Verantwortung im Bildungsbereich - ein kritischer Blick

Verantwortungsträger werden ist oft nicht schwer, Verantwortung übernehmen dann oft sehr. Es ist diese Szene im Film "Die dunkelste Stunde", als die Gegner Winston Churchills diesen sinngemäß fragen, warum sie gerade ihn unterstützen sollten und warum gerade ihm "dieser Stuhl" – der Stuhl des Premierministers eben – zustehen sollte? Churchills kurze, klare und eindeutige sinngemäße Antwort: "Weil ich dafür eben die volle Verantwortung übernehme!"

Die volle Verantwortung? Ginge es auch heutzutage bei vielen gesellschaftspolitischen Fragen – etwa in der Bildung – tatsächlich um diesen Kernsatz, dann dürften aus persönlicher Erfahrung viele Verantwortungsträger, gleich auf welcher Ebene, gar nicht in die Nähe "eines solchen Stuhls" kommen!

Verantwortung ist in den hellen Stunden immer leicht. In den Sonnenstunden, in Selbstläufersituationen, bei Vorzeigeprojekten, Zusammenarbeit mit oder Präsentation von Ausnahmepersönlichkeiten aus Integration oder Behindertensport oder auch bei perfekter Arbeit und Vorbereitung von an der Basis tätigen Mitarbeitern ist es immer leicht und angenehm, sich im Erfolg zu sonnen, den Erfolg für sich und seine Gruppierung zu propagieren.

Aber die Stunden der Wahrheit und Bewährung werden kommen, für jeden Einzelnen – gleich ob in Führungsposition oder nicht. Es sind fast immer die Niederlagen und die dunklen Stunden in der menschlichen Existenz, die im Endeffekt aufzeigen, ob Führungspersönlichkeiten, gewählte Verantwortungsträger, aber auch Lehrer und Lehrerbildner zu Recht auf "ihrem Stuhl sitzen". Ob sie die kognitiven, emotionalen, aber auch menschlichen Fähigkeiten besitzen, Krisensituationen zu meistern, sich Gegenwind zu stellen, Mitarbeiter zu koordinieren, zu motivieren, allenfalls zu kritisieren und gleichzeitig auch ein zumindest halbwegs berechenbarer "Fels in der Brandung" zu sein.

So komplex und konfliktbeladen der Bildungsbereich derzeit auch sein mag, von den großen Katastrophen, wie eben Winston Churchill sie hatte, sind wir gottlob etwas entfernt (was nicht bedeutet, dass globale Veränderungen auf lange Sicht nicht indirekt auf unser Bildungssystem einwirken werden): Krieg, Erdbeben, Hungersnot, Handelskonflikte, atomare Bedrohung, Flucht – all diese globalen Tragödien müssen zum Glück nicht von "Frau und Herrn Jedermann" gelöst werden.

Daher ist es umso ärgerlicher, bedauerlicher und trauriger, dass für so manche rein österreichische Krisen der Bildungspolitik von einigen Führungspersönlichkeiten aber auch Mitarbeitern an der Basis weder Verantwortung übernommen wird, noch konkrete, reale, effiziente, im Rahmen der individuellen Möglichkeiten machbare Gegenmaßnahmen, zumindest aber Strategien gesetzt werden.

Wer glaubt, hier werde gegen die jetzige Regierung argumentiert, irrt. Ich sehe den "Weg zurück zur Leistung" eher positiv, weg von der "Kuschelpädagogik" in der "alles aus Spaß, ohne Arbeit und völlig chancengleich" möglich ist. Nein, ich spreche vom alltäglichen "Unterrichtswahnsinn" an Brennpunktschulen, vom "Kulturkampf" im Klassenzimmer, von bildungsunwilligen und rabiaten Erziehungsberechtigten, gewaltbereiten und verhaltensauffälligen Jugendlichen, von bessergestellten "Helikoptereltern" mit Drohungen gegen Lehrer, Unterrichtsverweigerung, Kindern- und Jugendlichen die fernseh- und handysüchtig sind, die eine Konzentrationsfähigkeit wie ein Kleinkind haben, die nicht wissen was ein Buch ist und die bei jeder kleinsten kognitiven oder körperlichen Anstrengung zusammenbrechen. Ich spreche aber auch von angehenden Lehrern, die bei Schuleintritt keine Ahnung von der Wirklichkeit haben. Sie haben aber auch oft noch nie von ihr gehört!

Nicht einmal in solchen "regional begrenzten Krisenherden" ist es vielen Verantwortungsträgern möglich, Rückgrat zu zeigen. Sehr schnell offenbart sich nicht selten Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsunfähigkeit.

