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Afghanistan: Es wäre Zeit, mit der Naivität aufzuhören

Von Tag zu Tag wird klarer: Die Hoffnungen, die nach zwanzig Jahren an die Macht zurückgekehrten Taliban wären inzwischen vernünftiger und gemäßigter geworden, waren total naiv. Trotzdem denkt die EU schon wieder daran, ihnen Geld zu geben. Genauso naiv wie die heutigen Wunschträume waren aber auch die Intentionen des Westens bei seinen zwanzigjährigen Kämpfen in Afghanistan. Ebenfalls naiv sind die Versuche des amerikanischen Präsidenten, vom Debakel in Afghanistan abzulenken.

Joe Biden tat dies in den letzten Stunden insbesondere durch die großangelegte Inszenierung des Gedenkens an die 3000 Terrortoten, die vor 20 Jahren radikalen Islamisten zum Opfer gefallen sind. Dabei wurde zwar ergreifend an die Schicksale der Opfer erinnert. Aber der krampfhafte Versuch von Biden samt der um ihn gesammelten Vorgänger (soweit sie seiner Partei angehören), durch das Gedenken vom "Krieg gegen den Terror" abzulenken, ist kräftig missglückt. Die Gedenkfeiern haben viele erst so richtig daran erinnert, dass der Krieg in Afghanistan ja genau als Antwort auf den Anschlag vom 11. September 2001 begonnen worden ist.

Das Gedenken an diesen Anschlag ist auch insofern verlogen, als dabei immer nur nebulos von "Terror" gesprochen wird. "Terror" heißt aber auf Lateinisch nur allgemein-diffus "Schrecken". Dadurch versuchen Biden&Co zu verwischen, dass der damalige Anschlag wie auch die vielen folgenden quer über den Erdball stets einen direkten Zusammenhang mit dem Islam haben.

Naive Selbstberuhigungs-Versuche waren auch die Annahmen, dass die Taliban menschlicher geworden wären. Tägliche Schreckensberichte beweisen, dass sie eine mittelalterliche Bande von frauenverachtenden Stammeskriegern geblieben sind. Überfälle solcher Banden haben seit Menschengedenken den zivilisierten Teil der Menschheit immer wieder mit verheerenden Katastrophen heimgesucht, wenn sich dieser nicht zu verteidigen verstanden hat. Vandalen, Hunnen, Mongolen etwa heißen die eigentlichen Stichwörter, die bis heute traumatische Spuren im Kollektivgedächtnis hinterlassen haben.

Bei den Taliban ist neben ihrer mittelalterlichen (Un-)Kultur und dem Islam noch ein dritter Faktor prägend: die klare Verankerung bei einem der afghanischen Stämme. Das macht die Zukunftsperspektiven für die anderen Stämme, aber auch für die kleine Schicht von Afghanen, die den Schritt in die moderne Zivilisation geschafft haben, besonders tragisch.

Die historische Erfahrung zeigt: Die Hoffnung, dass sich solche atavistische Gewalt im Lauf der Zeit wie von selber zivilisiert, hat sich zwar des Öfteren realisiert. Aber das hat immer Generationen gedauert, bis aus brutalen Raubrittern ein versnobter Hochadel geworden ist.

Daher ist der Glaube, binnen weniger Jahre aus Afghanistan eine zivilisierte, moderne und rechtsstaatliche Demokratie machen zu können, die dritte und wohl allergrößte Naivität rund um jenes Land. Hielten und halten doch viele Afghanen, weit über die nun siegreichen Stammeskrieger hinaus, Verhaltensweisen, die im Islam und damit im siebenten Jahrhundert wurzeln, für akzeptabel und richtig: wie Gewalt gegen Frauen, wie Ehrenmorde, wie Gewalt im Dienste der Religion, wie Entrechtung Anders- oder Nichtgläubiger, wie die zwangsweise Ganzverhüllung von Frauen.

