Die Inflation der guten Noten

Paragraf 124b Absatz 6 des Universitätsgesetzes sagt, dass alle österreichischen Studienrichtungen, die in Deutschland von einer Numerus-Clausus-Regelung betroffen sind, ein qualitatives Aufnahmeverfahren einführen können. Schon bisher gab es Zugangsbeschränkungen in den Fächern Medizin, Tiermedizin, Zahnmedizin sowie Psychologie – mit großem Erfolg. Die Drop-Out Quote konnte gesenkt werden, die Studierenden graduieren schneller und mit besseren Noten.

Eignungstests wie beim Medizinstudium helfen den Studierenden, schon im Vorfeld zu klären, ob sie die motorischen und kognitiven Voraussetzungen für das betreffende Studienfach erfüllen. Neben qualitativen Eignungstests gibt es noch ein zweites Mittel, überlaufene Studiengänge zu umschiffen – mit dem von der Rektorenkonferenz favorisierten Modell der Studienplatzfinanzierung, wie es schon mit großem Erfolg an den Fachhochschulen angewandt wird. Die Idee der Studienplatzbewirtschaftung ist so einfach wie stringent. Rektoren, Bildungsexperten aus dem Ministerium und der Bildungsminister legen dabei fest, wie viele Politologen, Mediziner, Chemiker und Volkswirtschafter der Arbeitsmarkt und der Standort Österreich optimalerweise braucht und benötigt.

Natürlich sind diese Zahlen relativ und können je nach Bedarf steigen oder sinken. Während zum Beispiel in den letzten zwanzig Jahren häufig von der Lehrerschwemme die Rede war, ist dieser Berufszweig mittlerweile zumindest in den naturwissenschaftlichen Fächern wieder sehr nachgefragt – nicht alle Stellen können zur Zeit besetzt werden. Mit einer vorrausschauenden Studienplatzbewirtschaftung könnte man das traurige Phänomen Studieren für die Arbeitslosigkeit vermeiden und so das mutwillige Verspielen von Lebenschancen junger Menschen hintanhalten.

Mangelnde Aussagekraft von Noten und Diplomen

Zugangsbeschränkungen nach Eignung und Bedarf sind auf organisatorischer Seite sicher geeignete Mittel, die richtigen Studenten für das richtige Fach zu finden, sagen aber noch wenig über die inhaltliche Ausrichtung der einzelnen Studiengänge aus. Auch hier gibt es einige bedenkliche Entwicklungen: Ausgehend von Amerika (betroffen sind hier auch sogenannte Eliteuniversitäten wie Yale oder Princeton) beobachten Wissenschafter eine Inflation guter Noten. Die Noten der Studierenden sind heute viel besser als noch vor 30 Jahren.

In Harvard graduiert jeder Zweite mit einem „Sehr Gut“. Im Jahr 2001 beendeten 91 Prozent der „Senior Graduates“ ihre Ausbildung mit Auszeichnung. Die Erklärungen für diese seltsame Entwicklung sind vielschichtig: Das Niveau ist gesunken und die Standards werden laufend herabgesetzt; schon ein Befriedigend wird von den Studierenden als ein persönlicher Affront gewertet. Auch in Großbritannien wird dieser Trend kontroversiell diskutiert. Dort glaubt man etwa, dass Hochschullehrer gute Noten vergeben, um bei den internationalen Rankings nicht zurückzufallen.

Vertreter von Wirtschaft und Universitäten kritisieren, dass eine Inflation der Vergabe von A-Level-Noten bei Schulabgängern ohne ausreichende Kenntnisse in den jeweiligen Fächern feststellbar sei. Deutschland hinkt bei dieser Entwicklung keinesfalls nach: So hat der Wissenschaftsrat 2005 folgendes festgestellt: Das fünfskalige Notenspektrum zur Unterscheidung von Leistungen wird in den meisten Studiengängen nur unvollständig ausgeschöpft. In den Diplomstudiengängen lagen die Durchschnittsnoten in Biochemie bei 1,51 und in Biologie und Physik bei jeweils 1,54. In Mathematik und den Naturwissenschaften schlossen insgesamt 87 Prozent der Absolventen ihr Studium mit „sehr gut“ und „gut“ ab.