Über Jahrzehnte haben wir im Bildungsbereich auf allen Ebenen Vermeidungsstrategien perfektioniert; darin sind wie Weltmeister. Dazu gehören: Das Negieren von Problemen, Schön- oder Kleinreden, wirklichen Experten und unmittelbar Betroffenen (meistens den Lehrern) nicht zu glauben, der Konkurrenzkampf innerhalb der eigenen Profession, die sofortige Schuldzuweisung an andere Ebenen, andere Personen oder politische Institutionen, das Zuwarten mit Maßnahmen, die Einsetzung untauglicher Mittel, das Leugnen von grundlegenden Notwendigkeiten wie etwa Regeleinhaltung und Sozialverhalten, das Finden von Bauernopfern um sich selbst herauszustehlen, die Rechtfertigung der eigenen Untätigkeit aufgrund von "Nicht-Wissen", "Nicht-Informiertheit", "Nicht-Zuständigkeit" oder "Nicht-Involviertheit".

Es gibt in dieser Situation eine gute und eine schlechte Nachricht für die Lehrer. Die gute Seite ist, dass Lehrer in diesem hierarchischen System trotz aller Autonomiebestrebungen in den wirklichen Krisensituationen noch immer keine völlig autarken, eigenständigen, weitreichenden Entscheidungen alleine treffen müssen, können und dürfen. Bei allen wirklich krisenbehafteten Ereignissen ist sinngemäß "immer die vorgesetzte Dienstbehörde" nachweislich zu informieren und zu involvieren. Diese Pflicht nimmt in Wahrheit immensen formellen Verantwortungsdruck und entbindet jede Lehrkraft vom immer auftretenden Vorwurf der Untätigkeit – sofern man tatsächlich seine Möglichkeiten ausgeschöpft und auch nachweislich die nächste Ebene involviert hat. Und diese hat wiederum in manchen Fällen ihre nächste Ebene zu informieren usw. Dieses "Spiel" geht auf Landesebene genauso wie auf Bundesebene. Daher sei jeder Lehrkraft dringendst angeraten, in heiklen Situationen immer alle vorgesetzten Schulbehörden aber auch außerschulischen Institutionen nachweislich mit dem Sachverhalt zu konfrontieren und Hilfe aktiv einzufordern.

Jetzt aber die schlechte Nachricht: Gerade weil so manche vorgesetzte Dienstbehörde, gleich auf welcher Ebene, entweder von der Schulrealität nichts mehr mitbekommt oder ideologisch die rosarote Brille trägt, weil Bildungsdirektionen, Bildungssprecher der Parteien, Bildungsstadt- und Landesräte und das Ministerium die Verantwortung im Kreis schicken, bleibt die Lehrkraft die unmittelbar betroffene Person. Sie ist jene Person, die in der für sie vorhandenen Bildungsrealität bestehen und ein extrem hohes, vielleicht sogar das höchste Maß an Verantwortung gegenüber den anvertrauten Schülern haben muss – aber gleichzeitig auch diese für sich selbst hat: direkt in der eigenen Klasse, im Lehrerteam, am Standort und in der Gesellschaft!

Viele scheinen an diesem Grenzgang zu zerbrechen. Sie warten noch immer – berechtigt – auf "Hilfe von oberen Instanzen", sie geben auf oder passen sich an. So wie es im Buch "Kulturkampf im Klassenzimmer" beschrieben wird. Leider ist aber niemandem damit geholfen – weder den Schülern noch dem Lehrer selbst. Denn das eigene Unbehagen, der Frust, die Enttäuschung, aber auch die Wut bleiben! Zugegeben, das große Ganze kann ein Einzelner nicht stürzen, man kann die Politik nicht direkt beeinflussen. Vielleicht wird man nicht einmal der Hälfte seiner anvertrauten Schüler gerecht. Viele Eltern werden bildungsfern bleiben. Die Integration wird man pauschal flächendeckend nicht sofort verbessern oder verändern können. Und bei so manchem Kind, Jugendlichen oder Elternteil wird man scheitern. Aber im Klassenverband, vor der Gruppe muss "ich bei mir sein", "Meine Mitte haben."

Gerade in Konflikten kann man nicht nur Freund auf Augenhöhe mit grenzenloser Toleranz sein. Das funktioniert nicht! Man hat Orientierung, Regeln und Leitbild vorzugeben, man hat authentisch zu sein – sowohl für jene Schüler und Eltern, die einen akzeptieren, aber auch für jene die es nicht tun. Denn besonders diese müssen erleben, dass mir meine Regeln, Werte und Sichtweisen wichtig sind.

Dieses tägliche professionelle Einfordern, oft ohne gute Unterstützung, kostet Kraft, Mühe, führt zu Konflikten, macht vielleicht unbeliebt und führt auch nicht immer zum Erfolg. Aber es geht letztendlich auch um mich als Person,  meine Eigenwahrnehmung, mein Selbstbild, meine Selbstdarstellung und vielleicht auch ein wenig um die Überwindung der berühmten "Lehrerfeigheit zum Wohle des Kindes und zur Konfliktvermeidung." Mache ich das nicht, haben alle verloren!

Ich bin "Spielball des Systems", aber auch notwendiger, dringend benötigter Leuchtturm für die nächsten Generationen und aus psychologischer Sicht "meines eigenen Glückes Schmied." Ich allein schmiede und sonst niemand.

Sonderschuloberlehrer Wolfgang Weissgärber: Zentrum für die Fachbereiche Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik

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