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Eine Doppelkrise von Demokratie und EU

Brexit oder Nicht-Brexit? Das ist der Stoff, aus dem auch unbegabte Kabarettisten (und das sind ja die meisten) ihre Späßchen zimmern können. Nichts ist leichter als das – vor allem, da es ja jeden Tag neue "Breaking News" zum Brexit gibt, aber noch weit und breit keine Lösung. Viel spannender sind aber in Wahrheit die zwei dem Chaos zugrunde liegenden Fragen: Sehen wir da ein Demokratie-Versagen? Und: Wie weit ist neben den Briten auch die EU schuldig?

In Sachen Demokratie sagen Berufspolitiker und ihre journalistische Claque jetzt gerne: Da seht ihr, was herauskommt, wenn man das Volk entscheiden lässt. Wahr ist aber das Gegenteil: Das Volk hat klar und eindeutig entschieden – ob man nun Sympathie dafür hat oder nicht –, nur das repräsentativ gewählte Parlament in Westminster ist nicht imstande, über die Konsequenzen klar zu entscheiden.

Diese parlamentarische Entscheidungsunfähigkeit ist keineswegs eine Premiere. Sobald mehr als zwei Möglichkeiten bestehen, kommt es immer wieder vor, dass ein Parlament sehr lange zu keiner Mehrheit kommt. So hat die letzte deutsche Regierungsbildung ein volles halbes Jahr gedauert. Aber auch in Tschechien, Belgien, Italien und etlichen anderen Staaten hat es schon sehr lange gedauert, bis eine Regierungsmehrheit gefunden war (was übrigens dem jeweiligen Land und seiner Wirtschaft ganz und gar nicht geschadet hat).

Das passiert vor allem dann, wenn irgendwelche Parteien von den anderen als unberührbar hingestellt werden. Oder wenn die Politik das Ergebnis einer Entscheidung des Volkes aushebeln will. Beides war zuletzt in Deutschland der Fall.

Denn die letzten Wahlen haben eigentlich eine klare Mehrheit rechts der Mitte ergeben – jedoch wollte Angela Merkel das nicht zur Kenntnis nehmen, sondern unbedingt Richtung links koalieren, zuerst mit Grün (sowie FDP), und dann mit der SPD, als die FDP erkannt hat, dass es mit den Grünen nicht vernünftig gehen kann und sich daher lieber mit der Oppositionsrolle begnügt hat (was großen Respekt verdient). Merkel hingegen macht weiterhin wider die Bevölkerungsmehrheit linke Politik, selbst um den Preis, dass deswegen jetzt ihre eigene Karriere zu Ende geht.

Also ist auch das ein Beispiel, wo die repräsentative Politik nur deswegen ins Schleudern gekommen ist, weil sie sich über den klar entscheidenden direktdemokratischen Souverän hinweggesetzt hat. So wie es eben auch jetzt wieder in England geschieht. Denn auch dort hat das Volk ja eigentlich klar gesagt (auch wenn es von vielen Mainstream-Journalisten dafür zu einer Ansammlung von Trotteln erklärt worden ist), dass es hinaus will aus der EU.

Hingegen war es das britische Parlament, das bisher an der Aufgabe gescheitert ist, eine der möglichen Austritts-Varianten auszuwählen. Denn die "Remainer" (also die Abgeordneten, die trotz des Referendum-Ergebnisses unbedingt in der EU bleiben wollen) wie auch die meisten Labour-Abgeordneten haben bisher gegen jede Variante gestimmt. Beide Gruppen ignorieren das Referendums-Ergebnis.

Labour hat – zumindest bisher – in der Brexit-Debatte überhaupt ein anderes Ziel verfolgt: Die Partei denkt einzig daran, wie man den Brexit-Disput nutzen kann, um die verhasste Regierung zu stürzen.

Aber auch die konservative Premierministerin hat versagt. Denn sie blockiert – zumindest bisher – den logischen Ausweg aus der Malaise: eine neuerliche Abstimmung, wo der Wähler dann seinen Brexit-Beschluss selber präzisieren – oder widerrufen kann. Ja, auch ein Widerruf wäre kein Debakel für die direkte Demokratie, haben doch schon viele Parlamente nach drei Jahren das Gegenteil von früher beschlossen.

Und nach EU-Recht steht den Briten ein solcher Widerruf auch zu – während die ständigen Fristverlängerungen eigentlich keineswegs ein Rechtsanspruch der Briten sind, sondern nur zeigen, dass auch der EU-Rat insgeheim ratlos ist.

Freilich müsste eine neue Referendumsentscheidung mehrstufig sein, oder wie etwa die österreichische Präsidentenwahl in zwei (oder notfalls auch drei) Etappen erfolgen. Das ist keine Hexerei, sondern war schon bei vielen Problemen in anderen Organisationen der Weg zu einer sauberen Entscheidung gewesen. Dabei müsste die erste Frage lauten:

Wollt ihr

  1. einen harten Brexit ohne jede Vereinbarung;
  2. die Annahme des mit der EU ausgehandelten Vertrags;
  3. oder angesichts der nunmehrigen Perspektiven doch in der EU bleiben?

Sollte keine der drei Alternativen dabei eine absolute Mehrheit erzielen, dann wäre der einzig saubere und faire Weg, zwischen jenen beiden dieser drei Möglichkeiten, für die sich die meisten Bürger entschieden haben, eine zweite Runde, ein Stechen zu machen.

Alternativ könnte man dieses Stechen auch gleich bei der ersten Abstimmung anhängen, nämlich durch eine zweite Frage, die etwa so lauten müsste:

Wenn die persönlich favorisierte Variante nach der Auszählung am wenigsten Unterstützung haben sollte und daher ausscheidet, bitte um Angabe, welche der beiden anderen Möglichkeiten dann bevorzugt wird.