In den Geistes-, Kultur-, und Sozialwissenschaften gibt es ähnliche Entwicklung. Psychologen graduieren mit einem Notenschnitt von 1,59, Philosophen mit einem Notenschnitt von 1,67, Politikwissenschafter und Soziologen mit jeweils 1,87 .Lediglich die juristischen Fakultäten schöpfen die Notenskala noch zur Gänze aus: Die Durchschnittsnote lag dort bei 3,17.

Das Fatale an dieser „Kuschelpädagogik“ ist, dass Noten somit ihre Aussagekraft verlieren. Wenn es in vielen Fächern de facto keine Fünf-Noten-Skala, sondern nur mehr eine Drei-Noten-Skala gibt, spüren die Studierenden dieses ungeschriebene Gesetz unbewusst und strengen sich weniger an. Wenn ein „Befriedigend“ eigentlich ein „Nicht Genügend“ ist, damit aber keine negativen Konsequenzen für das Fortkommen im Studium verbunden sind, verlieren viele den Anreiz und die Motivation, mehr als das Notwendigste zu tun. Eine Tendenz, die ich auch in meinen Lehrveranstaltungen beobachten konnte.

So wollte mich ein deutscher Student verklagen, weil er es als grob ungerecht empfand, dass ich seine durchschnittliche Bakkalaureatsarbeit mit einem Befriedigend benotete. Andere Studierende beschweren sich über ein Genügend oder ein Nicht Genügend und wollen die Note nachverhandeln. Mangelnde Leistung wird nicht mehr als solche erkannt, sondern als Fehler des Vortragenden bewertet. In den halbjährlichen Evaluierungen meiner Lehrveranstaltungen werden daher an erster Stelle von den Studierenden immer „zu hohe Anforderungen“ kritisiert.

Zu hohe Anforderung meint, dass von den Studierenden erwartet wird, Basistexte zuhause selbständig zu lesen und dass die zu Beginn des Semesters ausgeteilten Literaturlisten auch durchzuarbeiten sind. Das verpflichtende Rezipieren des Fächerkanons mit seinen verbindlichen Grundlagentexten, Rezensionen schreiben, das Durchstöbern aller relevanter Bibliotheken und Fachzeitschriften, Quellenkunde und Hermeneutik sind akademische Grundfertigkeiten, die mittlerweile nicht mehr bei allen Studierenden automatisch vorausgesetzt werden können.

Von hochbegabt bis studierunwillig

Bei den Studierenden bemerke ich eine Aufteilung in drei Gruppen. Da gibt es zwischen 15 und 20 Prozent Hochbegabte: Sie forschen, lesen, exzerpieren und schlussfolgern selbständig; die Lektüre solcher Abschlussarbeiten ist auch für den Lehrveranstaltungsleiter eine bereichernde und anregende Tätigkeit. Wer diese Arbeiten liest, wird feststellen, dass herausragende Bakkalaureatsarbeiten von Niveau und Umfang her oft frühere Diplomarbeiten übertreffen.

Die zweite Gruppe umfasst ungefähr 40 bis 50 Prozent und besteht aus den „Normalbegabten“: Da gibt es bei Lektürelisten und Hausarbeiten zwar rituelles Murren zu vernehmen, aber die Studenten wissen, dass sie für ihre Zeugnisse arbeiten müssen, und dass das Studium ihr Beruf ist. Die dritte Gruppe pendelt zwischen 30 und 40 Prozent und wird von mir studierunfähig und/oder studierunwillig genannt. Dem an sich so spannenden Unterrichtsfach wird mit fundamentalem Desinteresse begegnet, die für einen Kommunikationswissenschafter notwendigen Basistechniken des Schreibens, Redens, logischen Argumentierens, Recherchierens und statistischen Auswertens werden nicht beherrscht. Warum der Prozentsatz der Desinteressierten so hoch ist? Ich weiß es nicht, versuche aber bei jedem ein „brennendes Herz“ für sein Fach zu entflammen.

Fehlentwicklungen der Wissenschaftstheorie

Von Zeit zu Zeit überkommt mich allerdings der Verdacht, dass das mangelnde Interesse vieler Studierender nicht ursächlich mit dem langweiligen Vortragenden oder mäßig spannenden Inhalten zu erklären ist. Sondern es hängt vielmehr mit der fatalen Tendenz vieler sozial- und kulturwissenschaftlichen Studiengänge zusammen, ihre philosophischen Grundlagen und methodologischen Schätze zeitgeistigen Modeströmungen zu opfern.

Da wird in Lehrveranstaltungen mehr Gesinnung, Moral und empirischer Reduktionismus gelehrt, als versucht, formale Kohärenz, einen zeitlosen Fächerkanon, Logik und hermeneutische Fertigkeiten von der Pike auf zu vermitteln. Der Methodenpluralismus der Geistes- und Sozialwissenschaften wurde zugunsten von Positivismus und empirischer Verfahren massiv eingeschränkt.

Der Wissenschaftstheoretiker Eric Voegelin, der diese „Materialhuberei“ als „Anhäufung irrelevanter Daten … durch statistische Methoden“ bitter als Seinsvergessenheit der Wissenschaft bezeichnete, bemängelt, dass durch den Positivismus und die unkritische Übernahme naturwissenschaftlicher Methoden für die Sozialwissenschaften vor allem wertloses Material angehäuft wird: „Auswahl und Interpretationsprinzipien … [leiten sich] ohne solide theoretische Grundlage aus dem Zeitgeist, aus politischen Neigungen oder aus persönlichen Idiosynkrasien [her].“

Da die moderne Wissenschaft die Épisteme zerstört habe und der Positivismus für die Erforschung der sozialen Welt nicht nur ungeeignet sei, sondern auch zerstörende Wirkung für die Gesellschaft habe, bedienen sich die Studierenden ob der mäßig inspirierenden Lehrpläne lieber der Meinung und des Geschnatters. Wenn die Wissenschaft und die Universität wieder im alten Glanz erstrahlen wolle, so hat das weniger mit Geld und dem Bolognaprozess zu tun, als vielmehr damit, sich wieder verschüttet gegangenen Traditionen wie dem von Voegelin so genannten Aristotelischen Verfahren zu öffnen.

Ebenso ist es notwendig, den Reichtum der klassischen wissenschaftlichen Methoden der heutigen Studentengeneration zu vermitteln, anstatt sie mit Diskussionen über Sinn und Unsinn des Binnen-I, kruden Thesen wie der sozialen Konstruiertheit der Geschlechter (Judith Buttler, Camille Paglia) sowie der Ersetzung anspruchsvoller Lehrstühle für Naturrechtslehre und Logik durch Lehrstühle für Genderforschung, normative Politikwissenschaft, Internationale Entwicklung und kritische Weißseinsforschung (die "Wissenschaft" von den rassistischen Verfehlungen der Europäer und Nordamerikaner) geistig zu unterfordern und zu langweilen.

Voegelin forderte entgegen dieser Entwicklung den Einsatz von verstehenden und hermeneutischen Verfahren, „die ihren Ausgang von der Selbstinterpretation der Gesellschaft nehmen und einen Zugang zum Symbolbestand von Gesellschaften nehmen. … Die Konzentration auf methodische Exaktheit verdränge andere wichtige Fragen, etwa nach der Relevanz von Problemstellungen.“

Voegelin, der wie so viele andere österreichische Geistesgrößen vor der Nazibarbarei fliehen musste und heute nicht mehr an Österreichs Universitäten gelesen wird, ist meines Erachtens unbedingt beizupflichten. Anstelle von „abnehmenden Halbwertszeiten des Wissens“, „increasing knowledge gap“, „digital divide“ oder der „Steigerung der Absolventenzahlen“ zu plappern und ständig nur schneller (studieren) – höher (mehr Abschlüsse) – weiter (mehr Finanzen; publish or perish) zu fordern, ist es für die Universitäten meines Erachtens zuallererst notwendig, durch die Entbergung verschütteten Wissens wieder ihr einstiges Format zurückzugewinnen. Das kann nur bedeuten, durch die Verbindung von Lehre und Forschung die Spitze des Weltstandards der Wissenschaft erklimmen zu wollen, und sich nicht mehr länger mit Protesten, Unterfinanzierungsvorwürfen, methodisch fragwürdigen Länderrankings und Evaluationen vor den wichtigen und entscheidenden Fragen zu drücken.

Dr. Christian Moser ist Geschäftsführer des Friedrich Funder Institutes für Publizistik und Medienforschung und  wissenschaftlicher Leiter der Politischen Akademie der ÖVP.

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