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Sterben in Tagen des Corona-Virus

Eine bedrückende Karwoche: Unsere beste Familienfreundin – deutlich jünger als ich – hat die terminale Diagnose zu ihrem Krebs bekommen. Sie muss auch über Ostern wohl für die letzten Tage ihres Lebens im Spital bleiben. Und sie darf nicht einmal ihre Kinder sehen, obwohl diese sofort quer durch Österreich angereist sind. Noch irgendwelche Fragen zum Karfreitag 2020? Sterben in Tagen der Corona (mit nachträglicher Ergänzung).

Auch in der Kirche ringen viele mit dem einzigen Fixpunkt unseres Lebens – mit dem Sterben. Wer bisweilen die ergreifenden täglichen Corona-Morgenmessen des Wiener Kardinals aus einer kleinen Kapelle via Internet verfolgt hat, der hat gespürt, wie intensiv Christoph Schönborn die eigene Lebensgefahr während einer schweren Krankheit im vergangenen Jahr erlebt hat, wie intensiv auch ein Bischof die zentralen Geschehnisse der Christenheit vor 2000 Jahren vor dem Hintergrund des eigenen Lebens reflektiert, wie sehr auch er um Antworten ringt.

Die schönste und positivste Annäherung an die Gewissheit des eigenen Sterbens habe ich einst von einem anderen Priester gehört, von Hartmann Thaler, der ein halbes Jahrhundert lang den Piaristenorden, die Wiener Josefstadt und auch ein wenig mich geprägt hat, der auch noch mit 90 Jahren dort Pfarrer war. In den letzten Lebensjahren sagte er einmal zu mir: "Ich bin so neugierig, wie es dann sein wird."

Das ist in der Tat die zentrale frohe Botschaft des Christentums: Es gibt – hinter aller in jedem Einzelnen tief verwurzelten Angst vor dem physischen Tod – etwas danach. Auch am Karfreitag wissen die Christen um die Auferstehung, haben sie die Hoffnung auf eine Auferstehung. Und manchen gelingt es, dieses spirituelle Wissen auch in die eigene Existenz hereinzunehmen.

Die zentrale Botschaft des Christentum ist hingegen nicht die eines Wunderautomaten, auch wenn sich eine lange Reihe von Bittprozessionen für die verschiedensten Anliegen durch die Kirchengeschichte zieht, auch wenn selbst Schönborn immer wieder danach klingt, als ob man oben nur drei Gebete und zwei Messen einwerfen müsste, und schon springt unten das erbetene Wunder heraus. Etwa die Genesung von einer Krankheit, etwa gutes Erntewetter, etwa Befreiung von der Pest.

Das Wort von der Auferstehung ist in diesen Tagen auch außerhalb der zum ersten Mal in der Geschichte für die Gläubigen geschlossenen Kirchengebäuden und außerhalb der neuartigen Internet-Religion auffallend oft gefallen. Etwa Sebastian Kurz hat es mehrmals in Zusammenhang mit der Wiedereröffnung vieler Geschäfte nach Ostern verwendet.

"Juhu, wir sind zurück!" hat mir gerade mein Lampengeschäft gemailt, was durchaus irdisch dieselbe Botschaft bedeutet. Nun, wir wissen in Wahrheit nicht, ob diese Teil-Auferstehung des Geschäftslebens nicht zu einer negativen Entwicklung all jener Kurven führen wird, auf die wir seit einem Monat so gespannt schauen. Die uns aber vor allem völlig davon abgelenkt haben, dass noch immer viel, viel mehr Menschen an Krebs oder Herzinfarkten als an dem – oder mit dem! – Virus sterben. Die uns völlig davon abgelenkt haben, dass viele andere Krankheiten mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit zum Tod führen.

Trotzdem ist noch nie seit den Kriegstagen das Sterben so sehr im allgemeinen Bewusstsein gestanden wie im Jahr 2020. Das hat mit der Neuartigkeit dieser Seuche zu tun. Das hat mit der hochgradigen Ansteckungsgefahr zu tun. Das hat mit dem plötzlich zertrümmerten Gefühl des 20. Jahrhunderts zu tun, ansteckende Krankheiten im Griff zu haben (jetzt einmal die kleine Gruppe fanatischer Impfgegner beiseitelassend, die nur eines beweisen: dass es immer seltsame Narren geben wird). Das hat mit den totalitären Reaktionen vieler Regierungen auf Corona zu tun, die die Reaktionen auf andere Krankheiten weit übertreffen.

