Gemeinwohl und Wehrpflicht

Der Verteidigungsminister hat am 17. November 2011 sieben Varianten zur Umgestaltung des Österreichischen Bundesheeres vorgestellt; eine Variante baut auf der Wehrpflicht auf, von der er sich jedoch schon vor der angesagten Diskussion distanziert, die anderen gehen in Richtung Berufs- und Freiwilligenheer. Hohe Bezahlung und Abenteurerlust sind meist der Anreiz sich für letzteres zu melden, was bei Österreichern aber nur bedingt greifen wird. Die Aufgabenableitungen, die zu den personellen Größenordnungen der Varianten führen, sind nicht nachvollziehbar: Ein eher trauriger, aber veränderbarer Istzustand (Variante 1) wird mit einer nicht sehr realistischen Vision (zB Variante 3, Mischform Berufsheer und Miliz) verglichen und als schlechter „benotet“; der Beitrag zum Europäischen Sicherheits- und Verteidigungssystem ist nicht quantifiziert.

Bevor aber eine Reform des österreichischen Wehrsystems „durchgezogen" werden kann, wäre es zunächst notwendig, zu erarbeiten, für welche Aufgaben Österreich überhaupt bewaffnete Streitkräfte unterhalten muss. Wie, und auf Grund welcher Rechtsregelungen und auf Grund welcher politischen Vertrauensbeziehungen, diese Aufgaben von Österreich, auch im Verbund mit anderen Staaten, wahrgenommen werden könnten oder sollten. Dies hätte ein neues Rechtsgebäude zufolge. Erst auf dieser Grundlage ist es möglich, das zukünftige organisatorische Haus Bundesheer zu konzipieren, womit sieben eher oberflächlich wirkende Varianten nicht erforderlich wären. Ein im März 2011 gefasster Ministerratsbeschluss wurde in beunruhigend kurzer Zeit ausgearbeitet. Er könnte ein erster Schritt in Richtung der erforderlichen Grundlagen sein. Was vorliegt, ist noch nicht konsistent.

Zum Grundsätzlichen:

Es ist zutreffend, dass die gesetzliche Regelung der Wehrpflicht sanierungsbedürftig ist. So wurde von politischer Seite durch Streichen der Truppenübungen der Miliz der Boden entzogen. Intern führt Ressourcenmangel zu Verwendungen von Grundwehrdienern v. A. als sogenannte Systemerhalter, die wohl nicht in den Intentionen des Gesetzgebers lagen.

Eine entscheidungssuchende Diskussion ist damit überfällig. Geht sie vom Gemeinwohl der Gesellschaft aus, in der Gemeingüter verfügbar gemacht werden, so sollte reziprok ein Gemeindienst seine Logik haben. Dies führt in Richtung Allgemeine Dienstpflicht und würde den verengten Rahmen der Wehrpflichtdebatte sprengen. Rechtlich muss die Wehrpflicht Anker für diesbezügliche weiterführende Absichten bleiben.

Für eine Allgemeine Dienstpflicht, mit einem realistischen Potential von etwa 30.000 Dienstpflichtigen pro Jahr, spricht der sich abzeichnende Arbeitsumfang; innerhalb dieser Allgemeine Dienstpflicht wäre der Wehrdienst freiwillig. Ernst zu nehmende Bedenken gegen eine generelle Wehrpflicht, wie die einer obsolet gewordenen Massenarmee, einer selektiven Wehrpflicht – eines Relikts des National- und Obrigkeitsstaates – oder einer Armee auf Arbeitssuche wären mit einer von den Aufgaben ableitbaren Allgemeinen Dienstpflicht hinfällig oder aber zumindest relativiert.

Freiwillige, nicht entlohnte ehrenamtliche Leistungen, erbracht von drei Millionen Österreichern mit einem geschätzten Gegenwert von € 16 Milliarden sind im internationalen Vergleich beachtlich. Diese dienen meist dem Gemeinwohl, auf jeden Fall aber der Gesellschaft. Allerdings ist die Tendenz fallend; Gründe dafür könnten sein: Eine allgemeine Neigung der Gesellschaft zur „Entsolidarisierung“, eine Einengung der subjektiven Lebenswelt, medial vermittelte, fast autistische, Wirklichkeitsbilder, aber auch Bildungs-, Berufs- und Freizeitstress.

