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Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner weiß warum

Gleich zwei große Atommächte bereiten derzeit ganz massiv Kriegshandlungen vor. Das ist extrem beunruhigend – auch wenn es sich scheinbar relativ weit weg abspielt. Vor allem die Gleichzeitigkeit ist auffallend und noch mehr die Tatsache, dass keine der beiden Mächte einen ernsthaften aktuellen Grund zur Kriegstreiberei hat oder sich gar irgendwie bedroht fühlen müsste.

Dennoch agieren China und Russland wie imperialistische Großmächte früherer Jahrhunderte, die immer noch mehr und noch mehr Territorium erobern wollten – weil sie halt irgendwie glauben, dadurch noch mächtiger, noch sicherer, noch reicher zu werden. Und wo man dann halt auch früher gerne koordiniert mit anderen Imperialisten zugeschlagen hat – wie etwa zweimal in Absprache zwischen Russland und Berlin bei den diversen Überfällen auf Polen.

  • Tatsache ist, dass Russland seit einigen Wochen massiv Truppen – mindestens 100.000 Mann! – an der ukrainischen Grenze zusammengezogen hat; dass es im Schwarzen Meer massiv seine Provokationen erhöht; und dass es dort durch – sechs Monate dauernde! – angebliche Manöver den Meereszugang der Ukraine weitgehend lahmlegt.
  • Tatsache ist, dass China die Verletzungen des Luftraums wie auch der Hoheitsgewässer von Taiwan in rapidem Tempo intensiviert hat; und dass es zugleich schon seit einiger Zeit die Gewässer südostasiatischer Staaten im Südchinesischen Meer für sich beansprucht.
  • Tatsache ist, dass beide Mächte gleichzeitig mit dieser militärischen Eskalation auch landesintern härter gegen alle demokratischen und freiheitlichen Ansätze vorgehen als in den letzten Jahrzehnten: Die Russen nicht nur gegen den Oppositionspolitiker Nawalny, den sie zuerst zu vergiften versucht und jetzt unter fadenscheinigen Vorwürfen in den Gulag geworfen haben und dort misshandeln, sondern auch gegen alle, die ihn irgendwie unterstützen. Die Chinesen in noch breiterem Umfang: sowohl gegen die unterjochten Uiguren wie auch gegen die ebenso versklavten Tibetaner; und in Hongkong treten sie die letzten Freiheitspflänzchen in dem einst so blühenden demokratischen Stadtstaat erbarmungslos nieder.

Die Fakten sind eindeutig, nur das Warum ist auf den ersten Blick nicht so einleuchtend. Das einzige unmittelbar erkennbare Motiv da wie dort ist der aus der Geschichte bekannte Hang von Diktatoren zu national-chauvinistischer Selbsterhöhung und ständiger Machtausweitung.

Längst geht es nicht mehr um kommunistischen Ideologie-Expansionismus, auch wenn sich die chinesische Diktatur weiterhin auf die Einparteien-Herrschaft der Kommunistischen Partei beruft. Und die russische Diktatur wird zwar ebenfalls noch von Schergen des einstigen sowjetischen Geheimdienstes geführt; sie sind aber noch weiter weg von jeder Ideologie als die Chinesen.

Beide Mächte fühlen sich in ihrer wahren Identität vor allem als Erben eines viele Jahrhunderte, im Fall Chinas sogar Jahrtausende alten national-völkischen Expansionsstrebens, das rücksichtslos immer weitere Völker und Gebiete unterjocht hatte.

Ihr Verhalten lässt sich historisch am besten mit dem Römischen Weltreich vergleichen, das sich über Jahrhunderte rund ums gesamte Mittelmeer, weit nach Asien hinein, bis über die Alpen und auf die britischen Inseln ausgedehnt hatte. Und das dabei ein Volk nach dem anderen – durchaus wörtlich – versklavt hatte. Bis es dann nach vielen Jahrhunderten als Folge der inneren Korruption und Verweichlichung implodiert ist, als die Römer gar nicht mehr selber an den Kriegszügen teilgenommen, sondern geglaubt haben, das würden dauerhaft Söldner für sie tun. Als Folge der Implosion hat es dann die ebenso schlimmen Schrecken der Völkerwanderung gegeben und dann fast eineinhalb Jahrtausende, in denen Italien in zahllose Stücke zerrissen war, die meist von fremden Herren beherrscht wurden.

Die Ähnlichkeiten zwischen Taiwan und der Ukraine

Aber soweit ist es mit China wie Russland noch lange nicht. Derzeit ist noch immer (oder wieder nach ein paar Jahren der Schwäche) die Phase imperialistischer Expansion angesagt. Beide wollen es als logische Folge ihres imperialistischen Denkens nicht hinnehmen, dass es Gebiete geschafft haben, sich von ihrer Herrschaft loszureißen. Wie die Ukraine und Taiwan.

Und schon gar nicht wollen Russland und China die Demütigung hinnehmen, dass sich die Menschen in diesen als sezessionistisch angesehenen Staaten politisch und emotional von Jahr zu Jahr noch mehr von ihnen abwenden. Dass sie sich nicht nach der vermeintlich höheren Kultur in China und Russland sehnen, sondern ganz auf den Westen schauen, vor allem auf die USA, aber auch Europa.

Über diese skizzierten Parallelen hinaus gibt es noch drei weitere erstaunliche Gemeinsamkeiten zwischen der Ukraine und Taiwan:

  • Beide sind im krassen Unterschied von ihren früheren Beherrschern heute eindeutig Demokratien, in denen es keine politischen Gefangenen gibt, in denen die Menschen frei leben (Unterschied gibt es nur im Lebensstandard, der in dem viel länger unabhängigen Taiwan zweieinhalb Mal so hoch ist wie in China, in der Ukraine hingegen nur rund ein Drittel des rohstoffreichen Russlands beträgt).
  • Der begeistert angehimmelte Westen will aber nicht sonderlich viel von der Ukraine und Taiwan wissen. Vor allem das EU-Europa ist feig und desinteressiert wie immer (Brüssel ist nur daran interessiert, die eigenen Mitgliedsstaaten zu Provinzen zu degradieren). Die USA helfen den beiden bedrohten Ländern zwar militärisch. Auch sie verweigern ihnen aber direkte Bündnisgarantien wie etwa durch eine Nato-Aufnahme, sodass sich die Ukraine in ihrer Verzweiflung sogar an die Türkei um Hilfe gewandt hat. Die aber bräuchte eher in ihrem jetzigen Zustand selber Hilfe.
  • Die Ukraine wie Taiwan hatten einst Atomwaffen, oder waren mit deren Entwicklung weit vorangekommen. Beide haben aber unter Druck nicht zuletzt aus Washington freiwillig darauf verzichtet. Was sie beide heute bitter bereuen. Denn sie würden sich weit sicherer fühlen, hätten sie noch solche. Deswegen denkt man in der Ukraine erklärtermaßen wieder daran, neuerlich welche anzuschaffen. Und auch bei Taiwan wäre es nicht sonderlich überraschend, wenn es heimlich an solchen Waffen werken würde.

Nichts von diesen Aspekten erklärt aber die in den letzten Wochen massiv aufgebaute Aggressionshaltung der Nuklearmächte Russland und China gegenüber ihren seit vielen Jahrzehnten unabhängigen Nachbarn. Und schon gar nicht erklärt irgendein Verhalten der Ukraine oder Taiwans die Gleichzeitigkeit der russischen und chinesischen Drohgebärden.

Die einzige Erklärung liegt aber wohl genau in der Gleichzeitigkeit noch mit einem dritten Vorgang: dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten.

Biden wurde gewogen und für zu leicht befunden

Dieser ist von Moskau wie Peking inzwischen gewogen und für viel zu leicht gefunden worden. Man nimmt ihn nicht so ernst wie seine Vorgänger. Daher spricht vieles dafür, dass beide Mächte zum Schluss gekommen sein könnten: Joe Biden ist eine historische Gelegenheit, die Ex-Gebiete zu züchtigen oder gleich "heim ins Reich" zu holen.

