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Die Stunde der Corona-Wahrheit

Der schwarz-grünen Koalition steht eine der schmerzhaftesten Entscheidungen ihrer Amtszeit bevor – selbst wenn sie diese zur Stunde wegschiebt oder mit Tricks zu umgehen versucht. Selbst wenn der immer lächerlicher werdende U-Ausschuss im Parlament rund um die diversen innenpolitischen Verschwörungstheorien der letzten Zeit, selbst wenn die peinliche Selbstzerstörung der Verteidigungsministerin, selbst wenn die (auch für die als österreichisch geltende "Austrian" entscheidende) Luftschlacht um die Lufthansa die Aufmerksamkeit vorerst komplett abziehen: Dennoch wird Österreich die Entscheidung zwischen Scylla und Charybdis nicht erspart bleiben, die in jedem Fall fatale Konsequenzen haben könnte.

Das wird die Entscheidung sein, wie Österreich auf den schweren Corona-Ausbruch rund um einen Schlachthof in Nordrhein-Westfalen reagiert. Dieses deutsche Bundesland selbst hat inzwischen bereits über zwei seiner Landkreise einen neuen totalen Lockdown verhängt. Aber längst ist klar, dass sich die Infektionswellen schon viel weiter ausgebreitet haben.

Österreich hat vorerst nur Scheinreaktionen gesetzt. Die Bundesregierung hat für Nordrhein-Westfalen eine Reisewarnung der Stufe 5 verhängt. Das ist die gleiche Warnstufe wie für die Lombardei, wie für die chinesische Provinz Wuhan, also die schlimmsten internationalen Hotspots des Seuchenausbruchs. Das ist sicher richtig, aber nicht sonderlich wichtig. Denn Düsseldorf, Köln und Umgebung sind nur sehr selten Urlaubsziele der Österreicher.

Und Gesundheitsminister Anschober erlässt eine Verordnung, dass in Schwechat  keine Flugzeuge mehr aus Nordrhein-Westfalen landen dürfen, z.B. aus Dortmund oder Düsseldorf. Damit soll verhindert werden, dass weitere Coronaviren eingeschleppt werden. Weiß der Minister nicht, dass die meisten Touristen aus NRW mit dem Auto zu uns anreisen? Und dass jene, die fliegen, das am häufigsten über Frankfurt tun - das aber in Hessen liegt?

Die Republik drückt sich jedoch ansonsten um eine klare Entscheidung, wie wir es mit Gästen aus diesem Bundesland halten sollen. Deren Zahl ist unvergleichlich höher als die der Österreicher, die nach NRW fahren. Ihre Reisen nach Österreich haben jedoch die gleiche Ansteckungswahrscheinlichkeit wie die von Österreichern dorthin. Offenbar haben andere deutsche Bundesländer Reisende aus Nordrhein-Westfalen sogar schon hinausgeworfen.
 
Lediglich das Land Kärnten hat vorerst eine – typisch österreichische – Reaktion gesetzt: Es "empfiehlt" den Tourismusbetrieben, "Gäste aus den derzeit von Covid-19 stark betroffenen Landkreisen Gütersloh und Warendorf eindringlich um eine Verschiebung des Urlaubs zu bitten".
Was heißt das nun wieder? Sind plötzlich die Bundesländer für solche grenzüberschreitenden  Probleme zuständig, weil der Gesundheitsminister verlegen herumdrückt? Sind dann die Betriebe etwa selber schuld, wenn es doch zu einer Ansteckung kommen sollte? Und verlieren sie als fahrlässig geltend alle eventuellen Ansprüche gegen Versicherungen oder Land? Und haben sie umgekehrt jeden Hilfsanspruch verwirkt, wenn sie eine größere Menge gebuchter Touristen hinauswerfen – weil sie ja nicht dazu gezwungen waren, sondern nur einer "Empfehlung" gefolgt sind?

Zweite Empfehlung der Kärntner Landesregierung: Gäste aus dem restlichen Bundesland Nordrhein-Westfalen würden gebeten, vor der Anreise aufmerksam auf ihren Gesundheitszustand zu achten.

Da fragt man unwillkürlich: die anderen Gäste nicht?

Mit solchen Verhaltensweisen ist jedenfalls für die Republik Österreich die harte Frage noch nicht beantwortet: Soll der Gesundheitsminister allen von NRW kommenden Menschen das Kommen verbieten oder sie gar wieder hinauswerfen? Das hätte angesichts der Vorfälle in Deutschland etliche Logik. Das wäre für die ohnedies schon schwer angeschlagene Tourismusbranche Österreichs aber eine absolute Katastrophe. Denn während Touristen aus der Lombardei oder Wuhan im Sommer eine vernachlässigbare Menge sind (die Italiener mögen die Alpenrepublik interessanterweise primär als kaltes Ziel im Winter), sind die Deutschen für Österreich die weitaus wichtigsten Sommertouristen und damit Geldbringer.

Und vor allem: Nordrhein-Westfalen ist das allergrößte deutsche Bundesland! Mit 18 Millionen Einwohnern wohnen dort mehr Menschen als in jedem anderen Nachbarland Österreichs außer Italien.

