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Österreich zwischen EU, Nato und Neutralität

Warum haben die Österreicher fast ein Dreivierteljahrhundert in völligem Frieden leben können? Nur den wenigsten ist bewusst, dass das in der Geschichte davor noch nie der Fall gewesen ist. Dass das alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Noch weniger Österreicher sind sich des wichtigsten Grundes dafür bewusst. Und jene, die sich seiner bewusst sind, verschweigen ihn lieber, weil die Wahrheit links wie rechts unpopulär und unbequem ist. Weil die österreichische Staatsdoktrin in ihren Sonntagsreden sicherheitspolitisch immer nur Schimären verbreitet.

Der weitaus wichtigste Grund dafür ist nämlich ganz eindeutig die Existenz und das Funktionieren der Nato. Diese hat (auf den Tag genau) seit nunmehr 70 Jahren ganz Westeuropa, aber auch dem Nicht-Mitglied Österreich eine historisch ungeahnte Stabilität und Sicherheit verschafft. Sie tut dies seit dem Kollaps des Kommunismus nun auch für Mittelosteuropa.

Nur mit der Sicherheitsgarantie der Nato im Rücken waren jene späteren Entwicklungen überhaupt erst möglich, die erstaunlich viele Österreicher heute fälschlicherweise für das Fundament des Friedens halten: die wirtschaftliche Integration Europas auf dem stufen- und kurvenreichen Weg EGKS/Euratom/EWG/EG/EU und die Ansätze einer juridischen Integration via Europarat, KSZE/OSZE und Menschenrechtskonvention. Und die Neutralität.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Ganz sicher sind die europäischen Verträge und Konstruktionen in einer Gesamtbilanz trotz vieler Fehlentwicklungen als positiv zu beurteilen. Aber das wirklich tragende Fundament für die vielen komplizierten Mäander des um Brüssel und Straßburg kreisenden Integrationsprozesses war die Nato mit ihrer 70 Jahre bestehenden Geradlinigkeit und ihrem Artikel 5. Dieser besagt ja seit dem ersten Tag: Wenn ein Mitglied angegriffen wird, dann fühlen sich alle angegriffen. Und reagieren gemeinsam.

Davon hat eindeutig auch Österreich profitiert. Auch wenn es nie klar gesagt wurde, hätte ein militärischer Angriff des Warschauer Paktes auf Österreich die Nato zum Eingreifen gezwungen, weil er die Rote Armee nach Salzburg und an den Brenner gebracht hätte. Einzig die Nato war die Sicherheitsgarantie, dass der seit vielen Jahrhunderten nachweisbare russische Expansivdrang und der ideologische Ausbreitungsdrang des Kommunismus Österreich verschont haben. Auch wenn man natürlich nie mit Sicherheit sagen kann, was wäre wenn (also etwa: wenn es die Nato damals nicht gegeben hätte). Es ist ja auch alles andere als ein Zufall, dass die Sowjets genau zu dem Zeitpunkt aus Österreich abzogen, als die Bundesrepublik Deutschland der Nato beitrat. Die Nato wurde in Moskau weit ernster genommen als jedes einzelne europäische Land.

Natürlich ist es bequemer, sich als Österreicher einzureden, es selbst durch ein bloßes Verfassungsgesetz über die Neutralität geschafft zu haben, sich auch ohne Kosten für eine ausreichende Landesverteidigung ewige Ruhe, Frieden und Sicherheit zu erkaufen. Die Neutralität ist im Grunde reines Trittbrettfahren bei der Stabilitätspolitik anderer. Der Glaube an die Neutralität als Sicherheitsfaktor ist genauso unsinnig wie der Glaube eines anderen Grüppchens von Illusionskünstlern, dass die heutige EU den Frieden der europäischen Nachkriegszeit geschaffen hätte.

Das hat einzig die Nato geschafft und die mit ihrer Gründung verbundene Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich, also der beiderseitige Verzicht auf die fast ewige Revanche für die jeweils letzte Kriegsniederlage. Und die fundamentale Bedeutung der Nato sieht man etwa auch daran, dass die Gründungsmitglieder der EWG 1958 durch die Bank Mitglieder der eine Dekade davor gegründeten Nato gewesen sind.

