Probelauf für ein Referendum – Südtiroler für Selbstbestimmung

61.189 Südtiroler haben an einem von der im Bozener Landhaus mit drei Abgeordneten vertretenen Partei „Süd-Tiroler Freiheit" initiierten Referendum unter dem Titel „Autonomie ist nicht genug – Wir wählen Freiheit" teilgenommen. Davon haben 56.395 – das sind 92,17 Prozent – für die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts votiert. 4562 (7,4 Prozent) stimmten mit Nein, 163 Stimmzettel (0,26 Prozent) waren ungültig, 69 (0,11 Prozent) Wahlberechtigte gaben leere Stimmzettel ab.

Im Beisein von Vertretern der Unabhängigkeitsbewegungen aus Katalonien (Spanien) und Venetien (Italien) bekundete die STF-Führung, damit hätten Südtiroler der Politik einen klaren Auftrag erteilt. Erstmals in der Geschichte des nach dem Ersten Weltkrieg von Italien annektierten Teil Tirols sei die Bevölkerung zwischen Brenner und Salurner Klause in einem Referendum befragt worden, wie die Zukunft des Landes aussehen solle.

Niemand könne länger in Abrede stellen, dass „der Wille nach einer freien und selbstbestimmten Zukunft“ vorhanden sei. Man sei davon überzeugt, dass durch dieses Referendum „die Grundlage für die Abhaltung einer Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Italien geschaffen wurde“. Südtirol habe sich „damit in den Zug der Freiheit gesetzt, den die Schotten und Katalanen angeschoben haben“. Zu danken sei allen, die sich „von Einschüchterungen nicht haben beeinflussen lassen, sondern ihrer demokratischen Grundhaltung gefolgt sind und am Referendum teilnahmen.“

Nassforsch, wie es seine Art zu sein scheint, sprach der neue Südtiroler Landeshauptmann Arno Kompatscher von einem „bescheidenen Ergebnis“ und wollte darin sogar „einen Schaden für Südtirol“ sehen. Und pflichtgemäß sekundierten ihm SVP-Parteichef Richard Theiner sowie Karl Zeller, einer der drei SVP- bzw. PD (Partito Democratico, die italienischen Sozialdemokraten)-Vertreter Südtirols im italienischen Senat. Der Jurist Zeller, den der verstorbene österreichische Völkerrechtler Felix Ermacora heute kaum mehr einen „Patrioten“ nennen würde wie einst, unkte: „In Rom kratzt dieses Ergebnis niemanden“.

Angesichts des Umstands, dass von den 400.958 Wahlberechtigten an Eisack und Etsch „nur“ 15,26 Prozent ihr Votum abgegeben und also „lediglich“ 14,06 Prozent für die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts gestimmt haben, frohlockt die Führung der SVP. Mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bis hin zur Aufforderung der Bevölkerung, den Probelauf zu boykottieren, hatte die seit 1948 im Lande regierende Mehrheitspartei die Initiative der oppositionellen STF zu hintertreiben versucht.

Doch die Freude der SVP-Granden beruht auf oberflächlicher Interpretation der Ergebnisse. Sieht man sich diese etwas näher an, so lassen sich daraus auch abweichende Schlüsse ziehen. Würden etwa die ethnischen Italiener Südtirols (laut Volkszählung 26,06 Prozent) herausgerechnet, denn man darf sie im Großen und Ganzen als Gegner der Selbstbestimmung ansehen, so verblieben 69,41 Prozent Angehörige der deutschen Sprachgruppe, und 4,53 Prozent Angehörige der ladinischen Sprachgruppe. In Summe hätten somit von 296.462 wahlberechtigten Deutsch-Österreichern und Ladinern Südtirols 20,63 Prozent ihr Votum abgegeben und 19,02 Prozent dafür gestimmt, dass ein Referendum über die Ausübung der Selbstbestimmung stattfinden soll.

Wem dies mit der Begründung, das Herausrechnen der Italiener sei unstatthaft, denn sollte es je zu einem derartigen Referendum kommen, müssten sie selbstverständlich daran teilnehmen, abwegig vorkommt, der möge stattdessen eine andere Vergleichsgröße ins Kalkül ziehen. Legt man nämlich die tatsächlichen, also für alle Parteien Südtirols – ohne weiße und ungültige – bei der Landtagswahl 2013 abgegebenen Stimmen, nämlich 287.010, als Vergleichsmaßstab zugrunde, so betrug die Referendumsbeteiligung 21,3 und die Selbstbestimmungsbefürwortung 19,64 Prozent, mithin ein knappes Fünftel (der tatsächlichen Wahlstimmen).

