er hochinteressante Einblicke in die Welt dieser vermeintlich Unterprivilegierten, die sich zu einem, nach anfänglicher Zurückhaltung von den Hauptstrommedien (besonders in der Alten Welt) sehr wohlwollend kommentierten, kapitalismusfeindlichen Haufen zusammengefunden haben.

Graeber sieht in ihnen eine Mischung aus „klassischen Liberalen“ und ein „bunt zusammengewürfeltes Häufchen von Anarchisten und Marxisten“ versammelt. In der Tat scheint Occupy – im Unterschied zur Tea Party – ein recht heterogenes Gemenge von Frustrierten und Zukurzgekommenen zu vereinen, die sich im Wesentlichen durch zwei Affekte verbunden wissen: Neid und den Hass auf „die da oben“. Die da oben – auch das unterscheidet Occupy von der Tea Party – sind in ihrer Wahrnehmung nicht etwa Politbonzen und beamtete Staatsdiener, sondern das „eine Prozent“, dem angeblich fast der gesamte Reichtum der Nation gehört; Menschen also, die ihren Besitz, wenigstens zum größeren Teil, nicht Nepotismus und politischen Seilschaften, sondern ihrem Fleiß, ihrer Tüchtigkeit und ihrem wirtschaftlichem Geschick zu verdanken haben.

Wenn also die Occupy-Bewegten etwas am Staat stört, dann nur, dass es nicht genug davon gibt – den „Reichen“ also nicht genug von ihrem Wohlstand abgenommen und an sie – die „99 Prozent“ – umverteilt wird. Dem akademischen Lumpenproletariat (der Autor enthält sich der Verwendung dieses von Karl Marx erfundenen Begriffs) kommt bei Occupy eine wesentliche Bedeutung zu. Das ist kaum verwunderlich, da es in den USA „Gratisstudien“ wie in Europa nicht gibt. Folglich haben Studienabsolventen, die sich für Orchideenfächer entschieden haben, nicht über reiche Eltern verfügen und – Überraschung! – keine ihren hochgesteckten Erwartungen entsprechende Anstellung finden, mit der Rückzahlung ihrer Studienkredite naturgemäß große Probleme (dazu wird der Fall einer Literaturwissenschafterin zitiert).

Dass jene Geldhäuser, die Studienkredite vergeben haben und nun rigoros auf Rückzahlungen durch die Jungakademiker dringen, im Zuge von „Bankenrettungsaktionen“ mit Steuermitteln gestützt wurden und werden, befördert den Unmut dieser jungen Leute, was zu verstehen ist. Dass es allerdings die hohe Politik war, die die „Finanzkapitalisten“ erst zu jenen Monstern hochgepäppelt hat, die nun angeblich „too big to fail“ sind und deren Rettung nun die Schulden der Nation in Schwindel erregende Höhen befördert, scheint ihrer und der Aufmerksamkeit des Autors entgangen zu sein.

Im interessantesten Abschnitt des Buches, „Was, zum Teufel, ist Demokratie?“ kommt Graeber zu einigen – für einen Linken – bemerkenswerten Einsichten, was systembedingte Konstruktionsfehler der Demokratie angeht. Eher ermüdend dagegen fällt jener Abschnitt aus, der sich mit prozessoralen Fragen, wie solchen der Organisation und Abwicklung von Zusammenkünften, beschäftigt. Endlose, wohl organisierte, Palaver um des Kaisers Bart scheinen auch heute noch schlechthin das sinnstiftende Merkmal „basisdemokratischer“ Organisationen zu sein – da bildet Occupy Wallstreet keine Ausnahme.

Dass der Autor – wie die meisten selbsternannten Kapitalismuskritiker – keine Ahnung von der Funktionsweise einer arbeitsteiligen Wirtschaft zu haben scheint, bedarf kaum der Erwähnung. Besonders deutlich wird dieses Wissensdefizit, wenn er wohlwollend über einen gewissen Michael Albert schwadroniert, der einen detaillierten Plan ausgearbeitet hat, „wie eine moderne Wirtschaft ohne Geld nach basisdemokratischen Prinzipien funktionieren könnte.“ In Plastikfelle gehüllte Basisdemokraten, die in unbeheizten Höhlen Eier gegen Nägel und Ziegel gegen Semmeln tauschen – das wäre bestimmt spaßig! Die bemerkenswerte Erkenntnis, dass der „…Kommunismus (…) ohnehin Fundament jeder einvernehmlichen sozialen Beziehung ist.“ beseitigt die letzten Zweifel darüber, wes Geistes Kind hier am Werk ist. Sich weiter von der Realität zu entfernen, scheint kaum noch möglich zu sein.

David Graeber nennt sich Anarchist. Entscheidend ist allerdings nicht, wie jemand sich bezeichnet oder was er glaubt zu sein, sondern vielmehr, was er tatsächlich ist. Seine Begeisterung für das „Gemeineigentum“ teilt er mit den utopischen Sozialisten des 18. und 19. Jahrhunderts. Und wenn er – im persönlichen Wunschkatalog am Schluss seines Buches – „die Entfesselung politischen Verlangens“ und „eine Art Garantie für existenzielle Sicherheit“ fordert, dann riecht das schon stark nach Marx´ Credo „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“. Der Autor lebt also mit einem manifesten inneren Widerspruch, der einer Auflösung harrt: Orthodoxe Marxisten nämlich wollten mit (syndikalistischen) Anarchisten nicht nur nie etwas zu tun haben, sondern haben sie sogar – und zwar noch eher als ihren kapitalistischen Klassenfeind – vehement bekämpft. Was also ist er nun tatsächlich – Anarchist oder Kommunist? Fragt sich aus Sicht des Autors, mit den Worten Johann Nestroys: Wer ist stärker – i oder i?

Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.

Inside Occupy
David Graeber
Campus Verlag 2012
200 Seiten, broschiert
ISBN 978-3-593-39719-1
€ 14,99,-

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)
Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print



© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung