Signal aus Edinburgh?

Nicht nur die Unabhängigkeitsbewegungen in Europa blicken der Volksabstimmung in Schottland gespannt entgegen. Gut vier Millionen wahlberechtigte Schotten befinden am 18. September über die Unabhängigkeit ihres Landes.

Dem Ausgang dieses Referendums, das nach langem Hin und Her vor zwei Jahren zwischen dem schottischen Regierungschef Alex Salmond und Premierminister David Cameron vertraglich vereinbart wurde, blicken nicht nur Großbritannien und die Europäische Union mit Sorge entgegen. Auch Madrid und Rom sind die Vorgänge jenseits des Ärmelkanals alles andere als geheuer, gewärtigen doch Spanien und Italien gleichlautendes sezessionistisches Verlangen.

Würden die Schotten mehrheitlich die ihnen alles entscheidende Frage „Should Scotland be an independent country?” mit „Yes“ beantworten, so gäbe dies vielen anderen mächtigen Auftrieb: Den um Unabhängigkeit ringenden Katalanen (nicht zu vergessen auch den Basken) in Spanien sowie den nach Eigenstaatlichkeit strebenden Lombarden und Venetern in Italien. Und im südlichen, von Italien 1918 waffenstillstandswidrig annektierten (und Rom im „Friedensvertrag“ von St. Germain-en-Laye zugesprochenen) Teil Tirols erhoffen sich die „Los-von-Rom“-Parteien vom Ausgang des Schotten-Referendums einen begünstigenden Verstärker-Efffekt.

Wegen der Brisanz des Themas für ihre Souveränität nehmen ethnisch gemischte „National“-Staaten wie Belgien (Flamen, Wallonen, Eupen-Malmedy-Deutsche), oder Staaten mit bedeutenden nationalen Minderheiten wie Rumänien (Magyaren) die eventuelle „Sprengkraft“ eines möglichen Mehrheitsvotums der Schotten fest in den Blick. Selbst ein „Übergreifen“ des Erfolgs der schottischen Unabhängigkeitsbewegung auf den Nordwesten des zentralistisch regierten (und verwalteten) Frankreich wäre nicht wirklich auszuschließen. In der Bretagne verschaffen sich die („britischen“) Bretonen nicht erst seit dem Amtsantritt des glücklosen Präsidenten François Hollande mehr Eigenständigkeitsgehör denn je zuvor. Und wer wollte gänzlich in Abrede stellen, dass nicht auch Korsen und französische Basken in Aquitanien ein mögliches Signal aus Edinburgh hören und sich zunutze machen könnten.

Wenn es nach Alex Salmond und dessen Nationalpartei (SNP) geht, die seit der Wahl 2011 über 69 von 129 Sitzen im Parlament zu Edinburgh verfügt und die das Vorhaben am vehementesten verficht, so ist die Sache klar: Kommt in der Volksabstimmung eine Mehrheit zustande, wird Schottland, dessen 5,3 Millionen Einwohner zehn Prozent der britischen Bevölkerung ausmachen, am 24. März 2016 unabhängig.

Es wäre dies der Jahrestag der „Vereinigung der Kronen": Am 24. März 1603 fiel Schottlands König James VI. (aus dem Hause Stuart) nach dem Tod der kinderlos verstorbenen Elisabeth I. als James I. auch die Herrschaft über England und Irland zu. Der schottischen Volksabstimmung würden somit eineinhalb Jahre Trennungsverhandlungen und schließlich die Eigenstaatlichkeit Schottlands folgen. Etwa wie im Falle der zwischen Václav Klaus (Tschechien) und Vladimír Me?iar (Slowakei) ausverhandelten und mittels Parlamentsbeschlusses (ohne vorherige Volksabstimmung) entschiedenen „friedlichen Auflösung“ der ?SFR Ende 1992.

Laut Umfragen sind die Chancen dafür allerdings nicht gar zu rosig: 36 Prozent der Ende Juni Befragten waren für die Unabhängigkeit, 44 Prozent dagegen, und immerhin 20 Prozent wussten demnach noch nicht, wofür sie sich entscheiden. Das hängt mit der einzig gestellten Referendumsfrage „Soll Schottland ein unabhängiger Staat sein?“ zusammen. Diese ist sozusagen die „Reduktionsform“ dessen, was ursprünglich Intention der überparteilichen Organisation „Yes Scotland" war.