Ihre – wohl untereinander abgesprochene – Analyse dürfte überdies ergeben haben: Biden kann es sich schon innenpolitisch nicht leisten, gleichzeitig sowohl gegen Peking wie gegen Moskau einen ernsten Konflikt zu führen. Daher gehen wir parallel vor.

Aber ist das nicht ein Trugschluss, wenn man Biden a priori so verharmlost? Ist er doch viel weniger isolationistisch als Donald Trump. Ja, das ist er – in seinen Erklärungen. Aber in seinen Taten ist Biden nicht sonderlich ernst zu nehmen. Er wirkt international ähnlich schwach wie einst Jimmy Carter. Nett, salbungsvoll predigend, aber leichtgewichtig. Man erinnere sich etwa, wie Carter einst von den iranischen Mullahs und Studenten durch die Besetzung der US-Botschaft in Teheran provoziert – und als hilflos entlarvt worden ist.

Biden hat sich ja in der Tat schon in den ersten Wochen sehr konkret als unsicher erwiesen:

  1. So wirkt sein Truppenabzug aus Afghanistan noch viel mehr als Trumps einstige Ankündigung wie eine bedingungslose Kapitulation.
  2. So hat er ausgerechnet wegen des harmlosesten aller Vorwürfe gegen Russland zehn russische Diplomaten hinausgeworfen – nämlich wegen der angeblichen Einmischung Russlands in den amerikanischen Wahlkampf durch geheimdienstliche und durch Internet-Aktionen. Die wird es zwar schon gegeben haben – aber auch die USA haben sich schon auf diese Weise in so manchen Wahlkampf anderer Länder eingemischt. Gleichzeitig aber sendet Biden total widersprüchlich ganz andere Signale nach Moskau: Er will den von Trump (aus durchaus nachvollziehbaren Gründen) gekündigten Atomwaffenvertrag wiederbeleben. Und er will sich mit Putin zu einem Gipfel treffen.
  3. Noch peinlicher ist die Unsicherheit der USA in Sachen der russisch-deutschen Gaspipeline Nordstream 2. Amerika kritisiert zwar lautstark den Plan ihrer Fertigstellung. Es stößt dabei aber auf den massiven Widerstand der Deutschen, die das Gas nach den leichtfertigen Atom- und Kohlekraftwerks-Beschlüssen dringend brauchen. Diesen Widerstand müsste aber eigentlich selbst der jüngste Anfänger im amerikanischen Außenministerium vorausgesagt haben. Jetzt weiß Biden dennoch nicht mehr ein und aus: Einerseits hat er sich lautstark gegen die Pipeline exponiert, andererseits will er keinesfalls die Deutschen verärgern, haben sich diese doch massiv auf seine Seite gegen Trump gestellt; und auf der dritten Seite sieht die Ukraine in Norstream 2 aber auch nicht ganz zu Unrecht einen "Energiekrieg" gegen die Ukraine, deren Pipelines ja durch Nordstream ganz umgangen werden können, womit die Ukraine nicht nur viel Geld verliert, sondern auch völlig vom Energiestrom fürs eigene Land abgeriegelt werden kann. Biden in der Sackgasse.
  4. Ähnlich unklar verhält sich Biden auch im Nahen Osten. Dort stößt er die beiden wichtigsten Verbündeten der USA vor den Kopf, nämlich Israel und Saudi-Arabien. Er tadelt die Saudis scharf für (zweifellos tatsächlich begangene) Menschenrechtsverletzungen und Morde. Er ignoriert hingegen die ebenfalls tatsächlichen Liberalisierungsfortschritte in Saudi-Arabien. Er hebt die Sanktionen gegen die proiranische Bürgerkriegspartei im Jemen auf. Und er kündigt vor allem gegen den Rat der sich durch eine iranische Atombombe (zu Recht) am meisten bedroht fühlenden Israelis und auch Saudis eine Aufhebung der Sanktionen gegen Iran an, ohne irgendwelche Gegenleistungen Teherans zu haben. Die einzige erkennbare Logik: Nur weil Trump so scharf gegen Iran gewesen ist, will jetzt Biden sich an diesen annähern, um nicht zu sagen anbiedern.