Ein kurzer Überblick zeigt die vielen historischen Verdienste der Nato, von denen auch Österreich profitiert hat:

  1. Nur durch die Nato wurde eine Wiederholung des dramatischen Fehlers nach dem Ersten Weltkrieg verhindert, wo nicht nur der amerikanische Isolationismus, sondern auch das Drängen der Westeuropäer (insbesondere Franzosen) für eine komplette Abwendung der USA von Europa gesorgt hat.
  2. Nur durch die Nato – also durch die vereinten Kräfte von Westeuropäern und USA – konnte ein weiteres Vordringen der sowjetkommunistischen Kräfte über die Beutegebiete des Weltkriegs hinaus verhindert werden.
  3. Insbesondere Italien und Griechenland standen eine Zeitlang angesichts der dortigen Stärke der linksextremistischen Kräfte sehr auf der Kippe, dass jemand nach einem sowjetischen Einmarsch "gerufen" hätte.
  4. Der Nato und damit dem amerikanischen Atomschirm war es verdanken, dass sich Westeuropa nie sowjetischen Erpressungsversuchen beugen musste, die an sich auf Grund der sowjetischen Panzer-Überlegenheit und des Fehlens einer ebenbürtigen Atomstreitmacht in Westeuropa sehr "überzeugend" gewesen wären.
  5. Die militärische Integration in der Nato hat einen deutsch-französischen Konflikt unmöglich gemacht.
  6. Der Nato ist es auch zu verdanken, dass die sowjetischen Streitkräfte nach deren Invasion in Ungarn und der Tschechoslowakei stehen geblieben sind. Sowohl 1956 wie 1968 hatte die österreichische Regierung nicht ohne Grund deren Weitermarsch befürchtet. Wie wir heute wissen, gab es 1968 sogar sehr konkrete sowjetische Pläne, gleich durch Österreich auf das aufmüpfige Tito-Jugoslawien zuzumarschieren.
  7. Eine ähnliche positive Funktion hatte die Nato (genauer: einige Nato-Länder unter Führung der USA), als es in Jugoslawien zwischen 1991 und 1999 zu einem blutigen Schlachten zwischen den Serben und den einzelnen sich von ihnen losreißenden Nationen gekommen war, das ohne dieses Eingreifen wohl noch jahrelang weitergegangen wäre.
  8. Die Nato hat einen entscheidenden Beitrag geleistet, dass die türkisch-griechischen Konflikte nicht eskaliert sind.
  9. Die Nato hat auch einen Beitrag zum friedlichen Übergang ihrer Mitglieder Spanien und Portugal zur Demokratie geleistet.
  10. Sie hat in Westeuropa das Wirtschaftswunder und die Gründung der EWG ermöglicht.
  11. Sie hat 1955 durch die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland endgültig die Gleichberechtigung des von Frankreich und den Benelux-Ländern lange so gefürchteten, und nach 1918 so gedemütigten Erbfeindes ermöglicht – sodass sich heute niemand mehr an die frühere Erbfeindschaft auch nur erinnern kann.

All diese Verdienste waren zur Gründungszeit der Nato alles andere als selbstverständlich. Dafür sollte ihr gerade auch von Österreich Anerkennung gezollt werden, dessen Osthälfte ohne Nato ein DDR-ähnliches Schicksal gedroht hätte. Und natürlich sind das nicht Verdienste einer abstrakten Organisation, sondern des in der Nato sich kondensierenden Konsenses aller Teilnehmerstaaten.

Das heißt aber nun gewiss nicht, dass die Nato keine Defizite, keine Probleme hätte. Diese werden nach Ende des Ostblocks sogar zunehmend schlagend. Dazu zählen:

