Ein Blick in die Migrationsstatistik und das Schicksal der Russlanddeutschen

Höchst aufschlussreich ist der jüngste Migrationsbericht für Deutschland. Im Europäischen Vergleich zeigt sich nämlich, dass es seit 2006 Hauptzielland von Zuzüglern ist. Im Jahr 2013 – für 2014 liegt noch kein endgültiger Jahresbericht vor – wurden in Deutschland gut 1,23 Millionen Zuzüge (ein Plus von 13,5 Prozent im Vergleich zu 2012: 1,08 Millionen) verzeichnet. Dem stand die Zahl der Fortzüge aus Deutschland (800.000) gegenüber, was die Migrationsstatistik als „Wanderungsgewinn“ von 430.000 Personen ausweist.

Ob dies tatsächlich ein „Gewinn“ für Deutschland ist, soll hier nicht bewertet werden. Fest steht, dass aus Polen 197.009 Zuzüge nach Deutschland und 125.399 Fortzüge nach Polen registriert worden sind, mithin ein Zuzugssaldo von 71.610 Personen.

Dies und anderes mehr hat unseren Diaristen Andreas Unterberger unter dem Titel „Die Polen wandern, die Griechen jammern“ am 10.2. 2015 zu einem vorzüglichen analytischen Tagebuch-Eintrag bewogen.

Dabei können die Angaben, welche zur Migration aus der Russischen Föderation (fortan: Russland) nach Deutschland vorliegen, kaum verblüffen: Waren es 2013 „nur“ 33.233 Personen, so dürfte die Zahl nach bislang vorliegenden Indikatoren 2014 auf mehr als 100.000 hochschnellen. (Die exakte Zahl wird erst der endgültige Migrationsbericht 2014 ausweisen.) Keinen Zweifel kann es über Gründe für die Abwanderung aus Russland geben: Die sich rasch verschlechternde Wirtschaftslage des Landes, vor allem aber der Krieg in der östlichen Ukraine, in den Russland entgegen offiziellen Verlautbarungen aus Moskau tief verwickelt ist.

Hinter der hochgeschnellten Zahl verbirgt sich jedoch auch eine Personengruppe, welche in den letzten Jahren kaum mehr publizistisch in Erscheinung getreten ist, weil sie – im Vergleich mit anderen Migranten- und Asylantengruppen – eine statistische Randerscheinung war. Im Gegensatz zu den späten 1980er und den gesamten 1990er Jahren, als aus den aus der untergegangenen Sowjetunion hervorgegangenen Staaten insgesamt bisher 2,3 Millionen „Sowjetdeutsche“ bzw. „Russlanddeutsche“ als sogenannte „Spätaussiedler“ in Deutschland aufgenommen und integriert worden sind. Das heißt, das sie vor allem aus Russland und der Ukraine sowie aus den mittelasiatischen Republiken Kasachstan, Kirgisien (Kyrgystan), Tadschikistan und Turkmenistan gekommen sind.

Die „Russlanddeutschen“ – unter diesem generalisierenden Begriff sollen diese Menschen unabhängig von ihrem historischen oder aktuellen Herkunftsgebiet im folgenden zusammenfassend bezeichnet werden – sind nach deutschem (Verfassungs-)Verständnis eine besondere Migrantengruppe. Es handelt sich um „Volksdeutsche“, um „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes".

Es sind Nachfahren der 1941 von Stalin aus ihren ehemaligen Siedlungsgebieten nach Mittelasien sowie Sibirien deportierten ethnischen Deutschen. Sie wohnten seit der (deutschen) Zarin Katharina der Großen an der unteren Wolga (Gebiet Saratow, der sogenannten „Wolgarepublik"), in der Ukraine, in Wolhynien, im Schwarzmeergebiet, sowie im Kaukasus.

Diese Menschen fluten seit 1985/86, seit den Lockerungen unter Gorbatschow, in die „Heimat ihrer Vorfahren" zurück. Diese Spätaussiedler kamen dann vor allem verstärkt seit der Nichteinhaltung der (vom Obersten Sowjet 1991 beschlossenen) Wiederherstellung besagter „Wolgarepublik". Sie hatte in der Sowjetunion von 1924 bis 1941 den Status einer „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen"  (ASSRdWD; russisch: ?????????? ????????? ???????????????? ?????????? ?????? ????????, sprich: Awtonomnaja Sowetskaja Sozialistitscheskaja Respublika Nemzew Powolschja).

Voraussetzung für die Aussiedlung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und für die Integration in die die Bundesrepublik ist ein zentral über das Bundesverwaltungsamt in Köln gesteuertes Verwaltungsverfahren, das jeder Antragsteller bei den jeweiligen deutschen Botschaften durchläuft, in Russland sowie in der Ukraine auch bei deutschen Generalkonsulaten.

