Das Internet und die Zukunft der Demokratie

Über die Zukunft nachzudenken ist, wenn man die Sache ernst nimmt, ein schwieriges Geschäft; schon die Vergangenheit richtig zu analysieren hat so seine Probleme: Muss man doch wohlbegründete Hypothesen haben, welche gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen, technologischen Faktoren (Variablen) den Gang der Ereignisse mit großer Wahrscheinlichkeit bestimmt haben bzw. bestimmen werden. Ein sicheres Wissen um die Zukunft ist, was die menschliche Gesellschaft etwa im Jahr 2025 betrifft, nicht möglich.

Das gilt sogar für ihren demographischen Aufbau. Das gilt für ihre politischen Werthaltungen. Das gilt für die technischen Tools, die in 12 Jahren zur Verfügung stehen werden. Oder haben Sie im Jahre 2000 auch nur geahnt, was Sie mit Ihrem Handy zwölf Jahre später alles in Sekundenschnelle empfangen und senden können, oder wer aller Ihre Botschaften beobachten und gegebenenfalls analysieren kann?

Und dennoch kann man verschiedene Annahmen machen, wie die nähere bzw. weitere Welt in 10-12 Jahren aussehen wird. Fast alle Menschen tun das; implizit oder explizit: jeder Unternehmer, jede Familie, die z.B. ein Haus baut, jede Gemeinde, die vorsorgt, jede Institution, die noch länger überleben will.

In dieser ausklingenden Legislaturperiode wird der Begriff der Partizipation noch mit herkömmlichen Verfahren der „direkten Demokratie“ diskutiert: Die Instrumente des „Volksbegehrens“, der „Volksbefragung“, der „Volksabstimmung“ – und ihr Verhältnis zueinander – spielen eine dominierende Rolle; ebenso der mögliche (verstärkte) Einfluss der Wähler auf die Kandidatenauswahl.

Ich erspare mir eine durchaus mögliche Kritik am Einsatz von Volksbegehren und Volksbefragung, wie sie in der jüngeren und ferneren Vergangenheit und in der Gegenwart praktiziert worden sind. Die Erinnerung daran, wer die Fragen formuliert, wie sie formuliert sind, und wozu die Ergebnisse (etwa der letzten Wiener Volksbefragung) ge- und missbraucht werden, mag genügen.

Für eine wertende Kurzcharakteristik fehlt mir etwas, was mir selten fehlt: die Worte. Also kurz und neutral: Was gefragt wurde, wie gefragt wurde und wie interpretiert wurde, oblag der Wiener Koalitionsregierung. Es war Partizipation zum Abgewöhnen.

Das periodische Auftauchen des Partizipationskonzepts hat – auch in Österreich – eine lange Geschichte. Erinnern Sie sich an den Slogan der Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie (K. Blecha). Dieser machte als Sozialforscher auch ernsthaft den Vorschlag, man solle die Demoskopie als Instrument der Demokratie nutzen. Angesichts der Verwendung von Umfragen im politischen Marketing sträubt sich beim bloßen Gedanken daran mein nicht mehr vorhandenes Haupthaar. Abgesehen davon, dass auch bei Umfragen die Fragen „von oben“ kommen und der Befragung kein Prozess der systematischen Information, der Überlegung und Willensbildung vorausgegangen ist. Die Demoskopie ist keine neutrale Institution, die die „Vox populi“ wertfrei widergibt – auch wenn sie manchmal vorgibt, eine Abbildungsmaschine zu sein, die fast auf Knopfdruck die sogenannte öffentliche Meinung, die dann in den Medien „erscheint“, abzubilden.

Oft stellt sie, in Zahlen ausgedrückt, etwas dar, was es vor der Befragung gar nicht gegeben hat: Sie summierte Reaktionen auf Fragen, die sich der Einzelne nie bewusst gestellt hat; das ist „öffentliche Meinung“, die es als wahrnehmbares Phänomen nur durch das Instrument der Meinungsforschung gibt – und nirgends sonst, außer später in den Medien.

