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Die Türkei, das Demonstrationsrecht und der seltsame Herr Kern

„Meine Partei hat das Demonstrationsrecht erkämpft.“ Atemberaubend und unverfroren, was da Christian Kern jetzt in einem ORF-Interview (natürlich vom historisch ahnungslosen Moderator unwidersprochen) von sich gegeben hat. Der SPÖ-Vorsitzende hat freilich nicht dazu gesagt, wann das eigentlich gewesen sein soll. (mit nachträglicher Ergänzung)

Meint er etwa 1848, als liberal-bürgerliche Studenten das erste Mal eine Verfassung und einschlägige Grundrechte erkämpft hatten? Oder meint er 1867, als unter Franz Joseph der bis heute gültige Grundrechtskatalog Gesetz geworden ist (während die Sozialdemokratie noch sehr irrelevant gewesen ist)? Oder meint er den Bürgerkrieg des Februar 1934, in dem sich die Sozialdemokraten von den Nazis instrumentalisieren haben lassen, wie die Historikerin Gudula Walterskirchen und ihr deutscher Kollege Michael Stürmer nun sehr überzeugend nachgewiesen haben (Buch bei Amazon)? Oder meint Kern den SPÖ-Säulenheiligen Karl Renner, der sich abwechselnd bei Adolf Hitler und Josef Stalin angebiedert hat? Oder meint er Konventionen, die von Europarat beziehungsweise UNO ganz ohne SPÖ erstellt worden sind?

Oder meint er etwa den Wiener Polizeipräsidenten, einen braven Genossen, der reihenweise in den letzten Monaten Demonstrationen christlicher Aktivisten verboten hat? Und der im Vorjahr gegen eine Kundgebung der „Identitären“ eine orts- und zeitnahe Gegendemonstration von rotgrünen Linksextremisten genehmigt hat, die in einem Mordversuch der Linken gegipfelt hat (ohne dass er sich bis heute dafür rechtfertigen hat müssen)? Ist das das „Blut“, von dem Kern schwadroniert?

Oder meint Kern die seltsam widersprüchliche Haltung seiner Partei, die einerseits behauptet, ein Verbot von Propagandaveranstaltungen für den türkischen Diktator wäre menschenrechtswidrig, die andererseits den Niederlanden Beifall zu klatschen versucht, welche (zumindest während des eigenen Wahlkampfs) solche Veranstaltungen konsequent unterbindet?

Oder hat er gar sich selber gemeint? Hat er doch in den letzten Tagen einmal gesagt, es brauche eh kein Verbot von Kundgebungen für den türkischen Diktator, weil die nicht geplant seien; ein andermal, dass die EU das verbieten solle; und jetzt, dass Österreich solche Versammlungen auch im Alleingang verbieten solle – aber gleichzeitig akzeptiert er unter düsterem Herumstänkern seit fast zwei Wochen den diesbezüglichen Gesetzesentwurf des Innenministers nicht.

Oder hat er gar nichts gemeint? Sondern nur von der SPÖ geredet, weil ein Mensch mit seinem nie über Parteiakademien hinausgekommenen Lebenslauf ja automatisch glaubt, dass der Sozialdemokratie alle Errungenschaften von der Abschaffung der Folter und des 72-Stunden-Tages bis zur Einführung der Meinungsfreiheit zu verdanken wären. Und dass ohne sie sofort wieder die Einführung von Sklaverei und Vielweiberei vor der Tür stehen würden.

Kern sollte halt sagen, was er meint. Von den devoten Stichwortgebern im Staatsfernsehen wird er freilich solche Fragen nicht zu erwarten haben.

So kann die SPÖ zumindest dort ihr seltsames Doppelspiel fortsetzen: Sie kann einerseits so tun, als wäre sie gegen die Propagandaauftritte des türkischen Diktators; andererseits kann sie weiter jede gesetzliche Ordnung des derzeit von Willkür geprägten Versammlungs- und Kundgebungsrechts verhindern.