Die Einigung Salmons, dessen SNP den „Verbleib Schottlands unter der Krone und im Pfund-Sterling“ befürwortet, mit Cameron ist nur über diese eine Frage zustande gekommen. Wäre es nach „Yes Scotland" gegangen, so hätte am 18. September auch über „die gänzliche wirtschaftliche und finanzielle Unabhängigkeit vom Britischen Königreich“ befunden werden sollen. Demoskopischen Befunden zufolge würden bei einem derartigen zusätzlich in Frageform gekleideten Referendumsbestandteil „wohl mehr als 90 Prozent der Schotten ganz klar für die Unabhängigkeit“ stimmen.

Denn es sind gerade die wirtschaflichen Faktoren, die für vielfältige Konflikte zwischen London und Edinburgh sorgen. So verfügt Schottland derzeit nicht über die Kontrolle über die eigene Wirtschaft. Es ist die Regierung in London, die die Einnahmen aus der Nordsee-Ölförderung samt und sonders einstreicht.

Edinburgh möchte selbst über das ökonomische Wachstum Schottlands entscheiden, will über die Förderung erneuerbarer Energien bis zu 40.000 neue Arbeitsplätze schaffen und die neue Wachstumsbranche Tourismus fördern. Gegenwärtig fließt alles in Schottland Erwirtschaftete zur Gänze in den britischen Staatshaushalt. Was Edinburgh aus London – wegen der devolutionären Übertragung administrativer Funktionen an schottische Körperschaften in den 1990er Jahren – zurück erhält, steht in keinem Verhältnis zu dem, was die fünf Millionen Schotten an jährlicher Wertschöpfung erbringen. Zwar darf das schottische Regionalparlament beispielsweise in der Gesundheits- und in der Kulturpolitik eigenständig Gesetze erlassen, doch Westminster verfügt in allem über ein Überstimmungsrecht.

Hierin ähnelt die „Autonomie“ Schottlands jener Südtirols. Weshalb dort die „Los-von-Rom“-Parteien Parallelen sehen und mit den schottischen Loslösungsbefürwortern mitfiebern. Wenngleich die ökonomische Situation Großbritanniens – just wegen der Öleinnahmen – besser ist als jene Italiens, das seit den 1980er Jahren einen Staatsschuldenberg vor sich herschiebt, der mittlerweile auf 135 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angewachsen ist. Für die auf Selbstbestimmung sinnenden Südtiroler Oppositionsparteien muss – trotz (längst beschnittener) „Selbstverwaltung“ – aus italienischer Schuldenkrise und römischem Zentralismus zwangsläufig der Niedergang ihrer mehr und mehr der Italianitá anheimfallenden „Provincia autonoma di Bolzano – Alto Adige“ folgen.

War im „Mailänder Abkommen“ (2010) vereinbart, dass Rom von den gemäß Autonomiebestimmung an Bozen rückzuerstattenden 90 Prozent des Südtiroler Steueraufkommens jährlich 518 Millionen Euro einbehalten durfte, so behält es mittlerweile nahezu die dreifache Summe ein. Ohne dass „allfällige Änderungen auf dem Konsultationswege zwischen Rom und Bozen“ vorgenommen worden wären, wie eigentlich im Abkommen festgelegt. Dadurch wird nicht nur eine ihrer tragenden Säulen brüchig, sondern die Autonomie als solche entwertet. Das ist Wasser auf die Mühlen derer, die gemäß ihrer Losung „Süd-Tirol ist nicht Italien“ auf die Trennung vom Stiefelstaat hinarbeiten.

Sollte indes das Referendum in Schottland so ausgehen, dass sich „Ja“ und „Nein“ ungefähr die Waage halten, dann wird es gewiss Verhandlungen über den Ausbau der dortigen autonomen Befugnisse geben. Alle gesamtstaatlich-britischen Parteien – Tories, Labour, Liberaldemokraten – haben sich schon darauf festgelegt, dass die Schotten zusätzliche und weiter als bisher reichende Selbstverwaltungsrechte erhalten sollen. So beispielsweise die Steuerhoheit. Dass dann Waliser, Nordiren und Engländer ähnliche Ansprüche stellen werden, dürfte klar sein.

Votieren die schottischen Wähler tatsächlich mehrheitlich gegen die Unabhängigkeit, wäre dies wohl vor allem für Premierminister Cameron von Vorteil. Denn im ganzen Vereinigten Königreich dürfte sich dann die politische Stimmung zu seinen Gunsten verschieben und den Tories einen aussichtsreichen Wechsel ins Wahljahr 2015 verheißen. Wie sie sich auch am 18. September entscheiden: Das Votum der Schotten wird Großbritannien verändern und nicht ohne Einfluss auf Unabhängigkeitsbewegungen in Europa bleiben.

Der Verfasser ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.

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