Nein, das Instrument der Meinungsforschung ist kein Demokratieersatz, keine wünschbare Form der Mitwirkung, wie sie für eine Demokratie immer wieder gefordert wird (zu ihrer Vitalisierung, zur Stärkung der Verantwortlichkeit, um die Bereitschaft, Entscheidungen mitzutragen zu erhöhen, ja um konkrete Entscheidungen zu legitimieren).

Die Geschichte der Bürgerbeteiligung

Der Gedanke, die Bürger einer Demokratie, den demos, entscheidend entscheiden zu lassen, ist alt; so alt wie die athenische direkte Demokratie. Die Griechen haben bekanntlich nicht nur die Demokratie entdeckt, sondern auch die Politik, also die Kunst, durch öffentliche Auseinandersetzung Entscheidungen zu erreichen und diesen dann zu gehorchen.

Elias Canetti hat das so gedeutet, dass der Kampf nicht mehr physisch ausgetragen wird und mit der Vernichtung eines Kontrahenten endet, sondern durch das Zählen von Stimmen. Joseph Schumpeter sah in demokratischen Verfahren eine Methode, die darauf abzielt, eine entscheidungsfähige Regierung hervorzubringen. Andere betonten, dass Wahlen dazu zwingen, zwischen miteinander konkurrierenden Expertengruppen/Eliten/Parteien zu wählen.

Bei den griechischen „Erfindern“ war die Sache noch etwas komplexer und zugleich einfacher. In der Volksversammlung wurden nicht nur Beamte auf Zeit gewählt, meist ein Jahr (so kamen im Lauf der Zeit viele dran und erwarben „Erfahrung“). Es wurden auch auf Antrag einzelner Sprecher (die meisten hörten wohl nur zu) konkrete Entscheidungen getroffen. Nur wenige waren stimmberechtigt. Und Teilnahme war gefordert. So heißt es in einer berühmten Perikles-Rede: „Denn einzig bei uns heißt einer, der daran (an den staatlichen Dingen) überhaupt keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein nutzloser“. Wer sich nur um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, der war ein „Idiot“ (nicht in unserem Sinne).

Die Teilnahme, die Teilhabe an den politischen Entscheidungen gehörte zu einem „guten Leben“. Von diesem Ideal sind wir heute weit entfernt. Die Selbstverwirklichung wird im „privaten Leben“ angestrebt; zu ihrer Realisierung ist – wohl nach Auffassung der meisten Menschen, die in demokratischen Ländern leben – die regelmäßige, aktive Teilnahme am politischen Leben nicht nötig. Vielfach beschränkt man sich auf den einschlägigen Medienkonsum, auf das Haben (und Wechseln) von Meinungen, auf gelegentliche Gespräche im engeren Lebenskreis, auf die Teilnahme an Wahlen.

Oft wird die Lethargie der Bevölkerung beklagt. „Politikverdrossenheit“ und Desinteresse werden analysiert und es wird nachgedacht, wie man diesen als gefährlich empfundenen Phänomenen entgegenwirken könnte. Dabei wird oft übersehen, dass eine gewisse Lethargie der Bevölkerung durchaus ihr Gutes hat. Eine permanenten Erregung aller über alles wäre auf die Dauer unerträglich, eine Dauerpartizipation vermutlich lähmend, eine ständige Mobilisierung eher ein Kennzeichen einer revolutionären Atmosphäre.

Wie so oft, ist das richtige Maß an politischer Teilnahme der Bevölkerung zu bestimmen. Es liegt zwischen den Extremen der völligen Apathie und der Dauererregung – leider ohne Gedenkstein. Und es ist ziemlich sicher abhängig von unreflektierten Traditionen, gesellschaftlichen Trends, aktuellen Ereignissen und technischen Möglichkeiten.