Es ist freilich gar nicht so schwer, die Ursachen der SPÖ-Probleme zu verstehen: Die Partei braucht angesichts ihrer rasch dahinschmelzenden Wählerbasis die Stimmen der Austrotürken wie einen Bissen Brot. Die Erdogan-Anhänger haben bisher ja fast geschlossen die SPÖ gewählt (die den national-islamistischen Türken auch immer wieder einschlägige Kandidaten auf ihren Listen angeboten hat). Das gleiche spielt sich in Deutschland ab, was traditionell stark die österreichischen Genossen beeinflusst – mit dem einzigen Unterschied, dass es für die SPD noch um viel mehr türkische Stimmen gibt. Weshalb sie dort auch die (meist türkisch-deutsche) Doppelstaatsbürgerschaft durchgesetzt hat.

Zugleich ist aber bei den anderen SPÖ-Wählern (sofern über den engen Kreis der Karrieristen hinaus noch vorhanden) zumindest seit dem letzten Jahr ein türkeifreundlicher Kurs absolut unverkäuflich geworden. Das schafft für die Partei einen teuflischen Zwiespalt im gesamten Themenkomplex Türkei, Erdogan-Diktatur, unerlaubte, aber nie geahndete türkisch-österreichische Doppelstaatsbürgerschaften und Politischer Islam. Kern versucht sich über diesen Zwiespalt mit starken, wenn auch ständig wechselnden Worten und zugleich bisher völlig fehlenden Taten hinwegzuturnen. Im parteifrommen ORF gelingen seine dabei betriebenen Geschichtsklitterungen sogar – von der SPÖ als Erfinderin des Demonstrationsrechtes bis zum Nichtverbot von etwas, was man angeblich verbieten will.

PS: Laut Kern hat ausgerechnet Tirol einen Weg entdeckt, wie man ohne Verschärfung von Bundesgesetzen (die in Wahrheit vor allem solche des Strafrechts und der sofortigen Landesverweisung sein müssten) Doppelstaatsbürgerschaften verhindert. Ich kenne diesen Weg nicht und habe dazu auch keinerlei Information finden können, außer dass man halt in Tirol nach der auch bei Kern bei jedem Problem beliebten Methode einen Arbeitskreis - pardon, das heißt heute: Task force - eingesetzt hat. Der sonst so fake-news-gierige ORF hat Kern (natürlich) nicht danach gefragt. Aber eines ist klar: Kern hat – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – damit einen Frontalangriff auf seine Wiener Genossen gestartet. Denn in Wien gibt es weit mehr Türken und damit zweifellos auch Doppelstaatsbürgerschaften als in allen anderen Bundesländern, was offenbar leicht zu verhindern wäre. Freilich: Schon wieder hat Kern nicht verraten, was er meint, also was da die Tiroler denn angeblich machen.

PPS: Im türkischen Dilemma tun sich übrigens die Grünen viel leichter als die Sozialdemokraten: „Ihre“ Türken sind laizistische Erdogan-Gegner oder Kurden. Die Grünen können sich daher des Morgens weiterhin in den Spiegel schauen.

Nachträgliche Ergänzung: Inzwischen hat sich herausgestellt, was die von Kern so gelobte Tiroler "Task force" denn eigentlich macht: Sie besteht im wesentlichen aus einer Beamtin, die Fälle anschaut, WENN eine Doppelstaatsbürgerschaft einmal bekannt wird. Das heißt: Natürlich werden auch in Tirol weiterhin die allermeisten Fälle nicht bekannt; natürlich hat auch diese Tiroler Beamtin ohne ein entsprechendes Bundesgesetz keinerlei echte Sanktionsmöglichkeiten in der Hand - außer eventuell bei eindeutiger Beweislage eine Aberkennung der Staatsbürgerschaft zu beantragen. Was nicht in vielen Fällen passiert sein dürfte. Fake a la Kern, was locker den Trump-Fakes gleicht.

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