Was Mario Monti von Südtirol verlangt, birgt Sprengstoff in sich

Seit Monaten greift der italienische Ministerpräsident Mario Monti in die Selbstverwaltungsrechte der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol ein. Mit Regierungsdekreten und Erlässen zwingt er die dortige Landesregierung zur finanziellen Alimentierung dessen, was er zur Bewältigung der Überschuldung Italiens und der Sanierung des Staatsbudgets für notwendig erachtet.

Seit Jahren und Jahrzehnten schieben Italiens Regierungen und Finanzminister – egal, welche Partei sie jeweils stellt – einen Schuldenberg vor sich her, der sich an 125 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bemisst. Das bedeutet, dass eine gesamte volkswirtschaftliche Jahresleistung an erzeugten Gütern und erbrachten Dienstleistungen nicht ausreichen würde, um Italiens Verschuldung zu beseitigen. Monti gibt daher allen 20 Regionen und 103 Provinzen auf, nicht nur selbst zu sparen, sondern er kürzt ihnen zudem die dringend benötigten Zuweisungen aus Rom, ohne die sie ihren Aufgaben nicht nachkommen können.

Bozen-Südtirol und die Nachbarprovinz Trient (Trentino) trifft es dabei überproportional hart. Sie sind nämlich aufgrund der politisch-historischen Nachkriegsentwicklung unter dem Dach der Autonomen Region Trentino - Alto Adige „vereint“ und sollen daher quasi doppelt bluten. Allein auf Bozen-Südtirol bezogen hießen Montis Maßnahmen, dass die Landesregierung für die kommenden beiden Jahre auf ungefähr 850 Millionen Euro verzichten müsste – bei einem Haushaltsvolumen von rund fünf Milliarden Euro.

Käme dies tatsächlich so, will sagen: Setzte sich Monti durch – wonach es aufgrund bisheriger Zustimmung in den beiden römischen Parlamentskammern zu allen getroffenen Maßnahmen aussieht – so bedeutete dies nicht nur den glatten Bruch des „Mailänder Abkommens“, sondern darüber hinaus statuarischer Bestimmungen der Südtirol-Autonomie. Das 2010 in Kraft getretene Abkommen ist von Landeshauptmann Luis Durnwalder, der es unterzeichnete, und der Südtiroler Volkspartei (SVP) als „Garant der Finanzsicherheit“ gerühmt worden. Es hat zum Inhalt, dass 90 Prozent aller Steuereinnahmen direkt in Bozen verbleiben und nicht nach Rom gehen, worauf dann – wie stets zuvor –  in jährlich wiederkehrenden Verhandlungen zwischen Landes- und Zentralregierung darüber befunden wird, wie viel nach Südtirol zurückfließt.

Zugleich hat Südtirol Kompetenzen übernommen und somit finanziert, womit der Staat entlastet wird. Und mit einer Kostenübernahme im Ausmaß von jährlich 100 Millionen Euro entlastet Bozen Rom zusätzlich von weiteren staatlichen Aufgaben und Maßnahmen für Gebietskörperschaften, welche direkt an Südtirol angrenzen. Wobei sich alsbald herausstellen sollte, dass der Gesamtstaat den Vertrag allein schon dadurch verletzte, das diese Gelder von Rom zum Teil einbehalten, zum Teil in Gebiete transferiert wurden, die eben nicht an die Provinz Bozen-Südtirol angrenzen. Weshalb Bozen den Rekursweg beschritt.

Der völkerrechtliche Hintergrund

Was Monti der Provinz Bozen-Südtirol nun weiters aufzubürden gedenkt, bricht nicht nur dieses Abkommen, sondern verletzt das Südtiroler Autonomiestatut eklatant. Dieses resultiert aus dem 1946 in Paris geschlossenen Gruber - De Gasperi-Abkommen. Das ist nicht allein Bestandteil der italienischen Verfassung. Es führte über die Implementierung 1948 als Erstes Statut, zwei UN-Resolutionen 1960/61, die Arbeit der Neunzehner-Kommission und 137 Maßnahmen zum Schutz der Südtiroler sowie den so genannten Operationskalender zum Zweiten Autonomiestatut von 1972. Dieses stellt über die Paket-Erfüllung und die österreichische Streitbeilegungserklärung 1992 vor den Vereinten Nationen eine völkerrechtlich bindende Verpflichtung Roms dar. Womit zugleich der Jahrzehnte währende Südtirol-Konflikt beseitigt wurde und Italien Österreich als Schutzmacht der Südtiroler anerkannte.