Einstellung der Österreicher zur direkten Demokratie

Versuchen wir – anhand rezenter sozialwissenschaftlicher Studien und Beobachtungen – einen Blick auf die gegenwärtige Situation zu werfen, auf die Rahmenbedingungen für mehr Teilnahme am politischen Geschehen jenseits von Wahlen: Da sind zum einen Einstellungen/Werthaltungen, zum anderen technische Voraussetzungen zu beachten. Nur ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung interessiert sich eingestandenermaßen „sehr stark“ für Politik (12 Prozent), ein weiteres Drittel (33 Prozent) bezeichnet sich als „einigermaßen interessiert“.

Das sind (abhängig von der Problemlage) sehr variable Größen. Interesse drückt sich u.a. im einschlägigen Medienkonsum, in Gesprächen über politische Ereignisse, in (schwankenden) Beteiligungsraten bei diversen Wahlgängen, aber auch in Einstellungen zu Instrumenten der direkten Demokratie aus. Auf Grund der Ergebnisse des letzten „Demokratievolksbegehrens“ („Mein Oe“) könnte man glauben, dass an einem Mehr an Partizipation nur wenig Interesse besteht; aber das wäre ein Fehlschluss.

Die geringe Unterzeichnerzahl hat viele Ursachen: Eine davon ist der Umstand, dass nicht ein inhaltliches, sondern ein formales Thema (Verfahrensfragen) angesprochen wurde. Dieses ist „kühler“, erfordert „Kennerschaft“, stellt Verfahren als Lösung politischer Fragen zur Diskussion. Bei der Abstimmung zum Bundesheer war hingegen – entgegen den Erwartungen vieler politischer Beobachter/Meinungsforscher – die Beteiligung hoch (obwohl das Interesse am Bundesheer üblicherweise gering ist, traditionelle Parteistandpunkte irritierenderweise verlassen worden waren und das Thema in Zeiten einer Schuldenkrise kaum von brennender Aktualität war).

Obwohl nur ein kleiner Teil der österreichischen Bevölkerung als politisch „stark interessiert“ gelten kann, gilt: Mehr als 50 Prozent finden, dass Instrumente der direkten Demokratie verstärkt zum Einsatz kommen sollten (Herbst 2012), etwa 4/10 finden, man sollte mit dem Ausbau der direkten Demokratie eher vorsichtig vorgehen.

Nur eine knappe Mehrheit findet (in einer Umfrage, in der naturgemäß ohne viel Reflexion, ohne Abwägung nach Konfrontation mit pro und contra-Argumenten geantwortet wird), dass die Bevölkerung nicht automatisch über Verfassungsgesetze abstimmen können soll (falls ein entsprechend starkes Volksbegehren das „erzwingt“). Immerhin 45 Prozent halten eine Abstimmung in einem solchen Fall für wünschenswert.

Für zwei Drittel ist auch eine Abstimmung über Menschenrechte vorstellbar, für fast ebenso viele eine über Steuern und Gebühren. Zwar hält man (ebenso oft) die Warnung für berechtigt, dass bei „verpflichtenden Volksabstimmungen“ (nach entsprechend starken Volksbegehren) viele Entscheidungen am Parlament „vorbei“ fallen. Aber dennoch: Geht nicht „alles Recht vom Volk aus“? Ist nicht das Volk der Souverän (das hat man so gelernt)?

Ja, und rund die Hälfte der Bevölkerung wäre für den Vorschlag, dass man sich via Internet an Volksbegehren beteiligen kann. Demokratische Partizipation per Mausklick, Mitwirkung at our finger tips. Beppe Grillo lässt grüßen. Sein Erfolg mit seiner bizarren Internet-Utopie zeigt, welche Folgen das Versprechen von Mitwirkung durch moderne Mittel unter bestimmten Voraussetzungen (radikale Enttäuschung durch „herkömmliche Politik“) haben kann.