Die Lektion für ihre Naivität, aber auch den guten Willen der Amerikaner ist bitter, aber eindeutig: Ein solches "Nation Building" ist ein fast aussichtsloses Vorhaben. Ein Volk, eine Kultur lässt sich nicht durch andere Nationen, durch Besatzer umerziehen, es sei denn, ihm würde mit großer Brutalität über lange Zeit die eigene Identität überhaupt geraubt. Und selbst das braucht viele, viele Generationen. Siehe das weitgehende Scheitern der vielfältigen brutalen, liberalen, wie auch liebevollen Versuche, etwa die europäischen Roma, die australischen Aborigines oder die amerikanischen Ureinwohner zu integrieren. Siehe auch das bisherige Scheitern der Chinesen, aus den Tibetanern oder Uiguren gehorsame Untertanen zu machen.

Die Amerikaner wollten die Afghanen im Gegensatz zu den Chinesen gewiss nicht unterjochen. Sie sind aber einem anderen fatalen Irrtum unterlegen, der in dem an vielen Universitäten verzapften Gleichheitsdogma wurzelt. Dort glauben viele nämlich ganz naiv, dass die Menschen bis auf ein paar unwesentliche Details völlig gleich wären. Dass es keine genetischen oder umweltbedingte und kulturelle Faktoren mit großer und langfristiger Wirkung gibt.  

Die Anhänger des Gleichheitsdogmas verwechseln die gleiche Würde der Menschen ­­– in der nichtislamischen Welt seit dem Christentum unbestrittener gemeinsamer Wert ­– mit einer Ergebnisgleichheit. Sie haben geglaubt und glauben im Grund noch immer, dass man nur irgendwelche bösen Diktatoren entfernen müsste, dass man nur die bösen alten Männer eliminieren müsste, dass man einem Volk nur Schulen, Lesen und Schreiben beibringen und ihm eine Verfassung und freie Wahlen geben müsste – und schon funktioniert alles.

Viele wissenschaftliche und politisch tätige Ideologen verdrängen aus lauter Political Correctness, dass es – jenseits der gleichen Würde und des gleichen Werts aller Menschen – unglaublich starke kulturelle Determinanten gibt, die menschliches Verhalten weit stärker über Generationen prägen und unterschiedlich machen denn alle Wertekurse und Lehrstunden über demokratisch-liberale Inhalte. 

Dem Gleichheitsirrtum sind ja auch in Europa viele Richter und fast alle Linksparteien (mit löblichen Ausnahmen von Dänemark bis zum Burgenland) verfallen. Sie glauben allen Ernstes, man könne die vielen Hunderttausend (in Österreich) beziehungsweise Millionen (in ganz Westeuropa) Immigranten aus fremden Kulturen oder Religionen mit einem totalitären Machtanspruch zu integrierbaren Teilnehmern einer modernen toleranten Gesellschaft machen. Das gelingt nur bei einer Minderheit, etwa wenn Kinder von klein auf ganz in westlichen Familien aufwachsen. Das kann aber bei der großen Zahl der Zuwanderer aus Asien und Afrika niemals gelingen, die daher vielfach in Europa sofort zu abgeschlossenen Drittgesellschaften zusammengefunden haben.

Solche antiwestlichen (Dritt-)Gesellschaften gibt es nicht nur in Europa. Die gibt es natürlich noch mit viel stärkerem Kollektivdruck in Ländern wie Afghanistan. Auch dort haben es jene wenigen Afghanen, die den Sinn und die intellektuelle Überlegenheit des westlichen Weges erkannt und geschätzt haben, extrem schwer gehabt. Und jetzt nach dem Umsturz haben sie es natürlich noch viel schwerer, da die allerrückständigsten Elemente ihrer Kultur nun totalitär herrschen können. Die bisweilen aufflackernden Zeichen des Widerstandes dieser Afghanen gegen die neuen Herrscher sind bewundernswert, aber wohl aussichtslos.

