Buchrezension: Wider die Wirklichkeitsverweigerung

Der Soziologe Volker Kempf liefert mit diesem Buch eine zusammenfassende Würdigung des 1984 verstorbenen Widerparts der Frankfurter Schule, des „Antisoziologen“ und scharfen Kritikers der 68er-Bewegung, Helmut Schelsky. Begriffe wie „die skeptische Generation“ oder „die nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ wurden von ihm ebenso geprägt wie „Sprachherrschaft“, ein Phänomen, das heute unter der Bezeichnung „Political Correctness“ bekannt ist.

Der Buchtitel zielt auf Schelskys Attacke auf die 68-er Revolutionäre und deren Kritiklosigkeit gegenüber sozialistischen Politverbrechern vom Schlage Maos, Ho Chi Minhs oder Ché Guevaras ab. Niemals haben sich die – nach ihrem überaus erfolgreichen „Marsch durch die Institutionen“ – längst in hohe und höchste Staatsämter gelangten einstigen Revoluzzer, von den Gräueltaten ihrer Vorbilder distanziert. Die moralinsauren linken Spießer kritisierten indes ihrerseits Schelsky scharf dafür, während der NS-Zeit zu den vielen Mitläufern gezählt zu haben, die ihre Zukunft (und ihre Sicherheit) nicht durch Systemkritik gefährden wollten.

Kempf schildert detailliert den Werdegang Schelskys und die Hochschullandschaft im Deutschland der Nachkriegszeit, die offensichtlich einer Schlangengrube glich. Karrieren wurden hier (da hat sich bis heute wenig geändert!) häufig nicht von wissenschaftlicher Seriosität bestimmt, sonder vielmehr auf politische Zuverlässigkeit und Zeitgeistkompatibilität gegründet.

Thomas Hobbes´ pessimistisches Menschenbild bestimmte maßgeblich das Denken Schelskys. Für ihn war der britische Herold unbeschränkter und unbeschränkbarer Staatsmacht „der erste Intellektuellenkritiker“ – eine hochinteressante, wenn auch ungewöhnlich erscheinende Perspektive. Seine Arbeit war überaus breit angelegt und erstreckte sich auf so unterschiedliche Gebiete wie Familie, Sexualität, Jugendbewegung und -protest, sowie „Herrschaftsansprüche“ der Intellektuellen. Letzteren warf er vor, „…den Herrschafts- und Handlungsformen des Klerus in früheren Zeiten [zu] entsprechen“ – und sich damit zu einer neuen Priesterkaste aufzuschwingen.

Dieser Teil seiner Arbeit lässt Schelskys Werk heute hochaktuell erscheinen. Der Einfluss einer über die völlig unbeschränkte Deutungshoheit verfügenden, parasitär lebenden Intellektuellenkaste, die jeden Bezug zum Leben außerhalb geschützter Werkstätten verloren hat und die aus der lichten Höhe ihrer großzügig eingerichteten Elfenbeintürme dem zwar gemeinen, immerhin aber produktiv tätigen Volk unentwegt vorschreibt, wie und was es zu denken hat, ist heute zweifellos größer als zu seiner Zeit.

Der „Herrschaft durch Sprache“ stand Schelsky also kritisch gegenüber. In Abwandlung eines Zitats des deutschen Staatsrechtlers Carl Schmitt formuliert er: „Souverän ist, wer den Sachverhalt definiert“. Wie wahr! Was würde der Gelehrte, der von den totalitären Tendenzen des Gender Mainstreaming und den damit verbundenen, nicht nur sprachlichen, Anmaßungen noch keine Vorstellung hatte, dazu wohl zu sagen haben?

Wider die Wirklichkeitsverweigerung
Helmut Schelsky Leben – Werk – Aktualität
Volker Kempf
Olzog-Verlag, München 2012
224 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-7892-8355-2
€ 29,90

Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien.

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