Buchbesprechung: In der damals bekannten Welt unterwegs, in Tirol daheim

Anton und Ute Schwob machen das Leben Oswalds von Wolkenstein, des bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikers und Liederautors am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, für uns anschaulich.

Tausende strömen alljährlich an den Fuß des Schlern-Massivs in Südtirol. Mehr als dreißig Mal ist dort schon der „Oswald von Wolkenstein-Ritt“ aufgeführt worden. Wehenden Banners bewältigen die teilnehmenden Equipen zu vier Reitern den 40 Kilometer langen Parcours zwischen der oberhalb von Waidbruck gelegenen Trostburg und Schloss Prösel nahe Völs am Schlern. Geschicklichkeit, Ausdauer und Wagemut verbindet sie bei den vier Etappen – Ringstechen, Labyrinth, Hindernisgalopp und Tor-Ritt – mit der Person, die dem frühsommerlichen Spektakel seinen wohlklingenden Namen leiht.

Oswald von Wolkenstein gilt als der bedeutendste deutschsprachige Verseschmied zwischen Walther von der Vogelweide und Johann Wolfgang von Goethe. Seine dichterische Hinterlassenschaft in bairisch-tirolischer Lautung am Übergang vom Mittelhochdeutschen zum Frühneuhochdeutschen ist in kostbaren Handschriften überliefert. Enthalten sind auch manche der zu den Liedern gehörigen Neumen, seinerzeit gebräuchliche Tonhöhen-Notate.

Der Wiener Opern- und Konzertsänger Eberhard Kummer, das nicht minder engagierte Ensemble „Vröidenspiel" und andere Gruppen haben seine Lieder vertont und uns Nachgeborenen auf Tonträgern verfügbar gemacht.

Oswald wurde höchstwahrscheinlich 1377 als zweiter Sohn des Landadeligen Friedrich von Wolkenstein und dessen Ehefrau Katharina von Vilanders geboren, möglicherweise auf der Trostburg im Eisacktal. Kaum zehn geworden, büxt er aus, verdingt sich als Knappe:

„Es fügt sich, do ich was von zehen jaren alt/
ich wolt besehen, wie die werlt wer gestalt“.

Als solcher dürfte er einen Standesherrn begleitet haben und von diesem in den für einen Ritter üblichen Fertigkeiten unterwiesen worden sein. Aus seinen biographischen Liedern lassen sich zahlreiche Reisen und erste militärische Dienste für König Ruprecht (von der Pfalz), einen Wittelsbacher, und dessen Nachfolger Sigismund (von Luxemburg) erschließen. Oswald gelangt nach Ungarn, Böhmen, Litauen.

Im zentralen Rechnungsbuch des Deutschen Ordens scheint sein Name für preußische Lande auf. Auf dem Schwarzen Meer erleidet er Schiffbruch, wovon auch ein Fresko im Dom zu Brixen zeugt. Auf dem Alten Friedhof am Dom befindet sich auch jener von Oswald 1408 (vor dem Aufbruch ins Heilige Land) in Auftrag gegebene Gedenkstein, der ihn als Kreuzritter mit langem Pilgerbart zeigt. Oswald hat es nach Russland, zu den Tataren, in die Türkei, nach Armenien, Syrien und Persien verschlagen: „In Races pei Saleren" (in Ratzes am Schlern) ist er daheim gewesen, wie es in einem seiner Lieder heißt, und dass er „durch Barbarei Arabia" (durch Berberland und Arabien) gekommen sei, in einem andern.

Gestützt allein auf das literarische Werk, neigte die Forschung lange dazu, ihm dies als Maulheldentum auszulegen – bis Germanisten viele Angaben Oswalds verifizieren konnten. Für Anton und Ute Schwob, die bedeutendsten Philologen, die sich jahrzehntelang mit ihm beschäftigten, sind Oswalds autobiographische Aussagen „durchweg wahr", und seine „Reiseberichte keine literarische Topoi mehr, sondern Belege für die in der anbrechenden Neuzeit beginnende Aufwertung des Individuums“.

Oswald dürfte mit dem einen Auge, das überlieferte Bildnisse zeigen, fast die ganze damals bekannte Welt gesehen haben. Auf seinen Fahrten lernte der Tiroler französische, provenzalische, spanische und maurisch-arabische Dichtung und Musik kennen und lässt sie in seine Lieder einfließen.

Ein Jahr nach dem Tod des Vaters (1399) kehrte Oswald in die Heimat zurück. 1403 wird er als „Gotteshausmann“ des Bischofs von Brixen erwähnt. Für das Folgejahr ist sein und seines jüngeren Bruders misslungener Versuch überliefert, der Frau des ältesten Bruders Michael Kleinodien zu rauben und sie als Ehebrecherin zu verleumden. Mit dem Raub wollten die nach dem Familienoberhaupt Geborenen ihre finanzielle Situation aufbessern.