Mit großer Wahrscheinlichkeit können sich solche Gesellschaften nur von innen heraus wandeln (wenn überhaupt). Man denke nur daran, wie es vom 18. bis ins 20. Jahrhundert in Österreich gedauert hat, bis sich liberale Rechtsgrundsätze durchgesetzt haben. Dabei konnten sie hierzulande schon damals auf einer weitgehenden Alphabetisierung, einer funktionierenden Schulbildung, auf funktionierenden staatlichen Strukturen aufbauen und auf einer Bevölkerung, die an ein  (wenn auch feudalistisches) Rechtssystem gewöhnt und seit über tausend Jahren christianisiert ist, die also das Prinzip der gleichen Menschenwürde zumindest jeden Sonntag in der Kirche gelernt hat. In Afghanistan fehlen all diese Voraussetzungen.

Der Grundfehler der USA, warum sie in den letzten Jahrzehnten immer wieder geglaubt haben, fremden Völkern einen demokratischen Rechtsstaat aufzwingen zu können, wurzeln in den Erfahrungen nach 1945: Damals ist es in Deutschland oder Österreich schnell gelungen (soweit die Sowjets es nicht verhindert haben), nach dem nationalsozialistischen Wahnsinn blitzschnell wieder funktionierende demokratische Rechtsstaaten aufzubauen.

Die Amerikaner glaubten, dass das vor allem ihrem Wirken zugute zu schreiben ist. Was aber ein gewaltiger Irrtum ist. Denn 1945 konnte in Europa auf Jahrhunderten der Vorarbeit (ganz ohne Amerikaner) aufgebaut werden. Diese Basis und der Konsens der ganz großen Bevölkerungsmehrheit waren entscheidend. Ohne diese Vorgeschichte; ohne diesen Konsens wären alle amerikanischen Bemühungen gescheitert, auch wenn sie noch so gut gemeint waren.

So konnte Österreich sofort wieder eine Verfassung aus den Jahren 1920 beziehungsweise 1929 in Kraft setzen. So verwendete das Land sofort wieder ein Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch, das in wesentlichen Teilen schon im 18. Jahrhundert formuliert worden war. Und diese juristischen Grundlagen wurden und werden vom Willen aller getragen.

Das alles, vor allem dieser Konsens, kann nicht angeordnet werden, sondern nur natürlich wachsen. Der von manchen Intellektuellen verwendete Begriff "Verfassungspatriotismus" ist daher total naiv. Denn Verfassungen können über Nacht geändert werden, die emotionale Bindung an das Vaterland hingegen nicht. Denn zum identitätsbildenden Heimatbegriff etwa der Österreicher gehört viel mehr als das Bundesverfassungsgesetz oder das ABGB.

Dazu gehören auch Tausende andere Dinge, die die Identität und die kulturelle Heimat ausmachen, wie die Umgebung, die Orte und Landschaften vor allem der Jugend, Sprache und Dialekt, alltägliche Umgangsformen, Musik und Literatur, sportliche Erfolge und auch Misserfolge, sozial vererbbare Charaktereigenschaften wie Fleiß, Höflichkeit und Disziplin, Religion sowie die Prägung durch ein Bildungssystem. Am wichtigsten für die emotionale Vaterlands-Bindung ist das gemeinsame Erleben der Geschichte mit all ihren bitteren Stunden über Generationen.

Ja, all das ändert sich im Lauf der Generationen. Das ändert sich oft gewaltig, aber fast immer nur allmählich.

Wie naiv, diesen unglaublich vielfältigen Korb emotionaler Bindung von außen verändern zu wollen. Wie es in Afghanistan aber wieder versucht worden ist.