Just diese internationale Verpflichtung, verbunden mit dem Eingriffsrecht Wiens – nach vorausgehender Anrufung durch Bozen – stellt Monti gleich doppelt infrage. Zum einen verstößt sein einseitiges Vorgehen – nämlich finanz-, sozial- und steuerrechtliche Bürden, welche Südtirol treffen, ohne das Einvernehmen mit der dortigen Landesregierung gesucht zu haben, – klar gegen das Autonomiestatut. Zum anderen stellt er mit Aussagen, wonach es bezüglich der Südtirol-Autonomie um „inneritalienische Probleme" gehe, die Respektierung einer internationalen vertraglichen Verpflichtung Italiens infrage. Und fällt damit in jene konfliktreiche Düsternis zurück, welche vor der italienisch-österreichischen Streitbeilegung geherrscht hat, als Rom die Südtirol-Problematik stets als „inneritalienische Angelegenheit“ hingestellt hatte, bis Giulio Andreotti dies mit seiner Note vom April 1992 beendete.

Da mögen Landeshauptmann Durnwalder und  SVP-Chef Richard Theiner noch so sehr betonen, Monti solle „die internationale Absicherung der Autonomie und damit die besondere Rolle Österreichs für Südtirol respektieren"; da mögen sie wie in einer tibetanischen Gebetsmühle den Standardsatz „Österreich ist und bleibt unsere Schutzmacht" wiederholen: Viele Südtiroler werden sie damit ebenso wenig besänftigen können wie ihre eigene Sorge darüber, dass Montis Verhalten und damit das Verhalten Roms insgesamt den Deutsch-Südtiroler Oppositionsparteien Aufwind verschafft, die „Los-von-Rom-Stimmung“ begünstigt und sozusagen automatisch die Selbstbestimmungsfrage aufwirft.

Gerade an dieser Aussage Montis zeige sich, wie wichtig es sei, bei der Selbstbestimmungsforderung und -diskussion das Modell Rückkehr zu Österreich nicht aus den Augen zu verlieren, sagt die Landtagsabgeordnete Eva Klotz von der Partei „Süd-Tiroler Freiheit" und wirft der SVP „Verzichtspolitik" vor.  Die Abgeordnete Ulli Mair, Chefin der Freiheitlichen, nannte Montis Aussage „den Wahnsinn" schlechthin. Derartiges kenne  man „im Normalfall nur aus dem nationalistischen italienischen Lager“. Bedrohlich sei für Südtirol auch die angekündigte Verfassungsreform, welche ausdrücklich vorsehe, dass der Staat künftig nicht mehr gezwungen sein solle, in haushalts- und finanzpolitischen Fragen das Einvernehmen zu suchen, weshalb Regionen und Provinzen mit autonomen Befugnissen römische Vorgaben zu akzeptieren hätten und der Gang vors Verfassungsgericht von vornherein ausgeschlossen wäre. Frau Mair plädierte neuerlich für die Freistaatslösung; Südtirol habe seine Zukunft selbst in die Hand zu nehmen.

„Los-von-Rom“-Gruppen werden stärker

So hat unterm Brenner längst eine Diskussion darüber an Breite gewonnen, ob der Ende des Ersten Weltkriegs von Italien annektierte und diesem im Friedensvertrag von St. Germain-en-Laye 1919 zugeschlagene südliche Landesteil Tirols im Stiefelstaat verbleiben oder seine Zukunft anderswo suchen sollte.

Schon einmal, im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands 1989/90, war eine Debatte darüber in Gang gekommen: Ob die Südtiroler – bei Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts – darüber befinden können sollten, für ihr Land, das als Autonome Provinz Bozen-Südtirol auch nach dem Zweiten Weltkrieg bei Italien verblieb, (vorerst) nach einer Freistaatslösung zu streben (und später) oder sogleich nach Österreich rückgegliedert und also mit Nordtirol zu vereinigen sei. Mit den Andreas-Hofer-Feiern 2009, im Gedenken an die Tiroler Volkserhebung 1809, hatte sie abermals Auftrieb erhalten.