  1. Ab 1989 das Fehlen der alten Bedrohung von außen und damit deren automatisch zusammenschweißende Wirkung;
  2. Der seither eingetretene Rückgang der Begeisterung für die Nato in vielen alten Nato-Staaten – während in den neuen Mitgliedern aus Osteuropa die Begeisterung für die Nato sehr groß ist, wo sich vor allem die Balten und Polen schon aus historischen Gründen sehr vor den Russen fürchten und die Nato in ihrer ursprünglichen Rolle sehen - als Einbindung der USA in Europa;
  3. Die Uneinigkeit unter den Nato-Ländern über die Gefährlichkeit der neuen Bedrohungen (Massenmigration, Demographie, Islamismus) und die richtigen Gegenmaßnahmen;
  4. Der Fehler (den man natürlich gerade in Österreich nicht als Fehler sehen will), 1973 erstmals ein neutrales Land in die EWG aufzunehmen, statt wie davor immer klar zu sagen, dass eine EWG-Mitgliedschaft ohne Nato nicht möglich ist. Seither ist das funktionale Verhältnis zwischen der Nato und der europäischen Integration in ungeklärtem Nebel, während am Anfang die EWG einfach als die ökonomische Unterabteilung der Nato in Europa gegolten hat.
    In der EU wird zwar seit Jahrzehnten von einer gemeinsamen Sicherheitsstrategie schwadroniert – wo die Neutralen aber nie klar sagen, wieweit sie wenigstens da mitmachen wollen; wo etliche andere hingegen aus gutem Grund bremsen und fragen: Wozu, haben wir nicht genau dafür ohnedies schon die Nato? Täte es uns gut, wenn wir die Amerikaner aus unserer Sicherheitspolitik hinauswerfen und dafür die Österreicher drinnen haben?
    (Die Erinnerung daran, dass Irland damals überhaupt nur aufgenommen worden ist, weil gleichzeitig auch Großbritannien zur EWG stieß, weil man das enge Verhältnis der beiden Staaten nicht aufreißen wollte, ist in Wochen wie diesen absolut prickelnd. Denn die enge Verbindung zwischen Irland und Großbritannien ist ja auch "das" zentrale Problem rund um den Brexit);
  5. Die Uneinigkeit, wieweit man die beitrittswilligen Länder im Osten wie die Ukraine und Georgien in die Nato aufnehmen soll;
  6. Die ungleiche Verteilung der Lasten, also die ungleichen BIP-Prozentsätze, die für die gemeinsame Verteidigung ausgegeben werden. Vor allem dass das wirtschaftlich so starke Deutschland die Sicherheitsanstrengungen zunehmend nur noch simuliert und sie ansonsten den Amerikanern überlässt, sorgt für zunehmenden Ärger;
  7. Die Tatsache, dass auch die Türkei weiterhin Nato-Mitglied ist, was einst angesichts der Existenz eines demokratisch-laizistischen Rechtsstaats in der Türkei und angesichts des türkischen Antagonismus zur russischen Expansionspolitik durchaus Sinn hatte. Heute aber ist die Türkei weder Rechtsstaat noch Demokratie, dafür mit den Muslimbrüdern und Russland eng liiert. Das empört mit vollem Recht vor allem die USA unter Trump, die nun erstmals einen Waffenboykott über die Türkei verhängt haben;
  8. Der fehlende Konsens, welche Politik gegenüber den anderen großen Akteuren auf der Weltpolitik einzuschlagen ist – so haben es viele europäische Nato- und EU-Staaten vorgezogen, mit China lieber zu kuscheln, statt gemeinsam mit den USA der aggressiven chinesischen Politik entgegenzutreten (etwa, um die auch europäische Firmen treffende chinesische Politik gegenüber ausländischen Investoren zu bekämpfen, etwa um die offensive und damit friedensbedrohende militärische Aufstellung der Chinesen zu bremsen);
  9. Auch gegenüber dem Iran und Israel hat man in Berlin, Paris und Brüssel ganz andere Vorstellungen als in Washington;
  10. Der wachsende, an die Jahre nach 1919 erinnernde Hang zum Isolationismus in den USA;
  11. Die Ablehnung einer deutsch-französischen Führungsrolle in Europa, die von Paris und Berlin zur Füllung dieses Vakuums geplant ist, durch immer mehr der anderen Staaten Europas;
  12. Und last not least der allgemeine Verlust der Wichtigkeit gemeinsamer Anstrengungen um Frieden und Sicherheit, aber auch um außenpolitische Kompromisse nach einer so langen und erfolgreichen Friedensperiode.

Man sollte also nicht allzu viel darauf verwetten, dass es die Nato noch sehr lange geben wird. Auch wenn das zweifellos mit Destabilisierung verbunden sein wird. Auch wenn sie 70 Jahre eine tolle Leistung geschafft hat. Ähnliche Aussagen können übrigens auch für die EU getroffen werden.

PS: Ein kluger Gesprächspartner hat die Nato-Mitgliedschaft der islamischen Türkei mit dem deutsch-österreichisch-italienischen Dreibund im Ersten Weltkrieg verglichen. Damals hätte jede ehrliche Analyse von Anfang an sehen müssen, das Italien viel mehr Interessen hat, gegen die Mittelmächte, statt mit ihnen zu kämpfen. Auch bei der Türkei sollte man sehr intensiv damit rechnen, dass sie ihre Gewehre im Ernstfall umdreht und plötzlich auf die vermeintlich eigenen Verbündeten schießt.

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