Das Ringen um einen lebenswerten Liberalismus

2010 konnte das in vielerlei Hinsicht bedeutendste wirtschaftsphilosophische Werk des 20. Jahrhunderts seinen 50. Geburtstag feiern: Friedrich August von Hayeks "Constitution of Liberty" erschien 1960 zunächst im Original auf Englisch, erst zehn Jahre später dann (und in dem bei Hayek immer eine besondere Fundgrube darstellenden Anmerkungsapparat noch etwas angereichert) als "Verfassung der Freiheit" auf Deutsch.


Es ist nicht zu hoch gegriffen, es als das für Liberale wichtigste Buch seit John Stuart Mills fast genau hundert Jahre älterem "On Liberty" (1859) zu bezeichnen. Es war wichtig im Zeitpunkt des Erscheinens, denn der Liberalismus galt damals als veraltet, und es brauchte einigen Mut und viel tief wurzelnde Überzeugung, eine solch umfassende Wiederbelebung des klassischen Liberalismus zu unternehmen, wie dies Hayek mit der "Verfassung der Freiheit" unternahm. Und es war und ist wichtig wegen seiner nachhaltigen Wirkung auf das liberale Denken der letzten Jahrzehnte, nicht nur unter Intellektuellen, sondern nicht zuletzt in der praktischen Politik, wenn man etwa an Ronald Reagan, Margret Thatcher oder Vaclav Klaus denkt.

Das Opus magnum Hayeks – neben den drei Bänden von "Recht, Gesetzgebung und Freiheit" – hat naturgemäß nie die Popularität von Hayeks größtem Erfolg, "Der Weg zur Knechtschaft", erlangt. Diese relativ kurze Schrift aus dem Jahre 1944 wurde gleich zu Beginn dank der Verbreitung durch "Reader's Digest" zum Bestseller, und sie erfreut sich in Wellen immer wieder größter Beliebtheit. Zuletzt hat sie es im Umfeld der amerikanischen Midterm-Wahlen 2010 und der Tea-Party-Bewegung gar auf der Bestsellerliste von Amazon.com in den USA auf den ersten Platz geschafft – keine schlechte Leistung für einen als neoliberal verschrienen Ökonomen.

Anspruchsvoller Realismus

Einen solchen Zuspruch wird die "Verfassung der Freiheit" natürlich nie erhalten. Dafür ist sie schlicht zu anspruchsvoll. Das Werk ist von einer solchen Breite, dass es alle disziplinären Grenzen sprengt. Das ist auch ganz explizit die Absicht des Autors, wie er in der Einleitung schreibt, denn die Verflechtung der verschiedenen fachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Freiheit stehe eben immer noch aus. So ist es denn kaum verwunderlich, dass sich der Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften nur zu etwa 20 Prozent auf Ökonomen beruft, und daneben Philosophen, Juristen, Historiker, Politologen und Soziologen reichlich zu Wort kommen lässt.

Zugleich ist das Werk von großer Tiefe der Gedanken und zeugt von einer beeindruckenden Belesenheit und Bildung. Es ist keine streng logische Abhandlung, sondern auf über 500 Seiten ein permanentes intellektuelles Ringen um das Verständnis von dem, was Freiheit ausmacht, was sie bedroht und was sie dauerhaft sichern kann.

Dass es dabei nicht ohne Widersprüche abgehen kann, versteht sich für ein Werk von solchem Umfang, das zudem der Realität gerecht werden will, eigentlich von selbst. So bekunden vor allem viele sogenannte Libertäre Mühe mit Hayeks Schrift, denn sie ist eben im Gegensatz zu dem, was staatsgläubige Kritiker behaupten, alles andere als ein radikal-liberales Manifest, sondern sie ist der Versuch, realistische, auf die gewachsenen Strukturen Rücksicht nehmende Lösungen zu entwickeln, die Freiheit lebenswert machen und die bei aller Betonung der individuellen Verantwortung das Zusammenleben in der Gemeinschaft nicht ausblenden.

Deshalb gehört für ihn zu einer freien Gesellschaft auch ganz selbstverständlich die Freiheit, sich gemeinsame Regeln zu geben. Freiheit bedeutet für ihn nicht, ohne Regeln zu leben, sondern lediglich, dass diese Regeln nach einem allgemein gültigen, die Bürgersouveränität achtenden Verfahren durch die Gemeinschaft festgelegt werden müssen. Man könnte auch sagen, dass man dem Werk die europäische Herkunft und Erfahrung des Autors anmerkt, denn in seinen wertkonservativen Ansätzen und in seiner Bejahung der sozialen Sicherung oder der Raumplanung, um nur wenige Beispiele zu nennen, steckt viel von jenem alten Europa, das Hayek geprägt hat.