Die „Schwarmintelligenz“ und die „flüssige" Demokratie

 

 

In seiner „besten aller möglichen Welten“ befreit die „Schwarmintelligenz“ den „entmündigten Bürger“ von „vermittelnden Instanzen“. Er träumt von einer radikalen Form der Demokratie, „ohne Parteien, ohne Regierung“, in der (Web-)Bürger über das Netz Kandidaten wählen, Gesetze diskutieren und beschließen. Nachzulesen in dem Buch „5 Sterne“ (von Dario Fo, Beppe Grillo, Gianroberto Casaleggio). Über Demokratie und die Zukunft Europas.

Das Internet ist modern; es ist Teil des Lebens. Hilfsmittel für alles und jedes. Für Information und Kommunikation, für Ein- und Verkäufe, für Bewertungen und Einholung von Bewertungen, für Sammlung und Speicherung von Erfahrungen anderer Menschen, für Austausch mit Gleichgesinnten, für die Organisation von Events, für Instant-Abreaktion in einem Shitstorm … usw. Vor 20 Jahren war es erst wenigen gebrauchs-geläufig. Heute würde sein Zusammenbruch bei vielen Menschen Entzugserscheinungen auslösen.

94 Prozent (2012) haben persönlich die Möglichkeit aufs Internet zuzugreifen. Fast 80 Prozent davon tun das zumindest einmal täglich von zuhause aus. 40 Prozent der User gebrauchen es auch für politische Information (Medienangebote, Blogs, politische Kommunikation). 45 Prozent sind bei einem sozialen Netzwerk angemeldet; weitere 8 Prozent gleich bei mehreren. Rund knappe 2/3 haben ein Smart-Phone mit Internetzugang. Die praktischen Voraussetzungen für „Grillini“ aller Spielarten sind somit einigermaßen gegeben.

Aber mit der Verfügbarkeit von technischen Mitteln steigt nicht automatisch das politische Interesse, das Engagement, der Informationsgrad über Konsequenzen politischer Entscheidungen. Interesse, Engagement, Informiertheit sind vielmehr ein Resultat eines längeren Prozesses, einer politischen Sozialisation. Am Anfang steht oft (nicht immer) das Aufwachsen in einem politischen Milieu (eher abnehmend), die regelmäßige Beschäftigung mit öffentlichen Themen (medial bzw. im sozialen Austausch), Betroffenheit durch ein Problem (beruflich oder privat), die Politisierung durch ein Thema (Atom, EU, Sterbehilfe), das „überpersönliche“ Fragen, z.B. ethische Fragen berührt und längere Zeit in der Öffentlichkeit diskutiert wird.

Auch diese Sozialisation wird sich künftighin im Netz abspielen und andere Formen des politischen Lernens ermöglichen als bisher vorhanden. An einem Beispiel ausgedrückt: Bisher schrieb man (und tut es noch) bei besonderer Erregung Leserbriefe oder Briefe an Abgeordnete (mühsam). Heute reagiert man „spontan“ (und leicht) via E-mail; Treffen in Selbsthilfegruppen oder mit „Gleichgesinnten“ erforderten früher einen längeren Such- und Organisationsprozess – heute sucht und findet man auf Knopfdruck (wenn man weiß, was man sucht).

Und dabei vermischt sich, vom Einzelnen oft unbemerkt, der private und der öffentliche „Raum“. Schließlich „agiert“ man oft von „zuhause“ aus und ist doch vielen öffentlich sichtbar. Die Probleme, die die Verwischung der Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem aufwirft, seien hier nur angedeutet: „Öffentliches Auftreten“ hat eine gewisse Verbindlichkeit, folgt anderen Verhaltensregeln und Rollenmustern als privates Agieren. „Im Netz“ benimmt man sich oft wie eine private oder auch anonyme Person und ist doch zumindest potentiell in einer sichtbaren Öffentlichkeit. Und manche wundern sich, dass sie gesehen werden, wenn sie sich in einer belebten Fußgängerzone blicken lassen. Es ist keine Frage, ob die Möglichkeiten des Netzes für die öffentlichen Angelegenheiten, die „res publica“, genutzt werden. Es ist nur die Frage, wie dies mittel- und langfristig geschieht und wie sich die politische Kultur dadurch verändert.