Solche Entscheidungsprozeduren sind schon zahllose Male angewendet worden und haben immer zu einem klaren Ergebnis geführt. Notfalls könnte man auch eine dritte Runde machen, um eine vierte Variante abzufragen, nämlich die Festlegung auf einen Austritt plus Zollunion. Das wäre zwar komplizierter, aber durchaus auch möglich.

Jedoch: May und die Mehrheit der Abgeordneten wollen das nicht, ebensowenig der "Speaker", der sich als skurriler Selbstdarsteller entpuppende Parlamentspräsident. Er hat lieber im Parlament sinnlose Probeabstimmungen gemacht, wo bei acht Varianten keine einzige eine Mehrheit bekommen hat. Eben weil sie alle parallel und nicht im skizzierten Stufensystem abgestimmt worden sind.

Man sieht: Die politische Klasse will das Volk wieder möglichst draußen lassen. Sie sieht das erste Referendum (das David Cameron ja auch nur beschlossen hat, um Druck von den Unterhaus-Wahlen zu nehmen) als einmaligen Fehler an, den man keinesfalls wiederholen möchte. Das erinnert lebhaft an Österreich, wo ja auch die direkte Demokratie von Schwarz und Blau vor den Wahlen versprochen, danach aber schubladisiert worden ist. Und wo Rot schon zweimal Referenden initiiert hat (Zwentendorf und Wehrpflicht), diese aber ganz eindeutig immer nur als Taktik in der Parteienkonfrontation eingesetzt hat, und nie als demütige Haltung, um den Souverän souverän entscheiden zu lassen.

Man könnte nun sagen: Geschieht der Politik recht, wenn sie sich ob ihrem Klammern an der eigenen Rolle in ihrer Taktiererei so verfängt, dass sie dabei immer ohnmächtiger wird. Das könnte man in der Tat voll Schadenfreude sagen – ginge es nicht um die Res publica, um die Sache, um entscheidende Fragen der ganzen Nation.

Die EU agiert genauso blamabel

Die EU – Rat wie Kommission – kann sich seit Wochen hinter den britischen Peinlichkeiten und Entscheidungsunfähigkeiten verstecken und stolz sagen: Wir 27 sind uns total einig. Das kann man auch den ohnedies völlig EU-unkritischen Medien ganz gut verkaufen.

Nur: Dieses "Wir sind uns einig" heißt im Klartext: Die EU ist trotz der auch für alle 27 verbleibenden Mitgliedsstaaten bedrohlichen Konsequenzen, trotz des drohenden Verlustes des zweitgrößten Mitglieds, dessen Wirtschaft so groß ist wie die von 19 anderen EU-Staaten zusammen, völlig unflexibel und bewegt sich seit Monaten, ja seit Jahren nicht. Sie sagt den Briten lediglich ständig: Friss oder stirb.

Diese Einigkeit, diese Unflexibilität ist alles andere als eine Leistung. Sie ist eine Schande. Dahinter verbirgt sich die Angst vieler Eurokraten: Man dürfe den Briten ja nicht helfen und entgegenkommen, sondern müsse sie blamieren, um solcherart auch alle anderen mit der Entwicklung der EU nicht so glücklichen Staaten zu disziplinieren: "Da seht ihr, wie es einem geht, der gehen will."

Jedoch: Die 27 schaden sich selber mindestens ebenso, wie es die Briten tun. Sie hätten den drohenden Schaden vor allem schon vor dem britischen Referendum erkennen müssen, und schon damals London eine sinnvolle Gesamtreform der EU versprechen müssen, die den Briten entgegenkommt. Jedoch wollten das die Euro-Zentralisten, die lieber von "Vereinigten Staaten von Europa" träumen, die vor allem in Brüssel und Paris daheim sind, und die Linksparteien keinesfalls. Dabei wäre die Möglichkeit einer gleichberechtigten Teilnahme an einem EU-Binnenmarkt minus unbeschränkter Personenfreizügigkeit nicht nur für die Briten, sondern auch für viele andere Staaten unglaublich attraktiv. Es würde übrigens auch das (besonders für Österreich wichtige) Dauerproblem Schweiz lösbar machen.

Jedoch: Die Europaideologen wollen nicht einmal zu fünf Prozent von ihrem – problematisch gewordenen – EU-Ideal zurückstecken, und riskieren in ihrem Fanatismus und ihrer Blindheit den Fortbestand der ganzen hundert Prozent.

PS: Fußnote zur repräsentativen Demokratie: Eigentlich noch viel peinlicher als die Performance des britischen Parlaments ist das, was sich seit Jahr und Tag in zwei Untersuchungsausschüssen des österreichischen Parlaments abspielt. Diese sind zu rein parteipolitischen Watschentänzen verkommen, wo es überhaupt nicht mehr um eine sinnvolle Erkenntnissuche geht. Wo sich Abgeordnete wie allmächtige Richter aufzuführen versuchen und ein Tribunal veranstalten – ohne dass es irgendein echtes Delikt gäbe. Wo dafür als Kollateralschaden einer der drei – ohnedies schon bisher ziemlich jämmerlichen – österreichischen Nachrichtendienste endgültig zertrümmert und bis auf die Unterhosen lächerlich gemacht wird. Es ist wirklich katastrophal, was sich da abspielt. Besonders katastrophal ist, dass nur die Abgeordneten selber das Trauerspiel abstellen könnten, aber in ihrer Selbstüberschätzung nicht tun. Sie begreifen nicht einmal, welchen Schaden sie dem Prinzip der repräsentativen Demokratie antun.

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