Eine Wiener Wahlanalyse einmal anders – mit ein paar Faktenchecks

Das Wiener Wahlergebnis wurde von Experten nach allen Richtungen hin analysiert. Prozentuelle Veränderungen wurden meist nicht relativiert, obwohl z.B. ein Zugewinn von 4 Prozent von 40 auf 44 Prozent eine völlig andere Wertigkeit hat, als eine Verdoppelung des Stimmanteils von 4 auf 8 Prozent. Im ersten Fall hat sich der Wähleranteil um ein Zehntel erhöht, im zweiten Fall jedoch verdoppelt. Wer ist hier also tatsächlich der große Gewinner?

Aber lassen wir diese Prozentspielereien und schauen wir uns einige falsche Interpretationen und die dazugehörigen Fakten an.

Es ist ein ganz grober Fehler, den 11. Oktober 2020 mit dem gleichen Datum des Jahres 2015 zu vergleichen. Ein tatsächlich aussagekräftiger Vergleich kann sich nur auf das Wiener Ergebnis der letzten Nationalratswahl 2019 beziehen.

Denn gegenüber der Wahl 2015 hat sich in Wien in diesen fünf Jahren Entscheidendes verändert. Nicht nur, dass die Wiener Bevölkerung um über 100.000 Personen gewachsen ist, hat sich auch der Ausländeranteil von 26 Prozent auf 31 Prozent erhöht. Dies hat zur Folge, dass trotz eines starken Bevölkerungszuwachses die Zahl der für den Gemeinderat Wahlberechtigten nahezu gleich blieb, genau genommen sogar um 10.000 abgenommen hat.

Das Wiener Wahlvolk hat sich seit 2015 auch ganz natürlich signifikant verändert. Rund 100.000 Erstwähler kamen durch Heranwachsende dazu, während gleichzeitig etwa 80.000 Verstorbene registriert wurden. Das ist eine Änderung von insgesamt 180.000 Personen oder rund 15 Prozent in den Wählerverzeichnissen der Jahre 2015 und 2020.

Dazu noch die Vergleichszahlen der Bevölkerung 2015-2020 in den ‚Flächenbezirken’:

Donaustadt:            von 173.000 auf 195.000
Favoriten:                von 190.000 auf 207.000
Floridsdorf:             von 152.000 auf 168.000 

Auch innerhalb Wiens gab es während der fünf Jahre eine merkbare Mobilität. Wiener verließen die Bundeshauptstadt, neue kamen aus anderen Bundesländern, und auch innerhalb Wiens wechselten vor allem die Jungen ihre Adressen von einem Bezirk in einen anderen.

Diese Fakten lassen einen Vergleich mit der Nationalratswahl 2019 als naheliegender erscheinen, weil sich die Wählerstruktur in einem Jahr eben viel weniger verändert als in fünf Jahren.

Noch weniger eignet sich der von den Experten herangezogene Fünfjahresvergleich, wenn man die politische Ausgangssituation der beiden Wiener Wahltermine betrachtet.

Hier sollten alleine die Stichworte ‚FPÖ’ und ‚Strache’ genügen. 2015 war es ein Wahlkampf auf Biegen und Brechen zwischen links und rechts. Ein Zweikampf Häupl gegen einen auf dem Höhepunkt befindlichen Strache. In diesem Boxkampf spielte die ÖVP nur noch die Rolle des Nummerngirls mit einem Totalabsturz, wie ihn jetzt die Blauen durch einen politischen Selbstmord erfahren mussten.

Mangels eines blauen oder auch andersfärbigen echten Feindbilds hatte es der rote Spitzenkandidat Ludwig diesmal sehr leicht, unangefochten ein tolles Ergebnis zu erreichen.

Ist es aber wirklich so toll? Häupl erreichte 2015 für die SPÖ 39,59 Prozent. Ludwig bekam nach seinem Spaziergang über eine ‚Gmahte Wiesn’ 41,62 Prozent. Eigentlich könnte man erst ab mindestens 45 Prozent von einem tollen Wahlsieg sprechen, nach einem Wahlkampf, in dem die roten Stimmen doch nur abzuholen waren – und nicht nur in den 220.000 Gemeindewohnungen ...

Schauen wir uns die Vergleichszahlen der Grünen an. 14,8 Prozent gegenüber 11,84 Prozent vor fünf Jahren. Da kann schon gejubelt werden mit einem Danke der Frau Vizebürgermeister Hebein, ihrem Popup-Verkehrsressort und der großen Badewanne am Gürtel. Aber Moment mal – wie war das 2019 bei der Nationalratswahl? Da erreichten die Klima- und Umweltaktivisten in Wien 20,69 Prozent!

Faktum ist: Ein Radweg in der Praterstraße, das Planschbecken am Gürtel und eine Mimimispitzenkandidatin haben innerhalb eines Jahres jeden vierten Grünwähler vertrieben.

Ähnliches sehe ich bei den Pinken. Herr Wiederkehr kam aus dem Jubeln gar nicht mehr heraus. Sensationelle 8 Prozent, eine Steigerung um ein Drittel, so ließ er es in die Kameras dröhnen. Das Endergebnis ließ den Sieg dann zu seinem Pech noch auf ein Plus von nur 1,3 Prozent schrumpfen. Und das bei massivster Medienunterstützung, vom "Standard" bis zum ORF.