Viele mit den Fragen „direkter Demokratie“ befasste Menschen, auch sogenannte „Fachleute“, denken in konventionellen Bahnen, wenn sie über Möglichkeiten der Nutzung der „electronic tools“ (Internet & Co) nachdenken: Sie sprechen über die „Wahlen per mouse-click“, wie sie im Baltikum teilweise schon üblich sind; wie sich ein solches Angebot auf die Wahlbeteiligung z.B. bei Hochschülerschaftswahlen auswirken würde; über die mögliche Benachteiligung der nach wie vor „internetfernen“ Bevölkerungsschichten; über Gefahren, die durch eine mögliche „Instant-Politik“, die extrem stimmungsbeeinflusst ist, drohen.

Seltener reflektiert man die Möglichkeiten, die mit den neuen Mitteln gegeben sind – und deren Realisierung freilich wohlüberlegt sein will (was, wie).

Da gibt es z.B. die Möglichkeit, politische Vorhaben frühzeitig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen; und die Stellungnahmen und Expertisen vieler einzuholen (weit über den Kreis der derzeitigen „Begutachter“ hinaus). „Crowd Intelligence“ heißt das. An einem solchen Prozess könnten unterschiedliche „Anrainergruppen“ teilnehmen: Solche, die nur anonym mitdiskutieren wollen; solche, sie sich durch fachliche Kenntnisse oder berufliche Qualifikation ausweisen (Freilich: Wer bestimmt die?); solche, die unmittelbar vom Problem betroffen sind (Wer definiert das?).

Eine andere Form der politischen Partizipation entwickelt sich unter dem etwas irreführenden Begriff „Liquid democracy“. Da wird nicht einfach abgestimmt, sondern es wird ein politischer Prozess bei einer definierten Gruppe (Parteimitglieder, Gemeindebürger, definierte Betroffene) in Gang gesetzt. Vorschläge werden zu einer bestimmten Frage gemacht – und modifiziert. Man kann seine „Stimme“ an Vertrauensleute delegieren und auch wieder entziehen. Der Diskussionsprozess und seine Schritte und Ergebnisse sind für alle Beteiligten transparent und erst am Schluss erfolgt allenfalls eine Abstimmung.

Geeignet erscheint mir ein solches Modell für regionale Diskussionen/Fragen/Projekte. Die Beteiligung setzt Engagement, Betroffenheit etc. voraus; so wie sich weiterbilden Bildung voraussetzt, erfolgreiche Informationssuche, das Wissen, was man sucht usw.

Das Netz vergisst nicht

Sich als „Konsument“ im Netz zu bewegen ist – nach verhaltensmäßig kurzer Zeit – für sehr viele Menschen geradezu selbstverständlich geworden. Dabei benützt man etwas, dessen Mechanismen und Nebenwirkungen man kaum versteht: Man bestellt Bücher (und wundert sich, dass man wenig später artverwandte Publikationen angeboten bekommt); man erledigt seine Bankgeschäfte online und verlässt sich darauf, vom Rest der Welt unbemerkt zu bleiben; man bucht Flüge und Reisen, spielt im Internet, googelt (statt ins Lexikon zu schauen), dokumentiert auf Facebook & Co jeden kleinen Lebensschritt, kauft und verkauft usw.