Trotzdem findet man oft ehemalige Zivildiener freiwillig beim Roten Kreuz und gediente Wehrpflichtige bei der Freiwilligen Feuerwehr, die ansonsten gar nicht auf eine derartige Idee gekommen wären. Also ermöglichen die Dienstpflichten, Engpässe nicht nur durch direkt erbrachte Leistungen im Wehr- und Zivildienst zu kompensieren, sondern geben auch einen Anstoß, über diese Dienstpflichten hinaus freiwillige Leistungen zu erbringen.

Die Dienstpflichten wurden mit der Wehrpflicht und dem davon abgeleiteten Wehrersatzdienst in Form einer Zivildienstnovelle gesetzlich geregelt. Eine Abschaffung der Dienstpflichten würde einen Trend vom Gemeindienst zur Privatisierung zur Folge haben und damit auch viele Bereiche des Gemeinwohls treffen: Begonnen von der Sicherheit – die militärischen Aufgaben eingeschlossen – bis hin zum Sozialwesen. Indirekt würde sich der Wegfall der Dienstpflicht also auf weite Teile der Zivilgesellschaft (vom Arbeitersamariterbund über die Entwicklungshilfe bis zur Freiwilligen Feuerwehr usw) negativ auswirken.

Auch sollten in einer Gesellschaft mit zahlreichen Abhängigkeiten Aufgaben eher gemeinsam als sektoral bewältigt werden; je kleiner das Land, desto wichtiger ist das! Es wird darauf ankommen, den Grundgedanken der über die Jahre vernachlässigten umfassenden Landesverteidigung unter einer passenderen Bezeichnung, zB „Umfassende Sicherheitsvorsorge“, zum Leben zu erwecken, passt dies doch in die neue EU Sicherheitsarchitektur.

Auswirkungen auf die militärischen Aufgaben

Internationale Einsätze und Verteidigung, zB im europäischen Verbund, bedingen in jeder denkbaren Variante Professionalität. Schon heute sind aber die Internationalen Einsätze, zu denen keine Grundwehrdiener herangezogen werden, ohne eine auf dem Wehrdienst aufbauende Freiwilligkeit nicht erfüllbar. Ähnlich verhält es sich bei der Verteidigung im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Zunehmende Bedeutung ist den folgenden Aufgaben zuzuordnen: Dem Schutz (zb Sicherung der (über)lebensnotwendigen Infrastruktur) und der Hilfe. Zu nennen sind Katastrophen außergewöhnlichen Umfanges, die lokale Organisationen wie die Feuerwehr überfordern, und zusätzlich Stabsarbeit einschließlich einer Koordination internationaler Aktionen notwendig machen.

In Relation sowohl zum berechenbaren Bedarf, der personalintensiv ist, als auch zu vergleichbaren Ländern wie der Schweiz und Schweden, wird derartiges in Österreich wohl nur auf Basis einer Dienstpflicht hinreichend sichergestellt werden können; mit finanziellen Anreizen für Freiwillige wie in Frankreich ist kaum zu rechnen, zudem belegt eine große Meinungsumfrage aus 2002, dass auch diese Anreize nicht ausreichen werden, das Personalaufkommen sicherzustellen.

Unter den derzeitigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wächst also eine Freiwilligkeit nicht nur aus sich heraus, sondern auch aus Dienstpflichten. Könnte ein verpflichtendes Bürgerservice oder eine allgemeine Dienstpflicht mit geregelter freiwilliger Entscheidung zB für den Wehrdienst oder die Entwicklungshilfe Zukunft haben? Eine  Abschaffung der Dienstpflichten hingegen könnte dramatische Folgen nach sich ziehen. Wegen der bisher nicht abgeschätzten Folgen ist dies einer Prüfung wert.