Anfangs, als die jährlichen Aussiedlerzahlen enorm hoch waren – in den Jahren 1992 ff. waren es mehr als 220.000 Menschen pro Jahr – wurden sie bei Ankunft in Deutschland nach einem bevölkerungsstatistischen Verteilungsschlüssel auf die  Bundesländer verteilt. Als sich die Zahl verringerte, konnten sich die Ankömmlinge nach der „Erstaufnahme“ niederlassen, wo sie wollten. In der Regel war das dort, wo schon Verwandte oder frühere Nachbarn untergekommen waren.

Die Russlanddeutschen waren unter allen Völkern und Volksgruppen, die während der Herrschaft Stalins „repressiert“ - so der seit 1991 in Russland verwendete Sprachgebrauch – worden waren, die letzte Ethnie, deren Angehörigen man gestattete, an vor der Deportation bewohnte Siedlungsplätze zurückzukehren. Ihre Vorfahren hatten sich einst, dem Ruf Katharinas II. (1729 – 1796; Zarin seit 1762) folgend, in zwei großen Siedlerwellen an der Wolga, in der Ukraine, in Bessarabien, auf der Krim, am Schwarzen Meer, später in „Tochtersiedlungen“ im Kaukasus sowie im westsibirischen Altaj niedergelassen.

Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten sie alle einst von der Zarin eingeräumten und bis Alexander II. (1818 – 1881; Zar seit 1855), dem sogenannten „Zar-Befreier“ (er führte bedeutende Reformen durch), stets erneuerten Glaubens-, Steuer- und Rechtsprivilegien eingebüßt. Nach der Kriegserklärung Hitlers verbannte sie Stalin unter dem Vorwurf der „Spionage- und Zersetzungsarbeit für das Deutsche Reich“ in den asiatisch-sibirischen Raum, wo sie in der „Arbeitsarmee“ ein unsägliches Dasein in militarisierter Zwangsarbeit zu fristen hatten.

Obwohl die 1941 gegen sie erhobenen Beschuldigungen in 1955 und 1964 erlassenen Dekreten weitgehend für null und nichtig erklärt worden waren, kam es nicht wieder zur Wiederherstellung eines autonomen Gemeinwesens für die Rußlanddeutschen. Sie harrten vielmehr dort aus, wo sie sich mehr schlecht als recht eingerichtet hatten. Auch nach Chruschtschows Verdammung Stalins (XX. Parteitag der KPdSU 1956) mussten sie dort bleiben.

Am 30. August 1941 hatten alle in der ASSRdW sowie in den anderen Siedlungsgebieten der Russlanddeutschen gängigen Zeitungen auf den Titelseiten den Wortlaut eines Dokuments abgedruckt, das für alle Rußlanddeutschen im europäischen Teil der Sowjetunion den Verlust der Heimat, für viele von ihnen auch des Lebens bedeuten sollte. Es handelte sich um einen zwei Tage zuvor von Stalin unterzeichneten Ukas (Anordnung/Befehl), den „Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjet der UdSSR", der die „Umsiedlung" der volksdeutschen Bevölkerung verfügte.

Unter diesen Deutschen, hieß es in dem Ukas, gebe es Zehntausende Diversanten und Spione, die auf ein Zeichen aus dem Reich hin Bombenexplosionen auslösen würden. Die Sowjetdeutschen würden auch Feinden des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht Unterschlupf gewähren. Aus diesen Gründen sei die Sowjetmacht gezwungen, Strafmaßnahmen anzuwenden und die gesamte deutsche Bevölkerung umzusiedeln.

Der Erlass war psychologisch sorgfältig vorbereitet, seine Ausführung generalstabsmäßig geplant. So hatte etwa das NKWD [Volkskommissariat für innere Angelegenheiten], kurzum der sowjetische Geheimdienst, zuvor grobe Provokationen inszeniert. Im August 1941 setzte man Fallschirmspringer in deutscher Uniform in den wolgadeutschen Dörfern ab. Wer sie aufnahm, wurde standrechtlich erschossen.

Erste Zwangsumsiedlungen und Erschießungen gab es bereits wenige Tage nach Beginn des „Unternehmens Barbarossa“. Die massenhafte Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen begann am 2. September 1941 und war gut zwei Wochen später abgeschlossen. In die verlassenen Dörfer verfügte die Sowjetmacht russische, ukrainische, weißrussische und jüdische Familien, die aus den aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 der Sowjetunion anheimgefallenen Gebieten zwischen Baltikum und Schwarzmeer vor der vordringenden Wehrmacht gen Osten geflohen waren. Sie fanden bisweilen halbvolle Teller, gedeckte Tische und seit Tagen nicht mehr gefüttertes Vieh vor. Die ASSRdWD wurde per Dekret des Obersten Sowjet am 7. September 1941 aufgelöst und ist, manchen Anstrengungen zum Trotz, auch im nachsowjetischen Rußland nicht wieder errichtet worden.