Im „Mitbewusstsein“ ist zwar präsent, dass man Spuren hinterlässt, dass „das Netz nicht vergisst“, dass die eigenen Daten gesammelt und verwertet werden können – aber Verhaltenskonsequenzen hat dieses „Mitbewusstsein“ kaum. „Kein Mensch weiß, wie viel Chemiker an ihn denken“, heißt es im metaphorischen Sinn bei Paul Valery. Nun, man weiß nicht, wer sich aller für die „Spuren im Netz“ interessiert, aber man ist erschrocken, wenn man merkt, wer aller Gelegenheit hat beziehungsweise bekommt, darauf zuzugreifen. Nicht nur „internationale Skandale“, auch die permanenten, allgemein gehaltenen Warnungen von offiziellen oder selbsternannten Datenschützern tragen zur Irritation bei. Das Gerücht um „big data“ macht die Medienrunde („dein Verhalten ist komplett vorhersagbar“, du bist durchsichtig“, „wenn man die Daten verknüpft, entsteht der gläserne Mensch“ etc.). Ich wage die (leichte) Prognose, dass derartige Botschaften in Hinkunft zunehmen werden.

Das schafft unter Umständen Probleme für elektronische politische Partizipation. Es mag einem ja (hierzulande!) ziemlich egal sein, ob jemand via Amazon & Co erfährt, welchen Krimi man gekauft hat, in welchem Hotel man gewohnt, welchen YouTube-Beitrag man sich angesehen hat. Welche politischen Stellungnahmen man abgegeben hat, mit wem man über Politik kommuniziert hat, wie man „gewählt“ oder abgestimmt hat: Das aber sollte in aller Regel – außer man will an die Öffentlichkeit treten – geheim bleiben.

Wenn man, so meine These, im Netz als „politisches Wesen“ agiert – in welcher Form auch immer – will man darauf vertrauen können, dass die Daten „sicher“ sind, und dass kein Missbrauch betrieben werden kann (durch Verknüpfung oder Weitergabe). Man will sicher sein, dass Daten nur zu dem Zweck genutzt werden, den man bei seiner Beteiligung im Sinn hatte.

Man möchte vertrauen können; muss vertrauen können. Aber Vertrauen ist eine „veränderliche Variable“. „Veränderliche Variable“ das ist eine Bezeichnung aus der Statistik. Sie bezeichnet z.B. im Experimente jene Größe, deren Variation beobachtet wird, während sich die Rahmenbedingungen ändern. In meinem Beruf als Sozial- und Marktforscher hat man es oft mit der „veränderlichen Variable Vertrauen“ zu tun: So geht es bei vielen Studien um die Frage: „Was konstituiert bzw. gefährdet Vertrauen in Personen (z.B. Politiker), Parteien und andere Institutionen, in Berufsstände, in Marken, Medien, in die Politik oder die Wirtschaft oder gar in die Zukunft“.

Ich will kurz verdeutlichen, wie weit verbreitet das Verlangen nach Vertrauen ist, wie allgegenwärtig im Alltag und in spezifischen Lebenswelten. Es ist im Kern ein Verlangen nach konstanten Verhältnissen, die man kennt. Neues, vom Vertrauten Abweichendes, kann Gefahr bedeuten und mehr als nur das psychische Gleichgewicht stören.

Ein Kind braucht „vertraute“ Personen, sogenannte „Bezugspersonen“, denen es vertrauen können will; es braucht sie nicht nur im Säuglingsalter. Störungen dieses „Urvertrauens“ haben oft lang andauernde negative Folgen. Jugendliche wollen ihren Freunden vertrauen können, dass sie „verstanden“ werden. Lehrer aller Spielart müssen das Vertrauen der ihnen Anvertrauten/der sich ihnen Anvertrauenden gewinnen, um ihrer Rolle gerecht werden zu können. Permanente Skepsis würde gerade in einer arbeitsteiligen Gesellschaft alle notwendigen Abläufe blockieren. Man möchte darauf vertrauen, dass sich die anderen an die gleichen Regeln halten (im Spiel und im Straßenverkehr – siehe „Vertrauensgrundsatz“). Man möchte seinem Partner vertrauen können – auch der chronisch Eifersüchtige, der die Vertrauensbasis durch Kontrollwahn zerstört.