Exkurs zu Vorgängen der letzten Monate:

Der Verteidigungsminister hat seine Grundrichtung innerhalb von vier Monaten von Wehrpflicht auf Berufs- bzw. Freiwilligenheer überraschend geändert. Er begründet das in kurzer Zeit produzierte „Ergebnis“ mit einer sorgfältigen vorlaufenden Planung unter Abstützung auf Erfahrungen anderer Länder; eine Enquete im Dezember 2010 kam u. a. zu folgendem Schluss: „Wehrmodelle sind daher nur mit Einschränkungen von einem Land auf andere übertragbar.“

Zu beachten ist auch, dass Länder nach der Umstellung von der Wehrpflicht auf ein Berufsheer bereits abgestürzt, sind (Belgien), vor dem Absturz stehen (Schweden, Deutschland?) oder aber bemüht sind, diesen mit einem überproportionalen Mitteleinsatz (Milliarden) hintanzuhalten (Frankreich); alle haben Schwierigkeiten. Die Schlussfolgerung sei erlaubt, dass auch die kontroversiell diskutierten zusätzlichen €500 Millionen im Verteidigungsbudget zur Umstellung auf ein Berufsheer aller Voraussicht nicht ausreichen werden. Der Mehrbedarf würde in kleinen Portionen nach einer allfälligen Grundsatzentscheidung angemeldet werden müssen; auch die anderen Bereiche des Gemeinwohls wären kostentreibend beeinträchtigt. Die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten könnten in die Milliarden gehen.

Der Generalstabschef hat seine Überzeugung zum Ausdruck gebracht, dass es geboten ist, das derzeitige System erst dann durch ein anderes zu ersetzen, wenn dieses andere System als "besser" – dem bisherigen überlegen bzw. vorzugswürdig – ausgewiesen werden kann, wobei dies auf sorgsame Analysen und Prognosen gestützt werden muss. Was bisher vorliegt, stimmt skeptisch, ein Überdenken ist notwendig. Zudem ist die verfassungsmäßig verankerte Wehrpflicht nicht nur Angelegenheit der Planung des Verteidigungsressorts, andere Dienste werden nämlich von der Wehrpflicht sachlogisch und gesetzlich untermauert abgeleitet. Eine einschneidende Revision legistischer Voraussetzungen wird im Falle der beabsichtigten Systemumstellung unabdingbar werden. Manche der in den Raum gestellten „Überlegungen“ könnten die Europäische Menschenrechtskonvention berühren.

Eine sachlich nachvollziehbare Position war für den Verteidigungsminister die offizielle Begründung, dem Generalstabschef das Vertrauen zu entziehen und ihn abzulösen. Das alleine wäre aber eher ein dürftiges Argument und wirft Fragen auf: Mangelt es an der inhaltlichen Übereinstimmung oder an der persönlichen Vertrauensbeziehung? Gibt es ein Küchenkabinett, und welche Rolle spielt es? Mancherorts werden letztere eher als Störfaktoren bei der effizienten Erledigung der Aufgaben angesehen. Die Primärverantwortung für eine funktionierende Arbeitsweise liegt beim Vorgesetzten, in dem Fall beim Minister, und ist für Erfolg oder Misserfolg oft entscheidend. 1978 bis 1983 wurde das Ressort – wie vorgesehen – durch den Verteidigungsminister im Wege der ihm unmittelbar Zu- und Nachgeordneten geführt. Das war erfolgreich: Die systematische Planungsarbeit hat zu nachvollziehbaren Entscheidungsgrundlagen geführt; zufriedenstellende Ergebnisse konnten erzielt werden. 2011 zeichnet sich das nicht ab.

Diese Erfahrungswerte stammen aus der Arbeit an mehreren Heeresreorganisationen und aus der Zusammenarbeit mit allen relevanten Ländern. Die gegenständlichen „Überlegungen“ – Zielgruppe Entscheidungsträger – werden durch ein Hintergrundpapier ergänzt, das auf Erfahrungswerte anderer Länder und die Auswirkungen auf Gemeinwohl und Gesellschaft näher eingeht.

Zusammenfassend ist festzuhalten: Die Zusammenhänge um die Dienstpflichten, also Wehr- und Zivildienst, sind komplexer, als öffentlich dargestellt wird.

So gilt es, das im Verfassungsrang stehende Neutralitätsgesetz mit zu bedenken. Dann sind aber die verbliebenen neutralen Länder in Europa, nämlich die Schweiz und Finnland für einen Vergleich die relevantesten. Irland ist ein Sonderfall, Schweden de facto bei der NATO, die Kleineren irrelevant.