Auf den Erstgeborenen waren Lehen und ritterlicher Stand des Friedrich von Wolkenstein übergegangen, während „Junk(h)er Oswald" zeitlebens nach Bestätigung der Ritterwürde trachtete, die ihm urkundlich erst 1430 zukam. Bei der Aufteilung des Familienvermögens 1407 hatte Oswald ein Drittel der Burg Hauenstein und damit zugleich einen schon älteren Besitzstreit mit Martin Jäger von Tisens und dessen Ehefrau Barbara geerbt, der später dramatische Formen annehmen sollte. In diesen Streit war auch Anna Hausmann verwickelt, Tochter Hans Hausmanns, eines bischöflichen Schulmannes und zeitweiligen Bürgermeisters von Brixen.

1409 urkundlich erwähnt, war „die Hausmannin" nach Aussagen Oswalds seine Geliebte. Doch der Verschmähte ließ sich im Zuge von Adelsfehden gegen Herzog Friedrich IV. (von Österreich und Graf von Tirol) 1421 in einen Hinterhalt locken. Es folgten Gefangenschaft und Folter auf Schloss Forst bei Meran sowie die Haftüberstellung an Friedrich, der ihn in Axams bei Innsbruck einkerkerte. Erst 1427 wurde der Streit um Oswalds späteren Wohnsitz Hauenstein beigelegt, den er sich widerrechtlich angeeignet hatte und wo er mit seiner wohl 1417 geehelichten Frau, den vier Söhnen und einer Tochter fortan lebte:

„Auff einem kofel rund und smal
mit dickem wald umbvangen/
vilhoher perg und tieffe tal/
stain, stauden, stöck, snestangen/
der sich ich täglich ane zal“.

Margarethe von Schwangau, seine Frau, hatte er auf Hohenschwangau während einer Reise im Gefolge Sigismunds zum Konzil von Konstanz (1414-1418) kennen gelernt.

Oswald hatte höchstwahrscheinlich an zwei Kriegszügen im Deutschordensland Preußen gegen die Litauer und um 1410 an einer Pilgerreise nach Palästina teilgenommen. Zuerst im Dienst des Brixner Bischofs unternahm er dann im Auftrag König Sigismunds eine längere diplomatische Reise, die ihn möglicherweise über England und Schottland auf die iberische Halbinsel und nach Frankreich führte. In Perpignan war er in den renommierten Greifen- respektive Kannenorden von Aragon aufgenommen worden. Er war an der portugiesischen Eroberung von Ceuta in Nordafrika (1415) beteiligt, das heute noch eine iberische Exklave ist.

1417 wurde er in den politisch brisanten Streit zwischen dem König, dem Herzog und dem Landadel hineingezogen. Der Streit endete 1427 mit einer erzwungenen gänzlichen Unterwerfung Oswalds. Nachdem König und Herzog bereits 1425 Frieden geschlossen hatten, durchlitt Oswald schwierige Jahre, in denen ihm auch Audienzen bei König Sigismund und eine große Reise zu den Femegerichten nach Westfalen, wo er als Freischöffe wirkte, keine entscheidende Erleichterung brachten.

Nach 1430 ist er mehrfach wieder im Dienste Sigismunds bezeugt, der ihn schließlich in den elitären Drachenorden aufnahm – eine Genugtuung für den Wolkensteiner. Fortan konzentrierten sich Oswalds Tätigkeiten auf seine Heimat, wo er als angesehener Adeliger und juristischer Fachmann an Einfluss gewann. Nach dem Tode Friedrichs IV. 1439 – Sigismund, seit 1433 Kaiser, war bereits 1437 verstorben – gehörte Oswald zu jenen fünf angesehenen Männern, die dessen Nachfolger, dem unmündigen Herzog Siegmund, das Erbe zu sichern hatten.

Für das eigene Ableben hatte der Wolkensteiner Vorkehrung getroffen. Ute Schwob breitet anhand einer Fülle gesicherter Archivalien minutiös seine Jenseitsvorsorge vor uns aus. Demnach betätigte er sich, wie es unter seinen Vorfahren Brauch gewesen, als Stifter, um mittels guter Werke jenen Schatz im Himmel anzulegen, von dem die arme Seele nach dem Tod zehren konnte.

Dabei leitete ihn, wie viele vor und nach ihm, einmal die Sorge vor dem nicht vorhersehbaren, jähen Ableben, zum andern die Gewissheit des sicheren Todes an jenem Tag, an welchem „got über mich gepeut" (gebietet). Den rettenden Vorrat an guten Werken für den Himmel, das anzulegende Seelgerät, zeigen Testamente, Schenkungen, Kirchenstiftungen, Jahrtagsregelungen, Grabsteine, Stifterbilder aus der damaligen Zeit.

Der Wolkensteiner ließ unmittelbar am Brixner Dom eine dem auch im spätmittelalterlichen Tirol sehr verehrten heiligen Christophorus, dem Patron der Reisenden, geweihte Kapelle errichten und von den Kaplänen seines Sankt-Oswald-Benefiziums versorgen. Daneben spendete er schon zehn Jahre vor seinem Tod Geld für ein Ewiges Licht in eben jener Kapelle; Licht schützte nach damaliger Auffassung die Seele des Sterbenden und half dem Verstorbenen im jenseitigen Leben.