Dabei könnte man mit ähnlich totalitären Methoden wie jetzt und deutlich weniger Geld eigentlich die Opferzahlen von Herzkreislauferkrankungen um ein Vielfaches jener Zahl reduzieren, die in der Statistik als Corona-Tote stehen.

Aber dennoch ist es sehr gut und wichtig, dass wir das nicht tun. Dass wir nicht in einer Gesellschaft leben, die jeden einzelnen mit Zwangsmaßnahmen zum Hungern Richtung Idealgewicht zwingt, zur täglichen Stunde Sport, zur gesunden Ernährung, zum sofortigen Verzicht auf Alkohol und alle Formen von Drogen- und Tabakkonsum.

Wir würden zwar länger leben. Aber es wäre ein unerträgliches Leben.

Irgendwann wird sich diese Einstellung wohl auch gegenüber der Corona-Pandemie durchsetzen. Auch noch bevor es den von allen sehnsüchtig erwarteten Impfstoff oder heilenden Therapiemix gibt.

Die gigantomanische Reaktion des Globus auf das Virus – bei religiösen wie nicht religiösen Zeitgenossen – ist zweifellos Folge der Tatsache, dass die Menschen des 21. Jahrhunderts mehr als alle ihre Vorfahren die Tatsache des unvermeidlichen Todes aus ihrem Denken verdrängt haben. Wir werden daher mit ihr viel schlechter fertig, wenn wir plötzlich in so dichter Form bei jedem Medienkonsum, jeder Politikeräußerung und bei fast jeder wirtschaftlichen Aktivität mit Krankheit und Sterben als angeblich "Neuer Normalität" konfrontiert sind.

Die Menschheitsgeschichte wird wohl noch Jahrhunderte auf das kollektive Fieber dieses Jahres 2020 zurückblicken. Die Österreicher kommender Jahre werden kaum verstehen, dass das Sterben von hunderten Menschen im ganz normalen Altersschnitt der Lebenserwartung an oder mit(!) dem Corona-Virus die gesamte Nation total lahmlegen kann. Dass Grundrechte, Gewaltenteilung, Politik, Medien, Wirtschaft, Kultur, Sport, aber auch fast jede zwischenmenschliche Begegnung sich in so hohem Ausmaß dadurch verändern haben lassen.

Was für ein Kontrast zu früheren Jahren, in denen sich kein Politiker, kein Medium, kein Mitbürger mit den Todesstatistiken und ihren Ursachen befasst hat. Obwohl auch im Vorjahr wieder 82.000 Menschen in Österreich verstorben sind. Deren Tod war immer nur für jene ein Thema, in deren Nähe er eingeschlagen hat.

Es gibt zwei im Ergebnis zusammenwirkende Kausalitäten, warum uns das Sterben so fremd geworden ist, warum wir so "erfolgreich" den Tod aus unserem Leben verdrängt haben, warum wir so überreagieren.

  • Die erste Erklärung: Das ist zweifellos, wenn es auch aufs Erste paradox scheint, ein Ergebnis der großen Erfolge der Menschheit. Diese Erfolge hat es auf vielen Gebieten gegeben. Das ist:
  1. der ständige Fortschritt der Medizin (von Impfungen und neuen Medikamenten bis zur hochtechnisierten Intensivmedizin);
  2. die Verbreitung von Hygiene (es ist nur wenige Generationen her, da wurde auch in unseren Städten noch der Nachttopf aus dem Fenster auf die Gasse geleert);
  3. der gesündere Lebenswandel als Folge eines gesteigerten Bewusstseinswandels (auch wenn dem starken Rückgang der Raucher eine Zunahme der Drogenabhängigen gegenübersteht, auch wenn es eine erschreckende Zunahme adipöser Menschen gibt);
  4. die drastische Abnahme von wirtschaftlicher und sozialer Not, von Armut und Hunger (die wieder den großen Erfolgen von Technik und Wissenschaft, von moderner Landwirtschaft und freier globaler Marktwirtschaft zu danken ist).
  5. Und der eindeutige Rückgang von Kriegen und Gewaltverbrechen im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende (den Steven Pinker mit einer Überfülle von Fakten nachgewiesen hat, etwa in "Aufklärung jetzt").

Wenn die Menschen als Folge all dieser Fortschritte im Schnitt 80 Jahre alt werden, dann ist der Tod halt ferner, als wenn man im Schnitt schon mit 40 stirbt. Man denke etwa an Maria Theresia, die wohl eine für das 18. Jahrhundert exzellente medizinische Betreuung hatte. Von ihren 16 zur Welt gebrachten Kindern haben dennoch nur 10 das Erwachsenenalter erreicht. Womit sie durchaus kein Ausreißer war. Der Tod war also auch bei der mächtigsten Frau Europas ein regelmäßiger, geradezu gewohnter Gast. Bei einer Frau, die zugleich immer (zumindest bis zum Tod ihres Mannes) ein durchaus barock-festesfroher Mensch gewesen ist.

  • Die zweite Kausalität, warum uns der Tod viel mehr schockiert als all unsere Vorfahren, hängt zweifellos mit der Abnahme der Religiosität zusammen (auch dazu könnte übrigens ein Vergleich mit Maria Theresia gezogen werden). Wer nicht mehr regelmäßig ein Kreuz als Memento mori vor Augen hat, hat schon optisch einen viel geringeren Bezug zum Tod. Und wer nicht an ein ewiges Leben glaubt, der ist naturgemäß viel intensiver bemüht, jeden Gedanken ans Sterben total aus dem Leben zu verdrängen.

Umso stärker beeindrucken daher manche Einzelaspekte aus dem lombardischen Massensterben. In Oberitalien verläuft ja die Corona-Infektion aus Gründen, die wir noch nicht wirklich durchschauen, besonders tödlich. Ich bin schon auf die unterschiedlichsten, aber noch nie zwingend bewiesenen Erklärungen gestoßen. Dazu gehört der schlechte Zustand des italienischen Gesundheitswesens, die hohe Luftverschmutzung in Oberitalien, die große Zahl chinesischer Gastarbeiter, die späte Reaktion der Behörden, besonders üble Nachlässigkeiten in Altersheimen, eine aggressive Mutation des Virus und eine schlechtere Immunabwehr der Durchschnittsbevölkerung, weil italienische Kinder einst nicht die Tuberkulose-BCG-Impfung erhalten hatten.

Was auch immer die wirklichen Ursachen sind: Mich beeindruckt derzeit ein anderes Faktum aus Italien viel mehr, nämlich in welchen zwei Berufsgruppen es dort die relativ meisten Todesopfer gibt: unter Ärzten und unter Priestern. Da wie dort mehr als hundert Tote. Also unter jenen Menschen, die sich ohne Rücksicht auf die eigene Existenz körperlich und seelisch um die Erkrankten gekümmert, die Sterbende begleitet haben.

Tiefer Respekt.

Der gilt in besonderem Maße jenem erkrankten Priester von Bergamo, der das von seiner Pfarrgemeinde für ihn gespendete Beatmungsgerät einem anderen Kranken weitergegeben hat und der in der Folge selbst verstorben ist. Wohl nicht nur für Christen hat der Mann heiligmäßig gehandelt.

Aber das Christentum erlebt nicht nur durch solche Heiligen der Gegenwart in diesen Tagen möglicherweise eine Auferstehung, eine Wiederbelebung. Auch die Einschaltquoten der zahllosen Gottesdienste, die es neuerdings im Internet und den diversen Fernseh- und Radiostationen aus leeren Kirchenschiffen gibt, zeigen: Wenn es haarig wird, suchen auch die Menschen aus der Konsumgeneration nach dem Wichtigsten, nach dem Sinn des Lebens und im Leben. Hoffen wir, dass die diversen christlichen Kirchen – bis hin zu den Evangelikalen, die sich am längsten gegen die Kirchenschließungen gewehrt haben – diesen Sinn auch geben können.

Nachträgliche Ergänzung: Immerhin. jetzt hat der Primar Gnade vor Corona walten lassen. Täglich darf künftig einmal pro Tag eines der Kinder zur Kranken.

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