Die „Vertrauensfrage“ ist allgegenwärtig

Man möchte dem Arzt vertrauen, den man aufsucht, dem Handwerker, den man beauftragt, der Bank, der man sein Geld hoffentlich nur temporär überlässt, der Pensionsversicherung, in die man für spätere Zeiten einzahlt, ja auch den Politikern, die für das Gedeihen von Staat, Land oder Gemeinde sorgen sollen. Man möchte „der Wissenschaft“, deren Haus bekanntlich viele Räume hat, vertrauen können, den Medien, die man zur Information nutzt; ja und auch dem eigenen Glauben (ob es sich nun um eine säkulare oder religiöse Weltanschauung handelt).

Die Aufzählung war klarerweise nicht vollständig. Sie sollte nur vor Augen führen, dass „vertrauen können“ allüberall gebraucht wird. Ohne zu vertrauen ist jegliches Handeln schwierig. Ständig zu prüfen, ob man den Bezugspersonen, den Freunden, den Vorgesetzten, den Ärzten, den Wissenschaftlern, den Beamten etc. vertrauen kann, ist praktisch unmöglich; selbst für den habituellen Skeptiker.

Manche Leser werden sich bei dem einen oder anderen Punkt meiner Aufzählung gesagt haben: „ja aber wie soll man denn „denen“ vertrauen können“? Und dennoch ist es bis zu einem gewissen Grad geradezu notwendig. Man lebt nicht nur auf Grund der eigenen Erfahrung. Nicht in der „vertrauten Welt“, schon gar nicht in der „gedeuteten Welt“ (Rilke).

Wenn man politische Partizipation mittels moderner Kommunikationstechniken geordnet auf den Weg bringen will, spielt das Vertrauen in jene Institutionen, die Strukturen und Rahmenbedingungen dafür bereitstellen, eine Schlüsselrolle.

Fragen Sie sich selbst, welchen Institutionen, welcher Einrichtung sie vertrauen würden, wenn es um ihre allfällige politische Partizipation geht; und wie unbedingt das Vertrauen ist. Wodurch kann es allenfalls erschüttert oder gar zerstört werden? Ist es ein Vertrauen auf Zeit (z.B. für einen bestimmten, zeitlich begrenzten Prozess) oder „für immer“? Ist es „blindes“ Vertrauen oder muss es durch gute Argumente gerechtfertigt sein.

Bekanntlich können sich nicht nur Technologien ändern, sondern auch politische Systeme. Daten, die theoretisch unsterblich sind, weil sie nie gelöscht werden, können unbeabsichtigte Folgen haben.

Man darf nie aus dem Auge verlieren, wozu politische Partizipation letztlich dienen soll: Es ist ein altes, ehrwürdiges Ziel, das unter ganz anderen Bedingungen „erfunden“ wurde. Teilnahme am politischen Leben ermöglicht eine Selbstentfaltung, Verwirklichung, die für das „zoon politicon“ charakteristisch ist. Nicht allein (und durch Konsum) wird der Mensch glücklich, sondern erst im Zusammenleben und -wirken mit seinesgleichen. Das Mitwirken stärkt das Vertrauen und das Gefühl, mitverantwortlich zu sein. Hehre Ziele … Es wird vertrauen-können vorausgesetzt, um Vertrauen zu stärken.

Es sind nicht nur technische Lösungen, die vertrauensbildende Wirkungen haben; es muss wohldurchdachte Gesetze geben, die Missbrauch verhindern. „Leaks“ (auch späte) müssen durch Datenlöschung unmöglich werden. Man muss „Bremsen“ in die möglichen Partizipationsprozesse einführen – um nur einige Beispiele zu nennen.

Viele Fragen bleiben offen. Es wird darauf ankommen, sich/einander die richtigen Fragen zu stellen und keine allzu schnellen Expertenantworten darauf zu geben.

Rudold Bretschneider ist seit Jahrzehnten in diversen Cheffunktionen bei GfK (früher Fessel-GfK) tätig und einer der prominentesten Marktforscher und politischen Analysten des Landes.

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