Jede Entscheidung hätte also fatale Folgen (eine scheinbare Nicht-Entscheidung wäre natürlich auch eine Entscheidung). Heißt man die Menschen aus Nordrhein-Westfalen willkommen, dann riskiert man eine neue Infektionswelle, die halt diesmal aus dem Norden kommt. Sperrt man sie hingegen alle aus, dann ist das ein Dolchstoß für mindestens vier österreichische Bundesländer, die in besonders hohem Ausmaß vom Tourismus leben, dann wird die österreichische Wirtschaftsentwicklung noch viel katastrophaler ablaufen, als zuletzt prognostiziert.

Es ist also letztlich gar keine gute Entscheidung möglich, jede ist nachteilig.

Das wird durch den Umstand noch verschärft, dass Deutschland auf Österreich jetzt auch öffentlich Druck ausübt, keine allzu scharfen Restriktionen zu verhängen. Was man in Wien nicht so gerne sieht. Beim ersten Zusammentreffen der Innenminister Seehofer und Nehammer nach der Corona-Zeit kritisierte der deutsche Minister sogar offen die österreichische Reisewarnung für Reisen nach Nordrhein-Westfalen. Seehofer formulierte das als öffentliche "Bitte" an Bundeskanzler Kurz. Demnach solle nicht pauschal auf der nationalen Ebene oder auf der Ebene von Bundesländern eine Reisewarnung ausgesprochen werden, sondern nur eingegrenzt auf regionale Hotspots (also wie Deutschland auf die beiden Landkreise).

Seehofer erinnerte gleichsam als Wink mit dem Zaunpfahl an das österreichische Werben um deutsche Urlaubsgäste. Nehammer wiederum verteidigte die Reisewarnung diffus als Ausdruck einer Sorge. Sie bedeute kein Reiseverbot, aber sei ein Aufruf zur Achtsamkeit und Eigenverantwortung. Was immer das heißen mag.

Und auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet hat Österreich wegen der ausgesprochenen Reisewarnung attackiert: "Als in Ischgl mal etwas passiert ist, haben wir nicht eine Reisewarnung für ganz Österreich ausgesprochen". Er glaube nicht, "dass Gütersloh schlimmer ist als Ischgl."

Damit haben wir jetzt auch noch einen bilateralen Konflikt mit einer selbstbewusst auftretenden Großmacht.

Da in Österreich die Aufgabenkompetenz der Ministerien parteipolitisch sehr unterschiedlich verteilt ist, könnte es nun auch noch zu dem während der ganzen Corona-Zeit völlig vermiedenen Schwarz-Grün-Konflikt kommen. Hie der schwarze Tourismus sowie die schwarze Wirtschaft, da das grün geleitete Gesundheitsministerium.

Aber selbst, wenn sich die Dinge nicht parteipolitisch polarisieren sollten, kann man an solchen Tagen nur sagen: ziemlich angenehm, dass man kein Minister ist, der jedenfalls Entscheidungen treffen muss, dass man also selbst nur zuzuschauen braucht, welche der schlechten Entscheidungen getroffen wird.

Das besonders Tragische und Ernüchternde: Der Infektionsherd in Nordrhein-Westfalen wird mit Sicherheit nicht der letzte mit großen Auswirkungen gewesen sein. Es drohen daher der ohnedies in den Seilen hängenden Wirtschaft noch viele neue schwere Rückschläge bei der erhofften Erholung, die sie immer schlechter verkraften wird.

Jeder solche Ausbruch, jeder Rückschlag wird die – derzeit von vielen Träumern noch nicht geteilte – Gewissheit weiter erhöhen, dass wir noch lange mit Corona leben werden müssen. Andererseits wird aber dadurch auch immer klarer, dass die einzige realistische Hoffnung auf flächendeckende (und funktionierende) Kontakt-Apps sowie dann möglichst bald auf flächendeckende (funktionierende) Impfungen zu richten ist. Zumindest dann, wenn wir der Gefahr eines neuen nationalen oder internationalen Lockdowns dauerhaft entgehen wollen.

Oder wir gehen dreieinhalb Monate später nach dem erfolgreichen aber mühseligen Containment dann doch noch den schwedischen Weg und nehmen ein paar Tausende zusätzliche Tote in Kauf ...

PS: Noch ein Vergleich zeigt, wie seltsam die Lage ist: Für US-Bürger und Russen ist derzeit in Österreich (und der ganzen EU) eine Einreise verboten. Für Belgier hingegen ist sie ohne Einschränkung erlaubt. Obwohl es dort die weltweit weitaus höchste Corona-Todesrate gibt. Aber Belgien ist halt ein EU-Land und Sitz der EU-Kommission …

PPS: Während in Österreich vielerorts noch die Bedenkenträger dominieren und es sehr, sehr ruhig um die Anschober-Rotkreuz-App geworden ist, hat eine neue in Deutschland herausgekommene App schon sehr viele User gefunden: fast 13 Millionen. Das ist eine gewichtige Menge. Hängt der Akzeptanz-Unterschied vielleicht auch damit zusammen, dass die deutsche App besser funktioniert? Oder ist man beim Nachbarn nur disziplinierter?

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