Während die qualitativ hochstehenden Leistungen der Österreichischen Soldaten international gewürdigt werden, werden manche Vorgänge im Rahmen der Österreichischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Ausland als nicht nachvollziehbar angesehen.  

Auch wäre zB nach Stilllegen der Wehrpflicht eine von den Verursachern wahrscheinlich nicht beabsichtigte Dynamik in Richtung Privatisierung der im Rahmen des Gemeinwohls erbrachten Leistungen wohl unvermeidbar. Diese wären dann finanziell besser Gestellten vorbehalten, den anderen verbliebe eine Minimalversorgung; einer sozialen Dienstpflicht alleine als Ausgleich könnte die Legitimation fehlen.

In demokratischen Systemen werden Personen in Ämter berufen, die ihnen die Verantwortung für das Gemeinwohl auferlegen. In bestimmten Systemen (nämlich in Parteienstaaten) hat dies mit der Betrauung bestimmter "Gruppen" zu tun (Regierungsparteien). Viele politisch interessierte Staatbürger lehnen es wegen der erwähnten Komplexität ab, das „Volk“ zu befragen. Wird, aus welchen Gründen immer, trotzdem dafür entschieden, obliegt der Volksvertretung die Verantwortung, Desinformation, Polemik und das Verbreiten von Halbwahrheiten hintanzuhalten. Sie sind verpflichtet zu gewährleisten, dass die Wähler objektiv, auch hinsichtlich der gesamtgesellschaftlichen Folgewirkungen, informiert und damit  in die Lage gesetzt werden, in ihrem eigenen Interesse, und in dem der Gesellschaft, bestmöglich entscheiden zu können, was im gegenständlichen Vorgang um die Wehrpflicht schwer erkennbar ist. Damit droht das Risiko der kontraproduktiven Vereinfachung im Vorlauf zur Befragung und in Folge einer Fehlentscheidung. Die bei uns so oft als Vorbild zitierten Finnen hingegen haben das Planungs- und Entscheidungsprocedere im Griff.

Schlussfolgerungen:

Der Ministerratsbeschluss zu einer Sicherheitsstrategie vom März 2011 erkennt in seiner Analyse ein Zunehmen der Gefährdungen. Allfällig beabsichtigte drastische Reduktionen der Streitkräfte leiten sich daher nicht von der Analyse ab, sondern könnten Ergebnis politischer Kompromisse sein; homöopathische Konzepte – nämlich einer größeren Bedrohung mit einer höheren Verdünnung zu begegnen – haben sich aber in der Sicherheitspolitik bisher nicht bewährt. Inhaltlich hat daher der Analyse  eine nachvollziehbare Synthese zu folgen. Formell ist ein Ministerratsbeschluss als gesetzliche Legitimation für eine Systemumstellung nicht ausreichend.

Sowohl die derzeitige Handhabung der Wehrpflicht als auch die übrigen sechs Varianten lassen über ein paar Jahre ein Dahinschwinden der Österreichischen Streitkräfte erwarten: Das Belgische „Modell“.

Die grün angedachte UNBrigade beim Innenministerium, hat mit einer militärischen Neutralität nichts mehr zu tun und entspricht kaum den Vorstellungen einer Europäischen Sicherheits- und Vereidigungspolitik. Die NATO wird auf einen unterdotierten, unausgewogenen Streitkräftetorso verzichten.

Zielführend wäre es hingegen, der Analyse in der dann rechtlich verbindlichen „Sicherheitsstrategie“ die Synthese, die nachvollziehbare Ableitung von Aufgaben und dazu benötigten Mitteln folgen zu lassen. Dann ist noch immer ein politischer Kompromiss vorstellbar, er wäre aber transparent.

Selbst in dieser etwas verworrenen Situation ist erkennbar, dass für die Personalplanung ein pragmatischer Ansatz über eine Allgemeine Dienstpflicht, in dessen Rahmen ein attraktiv und ökonomisch gestalteter freiwilliger Wehrdienst ermöglicht wird, die Quadratur des „Variantenkreises“ ermöglichen könnte.

Ernest König, ehemaliger Kommandant der Landesverteidigungsakademie

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