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Die Denkfehler des Sebastian Kurz

Sebastian Kurz ist gegenüber allen anderen Angeboten auf der politischen Speisekarte zweifellos die überragende Erscheinung. Er wirkt sympathischer und intelligenter. Nur weiß er das inzwischen zu gut und ist dadurch wie viele Männer an der Spitze eines Staates oder einer Regierung in Gefahr geraten, abzuheben, nur noch sich selbst zu sehen und Fehler zu begehen.

Man findet von Macron bis Erdogan und Putin manche Parallellen zu Kurz (auch wenn natürlich jeder dieser Vergleiche massiv hinkt; so steht ja beispielsweise von diesen drei Präsidenten nur der Franzose Macron so wie Kurz uneingeschränkt innerhalb der Grenzen der Demokratie und des Rechtsstaats). Bei allen drei zeigt jedenfalls die Kurve der Macht und Popularität einer ganz auf einen Mann hin orientierten Politik inzwischen klar nach unten. Bei Kurz noch nicht.

Die Liste der Fragezeichen, die man mittlerweile aber auch zu Kurz setzen muss, ist jedoch mittlerweile erstaunlich lang. Diese Fragezeichen bleiben bestehen, auch wenn er mit hoher Wahrscheinlichkeit bei den Septemberwahlen mit großem Vorsprung als erster durchs Ziel gehen wird.