Das ist alles andere als eine konsistente Politik.

Bidens Vorgänger Trump war zwar prinzipiell ein Isolationist. Aber gerade seine manchmal sehr aggressiv klingenden Tweets haben in Peking und Moskau zum Schluss geführt: Der Mann ist unberechenbar und potenziell gefährlich. Daher wurde er immer mit großer Vorsicht und Zurückhaltung behandelt.

Dadurch haben die von allen linken Journalisten so heftig kritisierten undiplomatischen Botschaften Trumps in Wahrheit friedenspolitisch exzellente Wirkung gehabt. Die ist nun binnen weniger Monate ins Gegenteil umgekehrt worden.

Die Kriegsgefahr ist größer geworden

Diese Analyse heißt nicht, dass mit Sicherheit Krieg bevorsteht. Aber sie heißt, dass die Gefahr eines großen Krieges höher ist als seit vielen Jahrzehnten. Die Machthaber in China und Russland haben ein gefährliches Spiel begonnen:

  • in auffallender Gleichzeitigkeit;
  • in einem offensichtlichen Versuch, den neuen US-Präsidenten auszutesten;
  • oder um seine erkannte Unsicherheit zu nutzen;
  • wohl auch, um von inneren Problemen abzulenken, die mit der Corona-bedingten Wirtschaftskrise zusammenhängen (die allerdings in China überwunden scheint);
  • um die eigene Macht der Diktatoren abzusichern, wozu das Schüren einer auswärtigen Krise immer gut war;
  • zumindest in Russland aus Angst vor einer immer populärer werdenden Opposition insbesondere rund um den inhaftierten Alexei Nawalny, der am Weg ist, zum nationalen Märtyrer zu werden;
  • und eben ganz sicher auch in der Hoffnung, die "Probleme" Ukraine beziehungsweise Taiwan zu lösen, obwohl die Existenz dieser Staaten in Wahrheit keinen Menschen in Russland und China beeinträchtigt. Allerdings müssen die Diktatoren selbst sehr wohl die Wirkung des Beispiels zweier funktionierender Demokratien im gleichen Sprach- und Kulturraum auf die eigene Bevölkerung fürchten.

Nordkorea und Iran schauen genau zu

Das Schicksal der Ex-Atom(anwärter)mächte Ukraine und Taiwan wird im Übrigen auch von nicht direkt an den Konflikten beteiligten Staaten in anderen Weltregionen sehr genau beobachtet. Das gilt insbesondere für Nordkorea und Iran. Beide entwickeln intensiv Atomwaffen, stehen aber gleichzeitig beide auch unter Druck, auf diese zu verzichten.

Für sie ist vor allem die Frage wichtig, ob es nicht die Ukraine und Taiwan noch ganz schwer bereuen müssen, auf Atomwaffen im Gegenzug für vage Versprechungen verzichtet zu haben. Sie werden sich noch mehr als bisher fragen: Was sind solche Versprechungen im Gegenzug für einen Atomwaffenverzicht wert? Und sie werden wohl beide zu dem Schluss kommen: Wir sind selbst nur dann unangreifbar, wenn wir selbst Atomwaffen haben. Weshalb Nordkorea weiter testen wird, und weshalb Iran im Expresstempo mit der Urananreicherung fortfahren wird - (soweit es Israel nicht gelingt, da neuerlich dazwischenzufunken). 

In Wahrheit haben Nordkorea und Iran damit aus ihrer Warte auch recht. So widerlich die da wie dort herrschenden Systeme auch sind.

PS: Das kleine Litauen hat den russischen Botschafter einbestellt, um gegen die russischen Aggressionsakte zu protestieren. Auch Polen hat reagiert. Der Westen schaut hingegen weg. Und Österreich ist überhaupt nur interessiert, Schauplatz eines eventuellen Gipfeltreffens zu werden. Wie ein Hotelportier halt ...

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