Abgleiten in eine Tyrannis?

Die Österreichische Bundesverfassung stammt aus 1920 und wurde von dem im Februar 1919 gewählten Parlament beschlossen. Sie zeigt deutliche Spuren übereilter Arbeit, so wurden zum Beispiel die Grundrechte des Bürgers einfach aus dem Staatsgrundgesetz über die Grundrechte der Staatsbürger vom 21. Dezember 1867, also aus der Monarchie, übernommen.

Weiters konnte man sich über die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern nicht einigen, womit auch der Föderalismus bis heute ein offenes Problemfeld bleibt. Die Verwaltungsebene Bezirk wurde auch nicht demokratisiert, sondern einfach aus der Monarchie übernommen. Die am ehesten vergleichbare deutsche Ebene des Landkreises wird im Vergleich dazu von demokratisch gewählten Organen verwaltet.

Hauptaugenmerk legten die Autoren nach dem Zusammenbruch der Monarchie auf die Errichtung einer funktionsfähigen Republik, erkennbar weniger auf Freiheit und Mitbestimmung der Bürger. Die Regierung musste zentralisiert und damit möglichst stark und entscheidungsfähig ausgebildet werden, weil sie in einer staatlichen Krisensituation in Kraft zu setzen war.

Die Verfassung ist eine der ältesten in Europa, die heute noch in Verwendung steht. Sie wurde niemals durch eine Volkabstimmung legitimiert und nicht einmal von Abgeordneten des gesamten Staatsgebietes beschlossen, weil das heutige Burgenland zum Zeitpunkt der Inkraftsetzung noch nicht bei Österreich war.

Außer der Bundesverfassung stehen noch eine Reihe von Gesetzen, Gesetzesbestimmungen und Staatsverträgen im Verfassungsrang. Damit wird die Verfassung unübersichtlich und kann auch durch qualifizierte Mehrheiten ohne Volksabstimmung verändert werden. Es gibt keinen Mechanismus, der in der Lage ist, Verfassungsbrüche durch die Mehrheit der im Parlament vertretenen Parteien wirkungsvoll zu unterbinden. Damit sind aber offensichtlich keine wirksamen Instrumente vorhanden, ein Abgleiten der derzeitigen Regierungsform in die Tyrannis zu verhindern.

Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung wurde bereits mehrfach erfolglos angegangen. Sie ist also von höchster Dringlichkeit. Die Verfassung muss eine unabhängige Kontrollinstanz beinhalten, die bei Verfassungsbrüchen von sich aus tätig werden kann, und deren Rechte bis zur Auflösung des Parlamentes reichen.

Sämtliche Versuche, die Bundesverfassung zu reformieren, gingen bisher in Richtung Erleichterung und daraus erwarteter Verbesserung des Regierens. Das Ziel der „Verbesserung“ ist dabei nicht näher definiert. Es könnten also Maßnahmen, die die Regierungsarbeit erleichtern, auch dem Ziel der Demokratie, dem Bürger möglichst viel Freiheit und Selbstverantwortung zu gewähren, diametral entgegengesetzt sein. Die Erleichterung der Regierungsarbeit bildet geradezu einen Gegensatz zur Demokratie, weil in der Tyrannis das Regieren für den Regierenden im Vergleich zu anderen Regierungsformen natürlich am einfachsten ist.

Demokratie ist die am schwersten zu praktizierende Regierungsform, jede Erleichterung der Arbeit führt daher von der idealen Demokratie weg in Richtung Tyrannis. Bei der fürstlichen Entlohnung, die sich Österreichs Politiker selbst gewähren, dürfte das Volk durchaus besondere Anstrengung und Leistung erwarten. Allerdings kann nicht damit gerechnet werden, dass die Politik von sich aus initiativ wird, um sich selbst die Arbeit zu erschweren. Erste Versuche einer Demokratisierung in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts dienten ausschließlich dem Machtgewinn und -erhalt einer Partei. Seither ist keinerlei weiterer Versuch einer Demokratisierung unternommen worden.

Die Weiterentwicklung der Verfassung zu Gunsten von mehr Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger, also zur Demokratisierung, muss entschieden angegangen werden.

Österreichs Parlament, Regierung, die Mehrzahl der Landtage und Landesregierungen sowie die Masse der Gemeinden werden seit beinahe 70 Jahren von zwei Parteien dominiert. In den Fällen, in denen andere im Parlament vertretene Parteien mit eingebunden wurden, zeigten sie grundsätzlich dieselben Verhaltensmuster wie die beiden größeren Regierungsparteien.

Die Politik aller bestehenden Parlamentsparteien ist auf Optimierung des Wohls der Partei und nicht auf das des Staates ausgerichtet. Die Summe der Parteiinteressen deckte sich aber niemals mit den Interessen des gesamten Volkes, weil die Bürger eine grundsätzlich andere Interessenlage haben – sie sind naturgemäß nicht am Machterhalt interessiert. Wegen dieses Interessenskonflikts zwischen Bürgern und Parteien wollen oder können sich erhebliche Teile der Bürgerschaft bei Wahlen nicht mehr artikulieren.

In den letzten Jahren wächst die Kluft zwischen Politik und Bürgerschaft erkennbar dramatisch an. Darüber hinaus werden gerade die schwächsten Teile des Volkes, die Kinder, im Wahlsystem nicht abgebildet, finden daher in der Legislative kaum Vertretung. Pensionisten haben ihre Interessensvertretungen und werden wegen ihrer quantitativen Stärke unter den wahlberechtigten Bürgern heftig umworben. Nach Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 haben Kinder aber Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung, womit das politische System in Österreich mit seiner Überbetonung alter Menschen im Vergleich zu den Kindern die Zielsetzung dieses Artikels klar verfehlt. Die Schuldenpolitik der Regierungen lädt diesen wehrlosen Opfern finanzielle Bürden auf, die sie noch über Jahrzehnte belasten werden.

Für die nächsten Legislaturperioden zeichnet sich keine handlungsfähige Regierung außerhalb des bestehenden Parteienspektrums ab, weil mehrere Oppositionsparteien für eine Verlängerung der bestehenden Regierung unter ihrem Einschluss auf unabsehbare Zeit zur Verfügung stehen. Durch Wahlen ist diese Konstellation nur mehr im Detail, nicht mehr grundsätzlich zu verändern, weil

  • die Regierungsparteien und die sie unterstützende Oppositionspartei sich durch ihre Klientel-Politik große Teile der Wählerschaft abhängig gemacht haben
  • die Masse der Printmedien über Förderungen und der staatliche Rundfunk über Personalpolitik in völlige Abhängigkeit von der Regierung versetzt wurden und nur noch als Sprachrohre des herrschenden Systems anzusehen sind
  • durch die bestehenden Parteien der Einzug neuer Parteien in das Parlament extrem erschwert wird und neu hinzugekommene Parteien mit allen Mitteln der abhängigen Massenmedien bekämpft werden, was am Beispiel der systematischen Herabsetzung der Stronach-Partei und ihres Gründers im Wahlkampf deutlich wird, ohne damit der Partei besondere Qualitäten zuzusprechen
  • die Justiz von der Politik soweit instrumentalisiert wurde, dass die Korruption der Systemparteien weitgehend ungeahndet und auch für die Masse der Bevölkerung unerkannt bleibt
  • die Erziehung der Kinder unter Nichtbeachtung des Artikels 26 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 mehr und mehr vom Start an sich gezogen wird und die Erziehungseinrichtungen personell selbstverständlich nach parteipolitischen Bedürfnissen besetzt werden, womit der Einfluss der Parteien bereits im Kindergarten beginnt und sich über die gesamte Schulzeit ausdehnt. Die Wahlergebnisse der Hochschülerschaft zeigen das Ergebnis am anderen Ende des Bildungswegs.

Die beiden Großparteien wurden bei den Nationalratswahlen 1949 noch von 79 Prozent der Wahlberechtigten gewählt, bei der Nationalratswahl 2013 gerade noch von 37 Prozent. Trotzdem verfügen sie gemeinsam über die absolute Mehrheit im Parlament, weil 26 Prozent der Wahlberechtigten sich der Stimme enthielten, womit die Nichtwähler die stärkste Gruppe darstellen.

Die Regierungsparteien können also nicht mehr den Anspruch erheben, die Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung, geschweige denn der gesamten Bevölkerung zu vertreten. Trotzdem regieren sie gemeinsam seit 1945 zusammengerechnet 32 Jahre. Es gab seit dem Beginn der zweiten Republik keinen Tag, an dem nicht zumindest eine von ihnen den Bundeskanzler stellte. Eine Änderung der politischen Landschaft ist für die nächsten Legislaturperioden nicht erwartbar, außer eine oder optimal beide der Regierungsparteien implodieren nach italienischem Muster.

Das oberste Ziel der Regierungsparteien ist der Machterhalt, das der Oppositionsparteien der Gewinn der Macht. Also orientiert sich ihre Politik ausschließlich an der Bedienung ihrer Klientel, die ihnen die nötigen Stimmen zum Machterhalt beziehungsweise Machtgewinn verschaffen soll. Ansprüche der „gegnerischen“ Klientel werden grundsätzlich abgelehnt, außer man kann sie mit Vorteilen für die eigene abtauschen. Bei der eingetretenen gegenseitigen Blockade ist die Regierung praktisch handlungsunfähig. Grundlegende Reformen werden seit Jahren von der Öffentlichkeit und vom Rechnungshof eingemahnt, aber nicht umgesetzt. Gleichzeitig nimmt die Korruption im Lande erschreckende Ausmaße an.

Wenn es ein Merkmal der Demokratie ist, dass eine Regierung, die nicht mehr die mehrheitliche Zustimmung des Volkes genießt und darüber hinaus nicht mehr handlungsfähig ist, abgewählt werden kann, ist die österreichische Realverfassung der Zweiten Republik nicht mehr als Demokratie anzusprechen!

Die Oligarchie ist nach gängiger Definition eine Staatsform, in der eine kleine Gruppe die politische Herrschaft ausübt, im Fall Österreichs die Parteisekretariate der Regierungsparteien. Nach gängiger Staatsrechtlehre ist die Repräsentative Demokratie stark mit oligarchischen Komponenten durchsetzt, was in Österreich von Anfang an zu beobachten war. Nachdem die herrschende Gruppe per Volksentscheid kaum mehr von der Macht zu entfernen ist, können wir also im Fall Österreichs bereits von einer überwiegenden Oligarchie mit geringer demokratischer Durchsetzung sprechen.

Die oben angesprochenen Gründe für das weitgehende Fehlen der Abwahlmöglichkeit der herrschenden Gruppierung, die schleichend einsetzende Erosion der Meinungsfreiheit und die bis zur Unkenntlichkeit verwischte Gewaltenteilung weisen aber schon deutliche Spuren von Tyrannis auf.

Österreich ist eine Oligarchie mit noch vorhandenen Spurenelementen der Demokratie, befindet sich aber bereits erkennbar auf dem Weg in die Tyrannis.

Rupert Wenger war Offizier des Bundesheeres als Kompanie- und Bataillonskommandant in der Panzertruppe und später Analyst in einer Dienststelle des BMfLV. 

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