  1. Seit eineinhalb Monaten senden er und seine Partei an die Wähler nur noch das Signal "Kurz!" aus. Das ist sehr mager. Auch wenn es gerade bei Parteien wie ÖVP oder CDU schon mehrmals Wahlkämpfe gegeben hat, wo am Ende einer Erfolgsphase nur noch der Name des Parteichefs Programm gewesen ist (siehe die letzten Merkel-Wahlkämpfe, siehe Schüssel 2006, siehe Klaus 1970, siehe Raab 1959 – aber auch Kreisky 1983), so wirkt die ÖVP derzeit fast noch themenbefreiter. Das einzige derzeit erkennbare Sachthema – eine Pflegeversicherung – ist völlig unausgegoren. Die ÖVP geht beim Thema Pflege so wie alle anderen Parteien, sofern diese dessen Bedeutung überhaupt begriffen haben, allen unangenehmen Fragen wie der Finanzierung aus dem Weg.
  2. Kurz tut sich zugleich schwer, die beiden zentralen Erfolgsthemen seines letzten Wahlkampfes (also Kampf gegen Migration plus Islamisierung; und mehr Spielraum für die Wirtschaft) glaubwürdig zu reaktivieren. Vor allem deshalb, weil er nicht überzeugend begründen kann, warum er eigentlich in vorzeitige Neuwahlen gegangen ist. Denn die Koalition hat ja allen Aussagen nach gut funktioniert. Und alles, was an künftigen Veränderungen der Regierungsformel nach den Wahlen möglich ist, kann sich in diesen beiden Punkten nur negativ auswirken.
  3. Mittlerweile ist ja ganz Österreich überzeugt, dass die Koalition nur wegen der persönlichen Inkompatibilität zwischen den beiden Alphatieren Kurz und Kickl geplatzt ist. Das aber wirft auf beide einen negativen Schatten. Es ist zwar sicher richtig, dass Kickl einen schwierigen, nicht teamwilligen Charakter hat, dass er oft mit dem Kopf durch die Wand will, dass er einen Hang zu Verschwörungstheorien hat, und dass sich Kurz mehrmals über Kickl geärgert hat. Aber so ergeht es nun einmal allen Vorgesetzten mit ihren Mitarbeitern. Wenn sie Führungsqualität haben, können sie damit umgehen. Wenn sie das nicht haben, scheitern sie. Es wäre aber jedenfalls furchtbar gewesen, hätte die ganze Regierung nur aus Klons des Sebastian Kurz bestanden – selbst wenn er ein solches Universalgenie wäre, für das ihn manche halten.
  4. Aber was Kurz nicht ganz internalisiert hat: Die Verfassung sieht im Bundeskanzler nicht den Vorgesetzten der anderen Minister. Der Bundeskanzler ist in Österreich vielmehr (im Gegensatz zu einem deutschen Regierungschef) nur Primus inter pares, Erster unter Gleichen. Er steht bloß in einem Punkt über den anderen: Er kann als Einziger die Ernennung der einzelnen Minister beziehungsweise deren Abberufung vorschlagen (Was ein Bundeskanzler aber ratsamerweise immer nur dann tun sollte, wenn er eine parlamentarische Mehrheit dafür hat).
  5. Für die FPÖ war es überhaupt das Wichtigste an der Regierung, dass diese auf Augenhöhe stattgefunden hat. Die Augenhöhe war aber ab dem Zeitpunkt nicht mehr gegeben, als Kurz ohne einen für Öffentlichkeit und FPÖ nachvollziehbaren und gravierenden Grund Kickl hinausgeschmissen hat. Eine solche Demütigung ist für einen Koalitionspartner kaum akzeptabel. Noch dazu, wo Kickl wohl der Intelligenteste seiner Partei ist. Noch dazu, wo die FPÖ eine Partei ist, für die aus ihrer Geschichte, aber auch dem Geist der die FPÖ prägenden Burschenschaften heraus das Zusammenhalten, die "Treue", die Erkenntnis "Eine selbstverschuldete Spaltung wie Knittelfeld und BZÖ darf uns nie wieder passieren" und das Prinzip "Wir lassen uns niemals von außen auseinanderdividieren" zentraler genetischer Kern ist.
  6. Hat Kurz das nicht begriffen? Dafür spricht viel. Denn hätte er beim Hinauswurf Kickls von vornherein ein totales Koalitionsende erwartet, hätte er bessere, konkretere und gravierendere Argumente gegen diesen parat haben müssen. Hochrangigen ÖVP-Exponenten fiel, darauf angesprochen, als Argument gegen Kickl ausgerechnet der Vorwurf ein, dieser habe das Flüchtlingslager Traiskirchen symbolisch in "Ausreisezentrum" umbenannt. Das ist zwar sicher eine dumme, aber letztlich völlig irrelevante Aktion gewesen, und meilenweit von einem Grund entfernt, wegen dem man eine funktionierende Koalition sprengt. Außerdem verschafft die Thematisierung dieser Umbenennung Sebastian Kurz das Problem, dass sein einstiges Engagment für eine Abschiebung von möglichst vielen der illegalen Immigranten nun kaum mehr wahrgenommen wird.