Boris Jelzin ermunterte als Präsident zunächst nichtrussische Nationalitäten, sich „innerhalb Russlands soviel Souveränität zu nehmen wie möglich“. Er erteilte aber bei einem Besuch in Saratow – trotz eines vorherigen deutsch-russischen Protokolls der Wiedererrichtung bei finanzieller Alimentierung aus Berlin – einer Autonomie der Wolgadeutschen eine deutliche Absage.

Nach der Deportation 1941 waren die deutschen Dörfer und Siedlungen mit russischen Namen versehen, die Denkmäler und Friedhöfe zerstört worden. Für Medien, Statistiken, Geschichtsbücher und Lexika waren jegliche Angaben über die deutsche Minderheit tabu. Die ????? (sprich: njemzi), einst als diszipliniert, fleißig, gewissenhaft und tolerant gepriesen, wurden nun als Verräter, Spione, Helfershelfer Hitlers und Feinde des Sowjetvolkes verteufelt. Die „gemeinen Kränkungen", die Beschimpfung der „Fritze" oder „Faschisten“ waren für die meisten Russlanddeutschen so wenig erträglich wie die körperlichen Qualen in den Lagern.

In den Verbannungsorten fanden sie sich bald schon in Gesellschaft mit anderen „Repressierten“. Im November 1943 ließ Stalin die Karatschajer deportieren; im Dezember die Kalmücken; im März 1944 die Tschetschenen und Inguschen; im April desselben Jahres die Balkaren und im Mai 1944 dann die Krimtataren.

Millionen Menschen verschwanden im asiatischen Teil der Sowjetunion, ohne dass die sowjetische Öffentlichkeit etwas davon erfuhr. Erst im Juni 1946 veröffentlichte die damalige Regierungszeitung „Iswestija" den Ukas über die Auflösung der nationalen Republiken der Tschetschenen, Inguschen und Krimtataren wegen „Kollaboration mit dem deutschen Feind“.

Das Lagerregime für die Deutschen und damit verbunden der Dienst in der „Arbeitsarmee“ wurden im Januar 1946 aufgehoben. In seiner „Geheimrede" 1956 rehabilitierte Chruschtschow alle zwangsumgesiedelten Völker, bis auf zwei: die Deutschen und die Krimtataren. Politisch rehabilitiert wurden die Deutschen erst am 29. August 1964, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Zwangsumsiedlung.

Seitdem hatten sie sich um die Wiederherstellung ihrer autonomen Republik bemüht. 1973 erhielten sie zwar das Recht, sich im Gebiet der früheren Wolgarepublik anzusiedeln. Doch in großer Zahl zurückkehren konnten sie nicht: In ihren Häusern wohnten andere. Wer sich dennoch an der Wolga niederließ, erlebte Kränkungen, Schikane und Feindschaft. Einige Deutsche zogen in den Oblast (das Gebiet) Kaliningrad, den Nordteil des einstigen Ostpreußen und der früheren Hauptstadt Königsberg. Doch auch dort fühlten sie sich nicht zu Hause und suchten alsbald den Weg gen Deutschland.

Längst ist der Kampf um die Wolgarepublik aufgegeben. Auch deutsche Investitionen in Höhe von damals fast einer Milliarde Mark für den Bau von Siedlungen in Westsibirien, wo zwei „autonome deutsche Rayons“ (Bezirke) entstanden, in denen Deutsche aus den Gebieten Karaganda, Barnaul, Omsk, dem Ural sowie aus Kasachstan, Kirgisien und Tadschikistan „kompakt" leben sollten, konnten die Aussiedlung nicht unterbinden. Für die meisten Bewohner waren die auf grünen Wiesen errichteten Dörfer nur eine Zwischenstation auf ihrem Zug gen Westen. Wer eben konnte/kann, übersiedelt/e nach Deutschland.

Mehr als 2,3 Millionen Rußlanddeutsche leben bereits als Aussiedler in der Heimat ihrer Vorvorfahren. Die jetzt noch kommen, sind solche, die sich längst den deutschen Eingliederungsschein im Verwaltungsverfahren beschafft hatten, die aber – weil es ihnen an Ihren bisherigen Wohnstätten „relativ gut" ging – vorerst geblieben waren. Sie ziehen es nun aber offenkundig vor, aufgrund der sich verdüsternden ökonomischen Lage und der verschlechterten Ost-West-Beziehungen sich doch „ins sichere Deutschland" aufzumachen. Wo sie mancherorts nicht willkommen sind – und nicht selten „Russen“ geheißen werden, was sie schmerzt.

Der Verfasser ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.

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