Man kann den Inhalt dieses Korbes höchstens marginal beeinflussen wollen. Man kann (und soll) dort vielmehr jenen Kräften von außen beiseitestehen, die dafür kämpfen, dass auch in Afghanistan die Zivilisation einkehrt. Dabei sollte man aber auch immer prüfen, ob man dabei nicht bloß einigen korrupten Gaunern zur Macht verholfen hat, die wie der als erster geflohene Präsident Ghani große Teile dieser Hilfe von außen für sich eingestreift hat.

Das heißt in Hinblick auf Afghanistan: Der Kampf gegen den Terror war anfangs ein zweifellos legitimes Motiv für militärische Aktionen. Er wurde dann aber durch die naive Vorstellung eines "Nation Building" ersetzt, der künstlichen Schaffung einer Nation; während die Amerikaner nach dem schweren Schlag gegen die Terroristen und ihre Unterstützer in Wahrheit wieder abziehen hätten sollen.

Jetzt aber stehen die USA und auch der Westen zwangsläufig als gescheitert da. Statt mit ein paar gezielten Bomben die Taliban-Führer für die Terror-Unterstützung zu bestrafen, hat man das naive Projekt "Nation Building" begonnen.

Dieses nun als gescheitert zu beenden, war daher zwar an sich eine richtige Überlegung der Präsidenten Trump und Biden. Jedoch haben sie übersehen, dass man zwanzig Jahre zu lang und ohne greifbares Ziel in Afghanistan geblieben ist, dass jetzt die Amerikaner als große Verlierer dastehen. Diese Niederlage werden sie und die Europäer wohl noch intensiv büßen müssen. Denn die Botschaft für die Weltpolitik lautet nicht mehr: "Die Bösen werden bestraft", sondern: "Am Ende siegen die Bösen, wenn sie es nur lange genug treiben".

Diese katastrophale Botschaft wird nun von Venezuela bis Iran, von Belarus bis  Nordkorea aufmerksam analysiert. Mit einem klaren Ergebnis: Kein Gaunerstaat fürchtet sich noch vor Drohungen der USA. Diese sind als Papiertiger entlarvt.

Der Abschreckungseffekt der großen militärischen Stärke der USA ist dramatisch kleiner geworden. Wie als erste Reaktion auf Afghanistan hat Nordkorea seinen Atomreaktor wieder in Betrieb genommen, mit dem es an seiner Atombombe werkt.

Eine Marginalisierung Amerikas kann niemand für gut finden, der bisher darauf vertrauen konnte, dass dem chinesischen und russischen Expansionismus sowie dem islamischen Totalitarismus ein kräftiges Gegengewicht gegenübersteht, ein Weltpolizist, der stets auf der Seite des Guten aktiv zu werden bereit ist.

Das muss, das müsste vor allem für die Europäer den klaren Auftrag bedeuten, die eigene Sicherheit, die eigene Verteidigung viel, viel ernster zu nehmen (was bisher nur Franzosen und Briten zumindest ein wenig tun). Und doppelt müsste es für die Länder Europas bedeuten, das Entstehen von weiteren Afghanistans auf eigenem Boden zu verhindern. Es müsste auch dringend den Auftrag zu Pushbacks bedeuten, also des Abweisens aller unerwünschten Einwanderungswilligen.

Denn den Europäern sollte die eigene Sicherheit, das eigene Überleben weit wichtiger sein als die weltfremden Juristen, die der Meinung sind, jeder wäre hereinzulassen.

Aber statt die eigenen Existenzanliegen intensiv zum obersten Ziel zu machen, überlegen die EU-Außenminister schon, wie man den Taliban-Banden möglichst schnell wieder europäische Gelder zukommen lassen kann.

PS: Ein vernünftig und strategisch an seine Eigeninteressen denkendes Europa würde auch erkennen (und daraus klare Konsequenzen ziehen), dass es in ganz Südasien nur eine einzige positive, demokratische und stabile Macht gibt. Das ist Indien. Und dass Pakistan hingegen eine besonders üble Rolle spielt: Denn ohne seine Unterstützung wären die Taliban nie an die Macht gekommen.

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