Noch größer die Enttäuschung, wenn Herr Wiederkehr jetzt hier lesen muss, dass seine Neos vor einem Jahr bei der Parlamentswahl 2019 in Wien sogar schon 9,86 Prozent erreichten – naja, er muss es ja nicht lesen ...

Es scheint müßig, das Schicksal der FPÖ und der ‚Ichpartei’ HC näher zu betrachten. Alles wurde dazu schon gesagt und noch mehr geschrieben. Aber eines möchte ich doch noch aufzeigen. Erneut einen Vergleich der Wählerzahlen der Nationalratswahl 2019 und der Wienwahl ein Jahr später bemühend. Im Herbst 2019 war Ibiza und das schlechthin nur als idiotisch zu bezeichnende Agieren des H.C. in aller Munde und für die Wahl auch entscheidend. Die FPÖ ohne Strache kam damals in Wien auf 12,83 Prozent (nach 21,35 Prozent bei der Nationalratswahl 2017).

Die Probleme Ibiza und Strache haben sich für die Blauen innerhalb des letzten Jahres eher nur noch verschlechtert, auch durch Straches selbstvernichtender Versuch einer Parteispaltung.

Und trotzdem kamen beide Blaue (Nepp und Strache) am 11. Oktober zusammen noch auf 10,38 Prozent. Eigentlich ein erstaunliches ‚bei der Stange bleiben’ der rechten Kernwähler.

Noch ein Wort zu den mit viel Graphik dargestellten Wählerstromanalysen, wie viele Wähler die Farben gewechselt haben, wer weshalb diesmal anders gewählt hat als vor fünf Jahren. Aber das Wahlvolk des 11. Oktober 2020 ist eben nicht ident mit dem des Jahres 2015.

Daher fände ich es viel interessanter und aussagekräftiger zu hinterfragen, weshalb jeder vierte Grün-Wähler vom Herbst 2019 diesmal nicht Grün gewählt hat, und wieso sich auch ein bemerkenswerter Teil der Neos-Wähler vor einem Jahr jetzt nicht für die Pinken erwärmen konnte.

Zum Schluss noch eine Betrachtung des Abschneidens der türkisen ÖVP unter Gernot Blümel.

Ja, die ÖVP hat sich mit dem Wandel von Schwarz zu Türkis gegenüber 2015 auf 20,43 Prozent sogar mehr als verdoppelt. Punktgenau, wie es die Sonntagsfragen erwarten ließen.

Böse Zungen meinen, dass die Türkisen dieses Resultat trotz Blümel erreicht haben. Nun gab es in der Tat im türkisen Fußvolk ausreichend Widerstand gegen einen Bundesfinanzminister als Spitzenmann in der oppositionellen Bundeshauptstadt. Viele glaubten nicht, dass es gescheit und glaubhaft sei, in der Zeit einer österreichischen und europäischen Budget- und Wirtschaftskrise den Schlüsselminister ins Wiener Rathaus zu schicken, am Ende gar nur als Nichtamtsführenden Stadtrat.

Die Parteiführung setzte jedoch auf den Ministerbonus, der den roten Bürgermeisterbonus wettmachen sollte. Dabei wurde aber eines übersehen: Blümel konnte gar nicht gegen einen Ludwig kämpfen. Zu sicher war Ludwig schon vor der Wahl als Bürgermeister im Rathaus einzementiert. Stattdessen musste Blümel sich gegen alle anderen Parteien und Spitzenkandidaten zur Wehr setzen. Er musste statt eines Angriffs- einen persönlichen Abwehrkampf führen.

Wie ist nun das türkise Endergebnis mit Blümel zu werten?

Vergleichen wir die 20,43 Prozent wieder mit dem viel naheliegenderen Wiener Ergebnis der Nationalratswahl 2019 vor einem Jahr. Damals erreichte die ÖVP mit dem Strahlemann Sebastian Kurz als Kanzlerkandidat in den 23 Wiener Bezirken 24,63 Prozent Nur um ganze vier Prozent mehr als jetzt Blümel.

Ich wage daher abschließend die Behauptung, dass eine ÖVP am 11. Oktober auch mit einem anderen Spitzenkandidaten, wobei zumeist an den Wiener Wirtschaftskämmerer Ruck gedacht wird (der aber selbst gar nicht in die Rathauspolitik einsteigen will – er macht sich das mit Ludwig viel lieber zu zweit aus), kein markant besseres Ergebnis erzielt hätte.

Meine Kaffeesudvorhersage für die kommende Regierungskoalition? Never change a winning team! Ludwig wird nolens volens erneut Frau Hebein akzeptieren, aber mit Änderungen in der Kompetenz. Notfalls, damit die Grünen ihr Gesicht wahren können, auch mit Verkehrsagenden. Achtung es folgt Ironie: Aber möglicherweise reduziert auf Radfahr- und Fußgängerangelegenheiten, vermehrt mit Stadtgartenamt, Schrebergärten und Friedhöfe ...      

Dr. Günter Frühwirth ist Jurist mit aktivem Interesse an Themen der Gesellschaftspolitik.

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