Das ist so schlecht nicht, wie es die SVP-Führung glauben machen möchte. Im Gegenteil: dass die kleine Partei „Süd-Tiroler Freiheit“ die Initiative ergriff, diesen Probelauf auf die Beine stellte und trotz enormen Gegenwinds so viele Menschen erreichte, ist beeindruckend. Denn bei der Landtagswahl vom 27. Oktober 2013 hatten „nur“ 20.743 Südtiroler für die STF gestimmt. Davon ausgehend gelang es der STF, die Zustimmung für das Selbstbestimmungsreferendum annähernd zu verdreifachen.

Die Südtiroler Freiheitlichen – sie gehören wie die STF und die Kleinpartei „Bürgerunion-Ladins Dolomites – Wir Südtiroler“ zu den politischen Kräften des „Los von Rom“ – hatten vor Beginn der STF-Initiative argumentiert, für die Abhaltung eines solchen Referendums benötige man eine „breitere Plattform“. Das hat sich unzweifelhaft bewahrheitet. Gleichwohl haben sie nicht zum Boykott aufgerufen, sondern sich „neutral“ verhalten. Sie reagierten damit anders als die SVP, deren führende Funktionäre sich offenbar mit der „ewigen Italianità“ unseligen Angedenkens an Mussolini sowie seinen Fälscher Tolomei und letztlich wohl mit dem Verbleib bei Italien abgefunden haben.

Zu Recht sagt daher die freiheitliche Obfrau Ulli Mair zum Ausgang des STF-Probelaufs: „Das ist schon eine bemerkenswerte Zahl, die Politik kann nun nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Bei einer anderen Vorgangweise wäre mehr drin gewesen“. Getrost darf man folglich die Landtagswahl-Ergebnisse der „Los-von-Rom-Parteien“ – STF 20.743 (7,2 Prozent); FPS 51.510 (17,9 Prozent); BU 6.065 (2,1 Prozent) – just in punkto Selbstbestimmung addieren, womit 78.318 potentielle Befürworter zusammenkommen.

Interessant ist auch, dass die Zahl der Befürworter einer Volksabstimmung zur Frage der Selbstbestimmung die Ergebnisse aller für italienische Parteien Südtirols (Partito Democratico; Forza Alto Adige – Lega Nord – Team Autonomia; MoVimento 5 Stelle; L’Alto Adige nel cuore; Unitalia; Scelta Civica per l’Alto Adige-Südtirol; La Destra; Rifondazione Comunista; Partito die Comunisti Italiani) abgegebenen Stimmen (52.367) ebenso übertrifft wie jene der „interethnischen“ Grünen-Verdi (25.070).

Letztere haben in anderen Zusammenhängen „die Hürde von 26.000 Unterschriften für die Abhaltung eines Referendums in Südtirol“ zu Recht als „zu hoch“ kritisiert. Beim STF-Probelauf haben mehr als doppelt so viele Wähler klar zum Ausdruck gebracht, dass sie sich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts wünschen. Ob sich die Landes-Grünen-Verdi als wahre Demokraten erweisen und dafür einsetzen, dass die Südtiroler selbst über ihre Zukunft befinden dürfen?

Wiewohl selbst Arnold Tribus, einer ihrer ehemaligen Abgeordneten, der jetzt die „Neue Südtiroler Tageszeitung“ herausgibt, „Evas Erfolg“ rühmte und damit die Parteigründerin und „Grande Dame“ der STF, die Abgeordnete Eva Klotz meinte – Tochter des legendären Schützen-Majors und Freiheitskämpfers Georg („Jörg“) Klotz – darf man an der „basisdemokratischen Courage“ der Grün-Alternativen in dieser Frage zweifeln, denn „Interethnische“ plädieren eher für Vermischung denn für volkliche oder gar nationale Selbstbestimmungsmühen.

Sowohl SVP, als auch all jene, die das Ergebnis des STF-Probelaufs klein zu reden versuchen, sollte schließlich nachdenklich stimmen, dass die Beteiligung in der Altersgruppe zwischen 18 und 40 Jahren mit 17,16 Prozent am höchsten und in der Altersgruppe über 65 Jahren mit 12,3 Prozent am niedrigsten war. Darin steckt für die Kräfte, welche die Selbstbestimmung befürworten, zweifellos ein zukunftsfähiges Mobilisierungspotential, auf das gebaut werden kann.

Und zu guter Letzt ist ins Kalkül zu ziehen, dass die dem STF-„Referendum“ ferngebliebenen Südtiroler nicht zwingend als ausgemachte Gegner der Selbstbestimmung gelten dürfen: Belegt doch eine Erhebung des österreichischen Meinungsforschungsinstituts Karmasin vom Mai 2013, dass 54 Prozent der befragten Südtiroler ein „Los von Italien“ befürworten.

All diese Aspekte zusammengenommen verlangen eine ernsthafte parlamentarische Debatte über die Zukunft des südlichen Landesteils Tirols unter Einschluss der Selbstbestimmungsfrage – nicht allein in Bozen, sondern auch in Innsbruck und in Wien.

Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.

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