Der Tod ereilte den „edel vest herr und Ritter" am 2. August 1445 im nahen Meran, wo es, wie oft in seinem unsteten Leben, um Fehdehändel ging. Unweit Brixens, im Augustiner-Chorherrenstift Neustift, wohin er sich bereits am 2. November 1411 einpfründete, hatte er sich vertraglich der Grablege an der Seite seiner Vorfahren versichert. 1973 waren bei Heizungsarbeiten in der Stiftskirche Teile eines Skeletts gefunden worden, die, geborgen von Klosterbibliothekar Martin Peintner, von führenden Schweizer Gerichtsmedizinern als Oswalds Gebeine identifiziert wurden.

Diese wurden später, eingeschweißt in einen Zinkbehälter und mit seinem Namen versehen, am angeblichen Fundort bestattet. Anton Schwob, der maßgebliche Biograph Oswalds, bezeugt dies, und alle Wolkensteiner-Fans verharren heute ehrfürchtig an der neuen Grablege, so sie wirklich die alte gewesen.

Oswald war sehr auf seinen Nachruhm bedacht. Seine Texte sowie die zugehörigen Melodien ließ er in zwei kostbaren und gewiss teuren Pergament-Handschriften sammeln: Handschrift A (Nationalbibliothek Wien) wurde 1425, Handschrift B (Universitätsbibliothek Innsbruck) 1432 abgeschlossen, hinzu kamen jeweils einige Nachträge.

Beide Handschriften enthalten auch Bildnisse des Autors: ein Vollbild und ein Porträt; letzteres zeigt Abzeichen seiner beiden Ordensmitgliedschaften und gilt als erstes Individualporträt eines deutschsprachigen Autors. Nach Oswalds Tod entstand im Familienkreis eine heute im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum (Innsbruck) verwahrte Papierhandschrift, die aber nur Texte enthält.

Der bedeutendste deutschsprachige Lyriker und Liederautor am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist auch in fast 700 Urkunden historisch ausgiebig bezeugt. Autobiographisch ist Oswald in vielen seiner Lieder greifbar; das dichterische und musikalische Werk ist durch Editionen, Faksimile-Ausgaben und Übertragungen ins heutige Deutsch gut erschlossen. Schon 1977 hatte Anton Schwob die maßgebliche wissenschaftliche Biographie vorgelegt, welche mehrere Auflagen erlebte. Dasselbe gilt für Dieter Kühns Darstellung „Ich Wolkenstein“.

Das überlieferte Werk Oswalds besteht aus Reimpaargedichten sowie aus 130 Liedern, die alle für einen gesungenen Vortrag bestimmt waren. Für insgesamt 39 Lieder sind mehrstimmige Liedsätze überliefert.

In seinen darin zugänglich gemachten, nunmehr geschlossen vorliegenden Lebenszeugnissen fassbar, tritt uns der Wolkensteiner in den fünf von Anton und Ute Schwob herausgegebenen Bänden entgegen. Der emeritierte Altgermanist Anton Schwob, der an der Karl-Franzens-Universität Graz das „Wolkenstein-Archiv“ begründete und über Jahrzehnte leitete, sowie seine Frau Ute, eine ebenso begnadete Philologin, haben die weithin verstreuten Urkunden zusammengetragen, für die sorgfältig angelegte kritische Edition umsichtig aufbereitet und meisterlich kommentiert.

Der erste Band stellt den zweitgeborenen Tiroler Kleinadeligen als umtriebig um Aufstieg bemühten Junker vor. Der Folgeband zeigt ihn als Rebellen, Gefangenen und Bittsteller. Im dritten Band begegnet uns der Rechtssachverständige, Krieger, Diplomat, Fürstenberater und Gefolgsmann des Königs als rastlos tätiger Politiker. Diese leidenschaftliche Anteilnahme am politischen Geschehen setzt sich im vierten Band fort. Heimgekehrt, mischt sich der Wolkensteiner mit der ihm eigenen Vehemenz in Prozesse, Geschäfte und Machtfragen ein. Die im fünften Band erfassten letzten Lebensjahre bezeugen das hohe Ansehen des Oswald von Wolkenstein als Familienoberhaupt und führender Vertreter des Tiroler Adels, der entscheidend in die Politik seines Landes einzugreifen vermag.

Die Publikation ist zweifellos eine herausragende editorische Leistung auf dem Gebiet der Altgermanistik, die uns zudem einen tiefen Einblick in das Dasein am Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit sowie in die politischen Geschehnisse zu Lebzeiten dieses für die deutsche Kultur bedeutenden Tiroler Landadeligen eröffnet.

Der Autor ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist.

Schwob, Anton/Schwob, Ute (Hrsg.) Die Lebenszeugnisse Oswalds von Wolkenstein, Wien/Köln/Weimar (Böhlau) zus. 156,- EUR 

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)
Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print



© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung