Die Todsünden des klassischen Liberalismus

Friedrich August von Hayek verdanken wir die folgende Einsicht: „Der echte Liberalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er die nicht auf politischem Zwang beruhenden Konventionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens als wesentliche Faktoren für die Erhaltung einer sozialen Ordnung betrachtet.“ Der Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1974 stellt das im Gegensatzpaar von Kosmos und Taxis in seinem Opus Magnum „Die Verfassung der Freiheit“ dar.

Kosmos bezeichnet das, was er eine „spontane Ordnung“ nennt – eine, wenn man so will, „informelle“ Ordnung, die nicht in Gesetzesform gegossen sein muss, die aber jedenfalls nicht oktroyiert wird. Beispiel: die Sprache. Der Begriff Taxis dagegen bezeichnet die (staatliche) Sphäre von Befehl und Gehorsam. In der Sicherung der Rechte des Bürgers mittels einer strikten Beschränkung (der staatlichen) Macht, erblickten die Vertreter des klassischen Liberalismus den Schlüssel zur Bewahrung der Freiheit.

Hans-Hermann Hoppe, einer der prominentesten lebenden Vertreter der „Austrian School“ und radikaler Staatskritiker, sieht den ersten fundamentalen Fehler des klassischen Liberalismus darin, dass er sich – anstatt konsequent Freiheit und Eigentum der Bürger zu schützen – auf die Seite des Staates stellt, der gewaltsam in deren Eigentum eindringt, indem er – ohne Zustimmung der Betroffenen – von ihm festgelegte Zwangsabgaben (Steuern) erhebt. Denn der Staat „… eine durch zwei typische Charakteristika geprägte Agentur: den Anspruch, innerhalb eines begrenzten Territoriums monopolistischer „Rechtsetzer und Letztentscheider“ zu sein; und dem Recht, Zwangsabgaben einzuheben,“ schafft das ihm genehme Gesetz, anstatt Recht zu suchen und zu finden – ein fundamentaler Widerspruch zur klassisch-liberalen Forderung nach der Rule of Law.

Stefan Blankertz kommt in seinem 1997 erschienen Aufsatz „Wie liberal kann ein Staat sein?" zu folgendem Befund: „Missachtung des Eigentumsrechts führt zu einer nicht freiwilligen Interaktion. Diese ist die Struktur der Herrschaft. Prinzipiell kann von jedem Menschen Herrschaft ausgeübt werden. Die Wegnahme oder Zerstörung von Eigentum (eingeschlossen das Eigentum der Selbstbestimmung) ist kriminell, nicht weil es gegen ein Gesetz, sondern weil es gegen das Recht verstößt. Kriminell verhält sich jeder Mensch, der mit Gewalt in die Entscheidungen anderer Individuen interveniert.“ Er liefert damit eine einleuchtende Begründung für das libertäre „Nichtaggressionsaxiom“.

In keiner sozialen Gruppe würde einem Einzelnen je das Recht zugestanden, auch in Streitfällen, in die er selbst involviert ist, als Schiedsrichter zu fungieren. Der Staat jedoch nimmt sich dieses Recht unwidersprochen heraus. Im Fall einer Auseinandersetzung eines Bürgers mit dem Staat entscheidet immer der Staat in letzter Instanz. Der Staat als parteilicher, enteignender Eigentumsschützer – ein offensichtlicher Widerspruch!

Einen zweiten Kardinalfehler des klassischen Liberalismus sieht Hoppe in dessen völlig unkritischer Parteinahme für die Demokratie. Der historische Grund dafür liegt auf der Hand: Die Privilegien des Königs sollten verschwinden. Allerdings wurden im antimonarchistischen Überschwang die persönlichen Privilegien des Monarchen durch funktionelle Privilegien der demokratischen Funktionsträger ersetzt. Dieser Gedanke wird von Bertrand de Jouvenel in seinem Buch „On Power“ bereits Ende der 1940-er Jahre elaboriert ausgeführt. Die Grundannahme, dass Liberalismus und Demokratie natürliche Verbündete wären, ist ein sich hartnäckig haltender Mythos, der durch die Fakten längst widerlegt ist. Totalitärer als die zunehmend alle Lebensbereiche regulierende Demokratie hat kein absoluter Monarch jemals agiert. Den Bürgern sogar vorzuschreiben, auf welche Weise sie ihr Stiegenhaus zu beleuchten haben, oder was und wo sie rauchen oder trinken dürfen, ist selbst den übelsten autokratisch regierenden Tyrannen niemals in den Sinn gekommen.

Während ein Monarch sein Land als Privateigentum betrachtet und „nachhaltig“ bewirtschaftet – schließlich hat er ein dynastisches Interesse an dessen Werterhaltung – folgt das Denken demokratisch gewählter Funktionäre gänzlich anderen Erwägungen. Der demokratische Politiker ist nämlich dem angestellten Unternehmensmanager vergleichbar, nicht aber dem einen Betrieb führenden Eigentümer! Er hat folglich größtes Interesse daran, innerhalb der kurzen, ihm zugestandenen Funktionsperiode das Maximum an Ertrag herauszuholen, zu dessen Gunsten er langfristige Ziele vernachlässigt. Er denkt eben nur in Vier- oder Fünfjahreszyklen.

Die von Karl Popper (in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“) formulierte Überlegung, dass Demokratien die Möglichkeit bieten, schlechte Funktionäre abzuwählen und durch bessere zu ersetzen, ist durch die Realität nicht zu belegen. Der Grund liegt in den völlig unterschiedlichen Funktionsweisen der Sphären von Markt und Politik. Zum Verständnis dieses Umstandes lesenswert ist das 1914 erschienene Buch „Der Staat“ von Franz Oppenheimer. Er definiert darin zwei Arten, Einkommen zu erwerben: Erstens das wirtschaftliche Mittel, also den freien Austausch von Waren oder Dienstleistung gegen Geld – ein Verfahren, bei dem beide Seiten gewinnen. Zweitens das politische Mittel – die gewaltsame Enteignung der einen Seite durch die andere – ohne, dass den Enteigneten dafür ein Anspruch auf eine konkrete Leistung erwächst. Während aber den wirtschaftlichen Wettbewerb stets die Besten gewinnen – zum Wohl des Konsumenten – siegen im politischen immer die Übelsten: Diejenigen, die am besten lügen und betrügen können – zum Schaden der Bürger.

Politiker sind skrupellos, der Staat produziert Ungüter

Der Schuster, der Kaufmann und der Zahnarzt – sie liefern aus freien Stücken nachgefragte Leistungen. Sie und alle anderen auf dem Markt tätigen Akteure schaffen Werte – Güter. Hier kann ein Wettbewerb der Nachfrageseite nur Vorteile bringen – unabhängig davon, ob diese nun in niedrigeren Preisen oder in höherer Qualität ihren Niederschlag finden. Der Staat dagegen produziert – nichts.

Man könnte es noch pointierter formulieren, indem man sagt, er produziert nicht nur keine Güter, sondern sogar Übel, also „Ungüter“. Da das so ist, kann ein Wettbewerb in der politischen Sphäre nie zu etwas Gutem führen! Hoppe: „Es kann kein öffentliches Interesse an einen Wettbewerb bestehen, wer der effizienteste KZ-Kommandeur oder der brutalste Räuber ist.“ Schon Kirchenvater Augustinus wusste um dieses Problem, als er dem Staat attestierte, unter Umständen nichts anderes zu sein als eine Räuberbande (zitiert von Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch im Deutschen Bundestag am 22. September 2011).

In einer Erbmonarchie besteht die Möglichkeit, dass zufällig ein dafür charakterlich, geistig und körperlich geeigneter, oder wenigstens „netter“ Mensch auf den Thron gelangt (in Preußen und Großbritannien war es mehrfach der Fall, dass solche Persönlichkeiten die Krone trugen. Österreich hatte leider weniger Glück). Im demokratischen Wettbewerb dagegen würde ein „netter Mensch“ niemals eine Chance haben zu obsiegen. Den demokratischen Wettstreit gewinnen stets die skrupellosesten Individuen. In Österreich etwa hatten anständige Biedermänner wie Josef Klaus oder Josef Taus gegen Bruno Kreisky keine Chance. Was die große, weite Welt angeht, reicht ein Blick auf Figuren von Abraham Lincoln über Georges Clemenceau bis Jacques Chirac. Wer kennt heute noch die Namen ihrer einstigen Gegner?

Das demokratische Prinzip ist nur auf unterster Ebene sinnvoll anzuwenden – also in kleinen Gemeinden, wo jeder jeden kennt und daher die Gefahr einer institutionalisierten Ausbeutung einer Minderheit durch die Mehrheit gering ist (was auch der gerne – kontrafaktisch – als Generalanwalt des Demokratismus zitierte Jean-Jacques Rousseau genau so sah!). Der klassische Liberalismus dagegen – und das ist ein weiterer seiner Kardinalfehler, hatte als Ziel stets eine Weltregierung im Blick.

Da das Wesen der Demokratie in der Aneignung fremden Eigentums mittels Stimmzettels liegt, kann man sich unschwer ausmalen, was angesichts der internationalen Bevölkerungsverteilung in einem solchen Fall heute geschehen würde: Eine asiatisch dominierte Koalitionsregierung würde den in Europa und den USA vorhandenen Wohlstand nach Fernost umverteilen – immerhin leben dort und in Ozeanien mehr als 50 Prozent der Weltbevölkerung!

Der klassische Liberalismus hat einfach übersehen, dass die Demokratie – als Gegenentwurf zur Monarchie – zu einer weithin unbeschwerten Akzeptanz staatlicher Machtansprüche führt: Immerhin bietet sich Krethi und Plethi eine zumindest theoretische Möglichkeit, selbst einmal an die Schalthebel der Macht zu gelangen, was in einer dynastischen Monarchie unmöglich wäre. Die Chimäre der möglichen eigenen Beteiligung an den Staatsgeschäften bildet somit einen billigen Trostpreis für die zunehmende Ausbeutung durch den Staat.

Die Entkoppelung von Recht und Verantwortung einerseits, von individuellen Ansprüchen und Verpflichtungen andererseits, ist im demokratischen Wohlfahrtstaat am Beginn des 21. Jahrhunderts nahezu vollständig verwirklicht. Der Schutz der Rechte des Individuums ist dem Streben nach (wirtschaftlicher Ergebnis-) Gleichheit geopfert worden. Freiheit und Gleichheit sind eben schlicht unvereinbare Ziele.

Der größte Triumph des klassischen Liberalismus bestand wohl in der Sezession von dreizehn amerikanischen Kolonien von deren Mutterland England. Dieses Ereignis liegt mehr als 200 Jahre zurück. Seit damals ging es mit ihm bergab. Spätestens seit Beginn des Ersten Weltkriegs ist der klassische Liberalismus – großteils selbstverschuldet – weltweit mausetot…

Andreas Tögel, Jahrgang 1957, ist Kaufmann in Wien. 

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