Offenheit für Unvorhersehbares

Wer "Die Verfassung der Freiheit" heute zur Hand nimmt, stellt zunächst fast mit Erschütterung fest, wie wenig Staub das Werk angesetzt hat – Erschütterung deswegen, weil sehr vieles von dem, was Hayek beunruhigt hat, nach wie vor gilt, weil seine klärenden Gedanken noch wenig gefruchtet haben. Nur einige wenige davon können hier in Erinnerung gerufen werden. Viele andere werden von den weiteren Autoren dieser Hommage an die "Verfassung der Freiheit" ausführlich thematisiert.

Fast zentral ist wohl das Konzept der negativen Freiheit, denn vom Freiheitsbegriff hängt letztlich alles ab, nicht zuletzt auch das politische Handeln. Hayek kritisiert vehement und überzeugend die Gleichsetzung von Freiheit mit der Macht, alles zu tun, was man möchte, wie man sie bei Voltaire findet. Daraus wachse fast unvermeidlich die Gleichsetzung von Freiheit und Wohlstand und der Versuch, im Namen dieses falschen Freiheitsbegriffes die Freiheit im ursprünglichen Sinne zu beschränken, nämlich Wohlstand umzuverteilen mit dem Argument, das mache die "Armen" freier, die "Reichen" aber nicht wesentlich unfreier. Für Hayek bedeutet Freiheit die Abwesenheit von willkürlichem Zwang durch andere, nicht die Abwesenheit von natürlichen Widrigkeiten oder die Abwesenheit aller Übel. Freiheit kann in seinen Worten bedeuten, "zu hungern, kostspielige Irrtümer zu begehen oder gewaltige Risiken einzugehen" (VdF, S. 25iii).

Eine weitere wichtige Botschaft der "Verfassung der Freiheit" ist die Offenheit für das Unvorhersehbare. Hayek ist in diesem Werk noch weit weg von seinen Altersdepressionen, er ist voller Optimismus, Fortschrittsglaube und Risikobereitschaft, ohne die Traditionen mutwillig und ungeprüft über Bord zu werfen. Seine fulminante Kritik am Konservatismus, die auch im vorliegenden Buch, wie in der "Verfassung der Freiheit" selbst, den krönenden Abschluss bildet, ist über weite Strecken eine Kritik am Strukturkonservatismus.

Wenn er schreibt, Konservative hätten Mühe, sich vorzustellen, dass es auf Märkten auch ohne bewusste Lenkung ein Gleichgewicht gebe, sie fühlten sich nur sicher, wenn eine «höhere Weisheit» die Veränderungen beobachte und in Ordnung halte, und sie hätten nichts gegen Zwang, solange ihnen die angestrebten Zwecke dieses Zwangs richtig erschienen, ist schnell ersichtlich, dass es diese Art von Konservativen in allen politischen Parteien gibt, in sozialistischen genauso wie in sogenannt liberalen.

Missverständnisse um Moral und Demokratie

Ein weit verbreitetes Missverständnis – oder ist es eher eine gezielte Polemik? – lautet, Hayeks Philosophie sei geradezu amoralisch. Es rührt daher, dass Hayek zwar immer betont, dass Freiheit ohne tief verwurzelte moralische Überzeugungen nicht Bestand haben kann, dass er sich aber gleichzeitig gegen ein Erzwingen der Moral durch den Staat mit seinem Gewaltmonopol stellt.

Gründe dafür gibt es viele: Erstens ist Zwang per defintionem etwas, das man in einer freiheitlichen Gesellschaft vermeiden bzw. auf ein Minimum beschränken sollte. Zweitens muss es, angesichts der Beschränktheit menschlicher Vernunft, die Möglichkeit des Übertretens moralischer Regeln geben, damit evolutive Entwicklung möglich wird. Drittens kann, wie schon Friedrich Schiller wusste, nur Handeln in Freiheit moralisch genannt werden; wenn ein Verhalten "amoralisch" genannt werden muss, dann viel eher jedes erzwungene Handeln, und diene es noch so sehr vermeintlich guten Zwecken.

Viertens schliesslich ist, abgesehen einmal von abgrundtiefer Kriminalität, gerade eine freie, wettbewerblich organisierte Gesellschaft vermutlich die bessere Sicherung gegen schlechte Menschen bzw. die schlechten Eigenschaften der Menschen als der staatliche Zwang; der Wettbewerb bringt die Menschen jedenfalls dazu, jenseits des reinen Lustprinzips jene Güter und Dienste anzubieten, die von den anderen Menschen nachgefragt werden.

Missverständnisse gibt es auch oft über Hayeks Demokratie-Kritik. Das Zitat von Lord Acton: "Das Dogma, dass absolute Macht durch die Hypothese, dass sie vom Volk ausgeht, ebenso gesetzmäßig sein kann wie verfassungsmäßige Freiheit, begann … den Himmel zu verdunkeln", das er an den Anfang seines Kapitels über den "Verfall des Rechts" (VdF, S. 319) stellt, zeigt, dass es ihm mit seiner Kritik an vielen Entwicklungen in den westlichen Demokratien nicht um die Demokratie an sich, sondern um die unbeschränkte Regierung geht.

Für ihn wäre die Macht, die in modernen Demokratien die Regierung und die Verwaltung besitzen, noch unerträglicher, wenn sie sich in den Händen einer kleinen, womöglich feudalen Elite befände. Aber auch so geht Hayek diese Macht zu weit, weil nach dem Grundsatz der Subsidiarität das Kollektiv nicht fast alles, sondern nur das unbedingt Nötige entscheiden sollte. In seinen Augen kann daher auch eine Demokratie totalitäre Gewalt ausüben, können auch demokratisch erlassene Gesetze zutiefst unliberal sein. So stößt sich Hayek etwa daran, dass in Demokratien in der Steuerpolitik eine Mehrheit einer Minderheit (von Reichen) fast jede Last auferlegen könnte, die sie für richtig hält.

Der moderne Belästigungsstaat

So wertvoll die "Verfassung der Freiheit" heute noch ist, kann sie natürlich nicht verleugnen, dass sie Mitte des letzten Jahrhunderts geschrieben worden ist. Welche Themen fehlen? Und was würde Hayek heute deutlicher aufgreifen als vor fünfzig Jahren? Man könnte eine lange Liste erstellen, vom Klimawandel bis zum Terrorismus, von der Explosion der Gesundheitskosten bis zur Alterung der reichen Industriestaaten. Zu all diesen Fragen gibt es liberale Antworten, aber nicht alle Fragen stellen die gleich große Herausforderung und Gefährdung für eine liberale Gesellschaft dar.

Hier sei daher, etwas jenseits der üblichen Themenfelder, an oberster Stelle die freiheitsbeschränkende Wirkung der "political correctness" genannt. Sie wäre mit ihren vielen Facetten ein typisch Hayek'sches Thema. Und sie widerspricht geradezu fundamental der Vielfalt und der Offenheit für das Abweichende, für das Experiment, die im Zentrum einer jeden liberalen Ordnung stehen und die für Hayek aus seinem Verständnis von Erkenntnisfortschritt und Wissenschaft heraus so wichtig waren.

Damit verwandt ist das, was man den "Belästigungsstaat" nennen könnte. Während Hayek darlegt, wie der Staat mit der Gießkanne Wohlfahrtspolitik betreibt und damit die Freiheit gefährdet, ist der Staat inzwischen längst einen Schritt weiter gegangen. Er mischt sich in paternalistischer Manier fürsorglich in fast alle Lebensbereiche ein, sagt ihnen, was für sie gut und schlecht ist, schreibt ihnen vor, wie sie zu leben haben. Noch wird dies meist mit externen Effekten auf dritte begründet, aber das Orwellsche Schreckensszenario der totalen, angeblich gut gemeinten Kontrolle über das ganze private Leben scheint immer näher zu rücken.

Intellektuelle Demut

Auch die europäische Integration findet in der "Verfassung der Freiheit" kaum statt. Allerdings lässt sich, wie auch bei den meisten anderen Themen, unschwer erraten, was Hayek von ihr hielte. Seine Sympathie gehört immer dem Wettbewerb, keineswegs nur bei Gütern und Dienstleistungen, sondern ganz explizit auch bei Währungen und selbst bei Gemeinwesen. Strategische Visionen eines geeinten, starken und auf der Weltbühne ebenbürtig mit den USA und China mitspielenden Europa wären ihm wohl eher fremd.

Im Zentrum seines Denkens steht nur eines: Die (negative) Freiheit der Individuen. Sie wird, wie er in der "Verfassung der Freiheit" so überzeugend darlegt, am besten gesichert durch eine Demokratie, die in ihrer Macht beschränkt ist, durch Föderalismus und Wettbewerb der Gebietskörperschaften auf allen Ebenen, durch Rechtsstaatlichkeit, vor allem aber durch jene demütige Einstellung, mit der Hayek die Einleitung zu seinem Buch abschließt. "Mit begrenzteren Zielen, mehr Geduld und Bescheidenheit werden wir vielleicht weiter und schneller vorwärtskommen als unter der Führung eines stolzen und höchst anmaßenden Vertrauens auf die transzendente Weisheit unseres Zeitalters und seiner Urteilskraft." (VdF, S. 9)

Gerhard Schwarz ist Österreicher und war viele Jahre Ressortleiter und stellvertretender Chefredakteur bei der Neuen Zürcher Zeitung. Er ist heute Direktor des in der Schweiz führenden liberalen und marktwirtschaftlichen Think Tanks Avenir Suisse. Dieser Beitrag entstammt dem Band "Das Ringen um die Freiheit – ,Die Verfassung der Freiheit‘ nach 50 Jahren" (herausgegeben von Gerhard Schwarz und Michael Wohlgemuth, "Verlag Neue Zürcher Zeitung" in Zusammenarbeit mit der "progress foundation", an dem auch Tagebuchautor Andreas Unterberger mitgewirkt hat). Das Buch reflektiert 50 Jahre nach dem Erscheinen des Hauptwerkes des österreichischen Nobelpreisträgers über dessen heutige Bedeutung angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforderungen.

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