Die Ibiche des Kranikus

Neulich hatte ich ein lustiges Erlebnis. Auf einer Kilometeranzeige eines Autos stand die Zahl „1648". Und ich dachte – hmmm, 1648. Vermutlich würde ein Großteil der Menschen heute bei dieser oder ähnlichen Zahlen (753, 333, 1618) gar nichts (mehr) sehen.

Als wir jung waren, jammerten unsere Eltern immer darüber, dass wir nichts mehr auswendig lernen würden – Gedichte, Jahreszahlen, den Anfang der Ilias. In ihrer Jugend sei das normal gewesen. So normal, dass es fast zu jedem „klassischen" Gedicht, unter welchem Generationen von Schülern gestöhnt haben, eine „Witzversion" gab – zumeist ziemlich flach, aber mehr brauchte man ja im Druckkochtopf des Klassenzimmers nicht: „Die Ibiche des Kranikus", oder die Kurzform des „Tauchers"? „Gluck gluck gluck weg war er". Pruhahah.. Ich hatte in meiner Gymnasialzeit den Eindruck, dass wir damals immer noch genug lernten, bezweifle aber, dass das heutzutage auch nur ansatzweise noch der Fall ist. Meine Kinder lernen kaum noch auswendig.

Dabei gibt es wenig, das so sehr ein Zeichen gegen die internetbedingte Kahlschlag-Verflachung des menschlichen Geistes ist wie das auswendig lernen eines Gedichtes. Es ist nachgewiesen, dass längeres Arbeiten am Bildschirm die Fähigkeit zu komplexem Denken reduziert. Wer aber ein Gedicht aus der Zeit Schillers nicht nur in der Schule lesen, sondern verinnerlichen muss, setzt ein starkes Zeichen.

Wer sich die Mammut-Mühe macht, die „Kraniche des Ibikus" aus dem Jahr 1797 zu memorisieren, der erwirbt nicht nur kurz, sondern für sein ganzes Leben (!) die Fähigkeit, in die Denkwelt des endenden 18. Jahrhunderts einzutauchen. Und lernt ein wirklich tolles Gedicht mit supernatural twist am Ende. Machen Sie mal den Test, was Sie noch wissen. Ich behaupte, Sie bekommen noch einiges aus der Schulzeit zusammen. Zudem: Wann darf man heutzutage noch mit ganz entspannten Gesicht „Busen" sagen? („doch dem war kaum das Wort entfahren/ wollt er's im Busen gern bewahren…"). Na bitte.

Ich habe damals Gedichte gelernt, übrigens nicht gezwungenermaßen, ich konnte z. B. den „Totentanz" von Goethe und viele andere schöne Balladen. Wer jemals darüber stöhnte, den Anfang von „De bello gallico" auswendig lernen zu müssen oder den Beginn der Odyssee (ich spreche zu den humanistisch gedrillten unter meinen Lesern), kann sich jederzeit, zumindest für einige Absätze, rund 3.000 Jahre in der Denkwelt zurückversetzen. Das ist was in einer Zeit, in der 2010 schon ein alter Hut ist.

Ähnliches gilt für Jahreszahlen. Ich habe mit meinen Kindern einmal einen Zahlenstrahl ab der Zeit Jesu bis heute gezeichnet und wesentliche Ereignisse mit ihnen durchgegangen – und war erstaunt, wie viele Jahreszahlen ich noch im Hinterkopf hatte. Jahreszahlen aber schenken uns die Fähigkeit, Geschichte zu umfassen, ins Gedächtnis zu rufen, zu ordnen. Wie der unvergleichliche Otto v. Habsburg oft zu sagen pflegte: „wer nicht weiß, woher er kommt, weiß nicht, wohin er geht, weil er nicht weiß, wo er steht." Und all das, was die letzten rund 3000 Jahre geschehen ist, hat enorm viel mit uns zu tun. Nicht nur mit der Gesellschaft und der Welt, sondern mit jedem einzelnen von uns. Allerdings – ich muss diese Zahlen einmal im Schweiße meines Angesichts lernen.

Wir meinen, nichts mehr (auswendig) wissen zu müssen, weil wir alles auf unserem Handy im Internet nachsehen können. Mich haben immer jene Geschichten von Menschen fasziniert, die einige Monate oder Jahre in Isolationshaft zubringen mussten. Ohne Handy, das gab es erstaunlicherweise noch nicht. Glücklich diejenigen, die sich einen inneren Tagesablauf anlegen konnten, mit Balladen, die sie wiederholen, mit Geschichts- und Literaturstunden. Geordnet mit regelmäßigen Gebeten.

Alles auswendig. Alles immer abrufbar. Auch ohne Strom.

Wissen sie, ob Sie mal in Guantanamo eingesperrt sein werden? Mich motiviert das enorm. Auf geht's. Setzen Sie ein Zeichen. Der nächste Balladenschatz steht irgendwo im Regal und fängt Staub. Oder googlen Sie das Gedicht, wenn es nicht anders geht. Oder laden Sie meinetwegen auf youtube eine Lesung herunter und hören Sie sie so lange, bis Sie sie auswendig können.

Es lohnt sich.

PS: Was denken Sie, wenn der Kilometerzähler auf 800, 1740, 1871, 31 springt?)

Dr. Eduard Habsburg-Lothringen ist Autor, Drehbuchschreiber und Medienreferent von Bischof Klaus Küng. 

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