  7. Je weniger inhaltliche Gründe Kurz gegen Kickl oder gegen die Politik der bisherigen Koalition vorbringen kann, umso größer wird die Vermutung, dass es Kurz primär nur um Machtausweitung geht. Das kann für ihn bis Ende September trotz der jetzigen schönen Umfragewerte zum Problem werden.
  8. Noch gefährlicher könnte aber eine Verbreitung des Eindrucks werden, dass Kurz mit dem Koalitionsende auch inhaltlich eine andere Politik gehen will, dass er offenbar wirkliches Interesse an den Oppositionsparteien Pink und Grün hat.
  9. Lediglich zur SPÖ hin hat Kurz alle Brücken abgebrochen. Auch dabei hat er allerdings riskant hoch gepokert: Er hat dem SPÖ-nahen Rechtsanwalt Lansky namentlich und öffentlich Schuld an der mafiosen Falle von Ibiza zugeschoben. Die bekannten Indizien gegen Lansky sind jedoch zu mager, um das seriöserweise öffentlich zu tun (am besten, aber ohne gerichtsfähige Beweise sind diese Indizien hier zusammengefasst). Auch wenn die Aversion gegen einen Anwalt, der serienweise blutrünstige mittelasiatische Diktatoren vertritt, durchaus nachvollziehbar ist, hat Kurz jetzt einen überflüssigen Prozess am Hals, den er nicht gewinnen kann, es sei denn, er kann bisher noch unbekannte Fakten nennen.
  10. Im Wahlkampf wird vor allem die Wahrscheinlichkeit einer Koalition der ÖVP mit einer der beiden kleinen Linksparteien Thema werden (oder mit beiden). Die Gefahr für Kurz besteht darin, dass seinen potenziellen Wählern die inhaltlichen Konsequenzen einer solchen Koalition zunehmend bewusst werden. Dann werden Teile dieser ÖVP-Wähler wegbrechen. Das droht insbesondere in drei Wähler-Segmenten:
    1. Sowohl mit Grün wie Pink wird keine effiziente Anti-Migrations- und Anti-Islamisierungs-Politik mehr möglich sein Das wird all jene Wähler enttäuschen, die genau deswegen beim letzten Mal Kurz gewählt haben. Dabei war gerade dieses Thema (Sperre Balkanroute) sogar eindeutig das wirksamste Sachargument des letzten Kurz-Wahlkampfes gewesen.
    2. Wertverbundene christliche Wähler (um die sich Kurz noch vor wenigen Tagen durch seinen Besuch bei den ökumenischen Evangelikalen demonstrativ bemüht hat) werden durch das genderistisch und homosexuell dominierte Anti-Familienbild sowohl von Pink wie Grün abgeschreckt werden. Dabei sind konservative Katholiken jene Wählergruppe, die bisher so konsequent ÖVP gewählt haben wie keine andere.
    3. Wirtschaftsorientierte Wähler wissen, dass die noch immer neomarxistisch beeinflussten Grünen und vor allem deren Klimapanik-Politik Österreich und seiner Wirtschaft sehr teuer kommen würden. So kämpfen diese vehement gegen den Abschluss von EU-Handelsverträgen. Wegen dieser militant antimarktwirtschaftlichen Einstellungen der meisten Grünen hat ja in Deutschland die wirtschaftsliberale FDP eine Koalition mit den Grünen abgelehnt. Deren Hereinnahme in Österreich würde die gesamte Staatsschulden-Stabilisierung und Wirtschaftsbelebungs-Erfolge der letzten zwei Jahre zunichte machen. Sie würde viele Unternehmen mit vielen neuen Lasten vertreiben. Auch bei vielen Bauern sind die Grünen ein absolut Rotes Tuch. Die Perspektive einer linker werdenden Wirtschaftspolitik wird für viele Unternehmer angesichts der Tatsache umso absurder, da die FPÖ im Gegensatz zu 2002-2006 diesmal nicht durch linkspopulistische Soziallizitation aufgefallen ist. Überdies verärgert die ÖVP durch ein Bündnis mit den Grünen die eigenen Parteispender.
  11. Wenn Kurz weiterhin die Perspektive einer Linksöffnung offen lässt, könnten ihm die Freiheitlichen viele bürgerliche Wähler absaugen. Immerhin stehen die Blauen jetzt schon doppelt so gut da wie 2002 oder 2006 und sind mit 20 Prozent bei Umfragen gleichstark mit der SPÖ. Sie könnten daher angesichts der Beliebtheit der letzten Regierung und der weitgehenden inhaltlichen Kongruenz ganz massiv schwarze Wähler mit dem Slogan abwerben: Eine Stimme für uns ist die einzige eindeutige Stimme gegen linke Minister. Wenn die Freiheitlichen intelligent sind, dann werden sie zum Beweis:
    1. erstens die emotionalen Hassreaktionen des Herbert Kickl gegen alles, was Schwarz ist, stoppen;
    2. zweitens der ÖVP-Propaganda "Vorsicht, es droht Rot-Blau" durch Stopp jedes parlamentarischen Zusammengehens mit der SPÖ die Basis entziehen;
    3. drittens den Rücktritt des H.C. Strache nicht durch Hintertüren wieder rückgängig machen;
    4. und viertens auf skurrile Verschwörungstheorien verzichten, dass der BVT oder die ÖVP die Ibiza-Falle gestellt hätte.

Freilich würde ich derzeit (insbesondere angesichts des erstaunlichen Blödheits-Offenbarungseides der Herrn Strache und Gudenus) auch auf die freiheitliche Intelligenz nicht sehr viel wetten …

  1. Offenbar weil Kurz diese Gefahren erkannt hat, versucht er neuerdings den Eindruck zu zerstreuen, dass Pink und/oder Grün unmittelbar vor einem Regierungseintritt stünden. Diesem Ziel dient die plötzliche rhetorische Hinwendung zum Modell einer Minderheitsregierung. Damit hofft Kurz den Eindruck zu verwischen, dass er einen Linksruck vorhat. Dabei begeht er jedoch gleichzeitig neue Denkfehler und verschafft sich neue Probleme:
    1. Erstens verstärkt sich dadurch der Eindruck eines egozentrierten ÖVP-Obmannes, der die Regierungsmacht alleine ausüben will, selbst wenn er gar keine Mehrheit hat.
    2. Zweitens sind Minderheitsregierungen nie Teil der österreichischen politischen Kultur gewesen wie in Skandinavien; sie sind absolut unpopulär.
    3. Und drittens wird er keinen Partner finden, der zur ähnlichen Unterstützung einer Minderheitsregierung bereit wäre, wie etwa jetzt in Dänemark die anderen Linksparteien eine sozialdemokratische Minderheitsregierung durch einen Pakt abgesichert haben. In Österreich wird keine andere Partei zu einem solchen Pakt bereit sein, um Kurz bei – den ja immer wieder notwendigen – unpopulären Entscheidungen zu unterstützen, wenn sie dafür nicht auch selbst an der Macht partizipieren darf. Es würde vielmehr immer wieder Mehrheiten gegen die Regierung geben, um populäre, aber teure Maßnahmen zu beschließen. Die Partizipation an der Macht ist für jede Partei enorm attraktiv: Man denke etwa an die vielen Millionen, die Minister – siehe Bestechungsinserate – freihändig an Günstlinge und Vereine vergeben können. Man denke an ihre großen Personalkompetenzen. Man denke insbesondere an die Rolle jedes einzelnen Ministers in der EU. Dort ist er viel mächtiger als in Österreich. Dort ist er mit 27 Kollegen paneuropäischer Gesetzgeber, ohne wie in Österreich einstimmigen Konsens in der Regierung suchen zu müssen, ohne sich eine Mehrheit im Parlament suchen zu müssen, ohne sich dafür vor der Öffentlichkeit sonderlich rechtfertigen zu müssen. Es ist völlig absurd zu glauben, dass Kurz Parteien findet, die auf all das verzichten, die ihn aber parlamentarisch absichern. Wenn ihm Berater das als Möglichkeit eingeredet haben, sollte er raschest auf diese verzichten.
  2. Der Eindruck, dass sich die ÖVP in eine "Kurz, geh uns voran, wir folgen dir blind"-Partei verwandelt hat, wird auch dadurch massiv verstärkt, dass es diesmal in der ÖVP im Gegensatz zur letzten Wahl kein parteiinternes Vorzugsstimmensystem geben wird, zumindest in den meisten Bundesländern nicht. Entscheidend werden daher wieder wie einst und wie bei den anderen Parteien die Listen sein, die die Parteiführung vorgibt, nicht mehr der Wille der Wähler (der noch bei der EU-Wahl für Kurz so hilfreich gewesen ist, um Othmar Karas zu entthronen). Das ist für viele enttäuschend, das wird auch das Engagement der Kandidaten deutlich reduzieren. Ein ganz schwerer Fehler. Ebenso wie es schon nach der letzten Wahl die De-facto-Entsorgung der noch im Wahlkampf versprochenen direkten Demokratie gewesen ist.
  3. In den nächsten Wochen wird sich auch ein früherer Denkfehler von Kurz für ihn bitter rächen: Er hat auf eine ersatzlose Streichung der ORF-Gebühren verzichtet. Er ging dabei davon aus, dass er mit den Wadelbeißereien des Armin Wolf selbst immer gut fertig geworden ist. Aber 2017 sprachen im Gegensatz zu heuer alle Sachargumente für die ÖVP (von Silberstein bis Migrationswelle). Und vor allem besteht der ORF nicht nur aus den paar Kurz-Interviews, sondern aus vielen Dingen, die er gar nicht mitbekommt, die aber langfrstig viel gewichtiger sind. Das ist vor allem das total einseitige Agenda Setting in allen ORF-Kanälen, in dem praktisch nur grüne und notfalls rote Themen vorkommen. Das wird jetzt dort noch viel intensiver erfolgen, weil alle ORF-Redakteure um ihr Leben kämpfen.
  4. Der einzige, der in der ÖVP derzeit noch für einen geraden Kurs sorgt, ist ausgerechnet der – anfangs von mir recht skeptisch gesehene – Klubobmann Wöginger. Ansonsten findet man in der ÖVP neben Kurz keine Selbstdenker mehr.
  5. Apropos Klubobmann: Diese Funktion bietet wohl die letzte Chance, wie es doch noch zu einem neuerlichen Schwarz-Blau kommen könnte. Denn wenn einerseits Kurz sagt: "Nicht mit Kickl als Minister", und andererseits die FPÖ erklärt: "Uns gibt es als Koalitionspartner nur mit Kickl", dann bleibt als einzige denkbare Formel für ein neuerliches Schwarz-Blau, dass Kickl Klubobmann der FPÖ wird. Das kann Kurz ja nicht verhindern. Das gäbe Kickl aber eine überaus einflussreiche Position, in der er auch am Ministerratstisch sitzt. Und in der er parlamentarisch Kurz wohl mehr Probleme machen wird denn als Minister.
  6. Die allergrößte Gefahr für Kurz: Viele bürgerliche Wähler – die nach Ibiza auch nicht FPÖ wählen wollen und denen die Neos in allen Bereichen außer der Wirtschaftspolitik viel zu links sind – werden verunsichert und verärgert am Wahltag daheim bleiben.

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