Die damaligen Antworten, gegeben von den politischen Kräften, die in Bozen, Innsbruck, und Wien das Sagen haben – der römische Standpunkt war, ohne ihn sonders zu erfragen, ohnedies klar – lautete: Mit der Erweiterung der EU durch die Mitgliedschaft Österreichs (1995) und dem mittels des Schengen-Regimes vollzogenen Entfernen der Schlagbäume verliere der Brenner seinen Charakter als „Unrechtsgrenze“. Mit dem Entfall von Grenzkontrollen sowie der grenzüberschreitenden Kooperation, mit gemeinsamen Landtags- sowie Regierungssitzungen und dergleichen mehr wachse wieder zusammen, was einst getrennt worden war. Die Landeseinheit erwachse daher gleichsam aus dem Prozess ihrer Europäisierung. Und die seit 1945 in Bozen regierende Sammelpartei SVP sah statt in der Ausrufung des – nachgerade in ihrem Parteistatut verankerten – Selbstbestimmungsrechts sowie den Freistaats- und/oder Rückgliederungsgelüsten, wie sie vornehmlich die Opposition propagiert,  (auch in Innsbruck und Wien) die Zukunft des Landes(teils) in der „Dynamisierung seiner Autonomie“.

Die SVP hat merklich an Strahlkraft eingebüßt, ihre Position ist seit der Landtagswahl 2008 geschwächt, wo sie nur noch über 18 von 35 Sitzen verfügt. Mitunter lässt sie sich auf Händel mit italienischen Parteien ein, die ihr früher nicht in den Sinn gekommen wären. Und die geeignet sind, den Oppositionsparteien und deren Begehr weiteren Zulauf zu garantieren. Der wird von einem Skandal im Landesenergieversorger SEL AG befördert, dessen personelle Verflechtungen mit ihr der SVP schaden.

In der Zukunftsfrage plädieren die „deutschtiroler“ Oppositionsparteien – Freiheitliche (fünf Sitze), Süd-Tiroler Freiheit (zwei Sitze) und Union für Südtirol (ein Sitz) – für einen „Freistaat Südtirol“ oder für „Rückkehr zum Vaterland Österreich“; jedenfalls verbindet sie trotz Nuancen in der politischen Betrachtung und gelegentlicher Reibereien zwischen Personen das „Los von Rom“.

Hinter derartige Forderungen stellt sich ein großer Teil der – parteipolitisch zwar neutralen, aber mit politischen Aussagen immer öfter präsenten – Schützen. Das sind jene traditionsreichen Verbände, die in beiden Landesteilen verankert sind und ihre Heimattreue seit dem Maximilianischen Landlibell von 1511, in welchem die Freiheiten (der Stände) Tirols kodifiziert wurden, stets unter Beweis stellten.

Darauf berufen sich eigentlich auch alle Landtagsparteien Südtirols – außer den italienischen und  den „interethnischen“ Grünen. Auch unter der Südtiroler Jugend finden separatistische Anwandlungen Gehör, und sogar in Verbänden Wirtschaftstreibender wird die Option eines selbstbewussten, eigenständigen „Südtirol außerhalb Italiens“ nicht (mehr) verworfen. Ganz offen sprechen Handelstreibende, Touristiker, Industrielle und Handwerker darüber, dass sie, je mehr sich die „Krise Italiens auswächst“, ihre unternehmerische Zukunft „anders ausrichten“. Nicht wenige investieren vermehrt in Österreich und Deutschland.

Österreichische Staatsbürgerschaft für Südtiroler?

Im Nationalrat zu Wien lässt die FPÖ verlauten, Österreich müsse „Südtirol die Möglichkeit geben, sich dem italienischen Abwärtsstrudel zu entziehen". Eine erste Möglichkeit sei die Gewährung der Staatsbürgerschaft für Südtiroler. In Wien wie in Bozen wird auf das Beispiel Ungarns verwiesen: Budapest verleiht allen Magyaren außerhalb des Landes, die sie beantragen und ihr Ungarntum nachweisen, die Staatsbürgerschaft.

Das ist in der EU umstritten, und in Wien hat das Innenministerium Bedenken. Doch in einem Gutachten des Innsbrucker Rechtswissenschaftlers Günther Obwexer und in Stellungnahmen des Verfassungsdienstes des Bundeskanzleramts wird die Möglichkeit der entsprechenden Gesetzesanpassung – und also Erteilung der Staatsbürgerschaft – für rechtskonform gehalten. Dafür hat eine Bürgerinitiative 22 000 Unterschriften gesammelt; und dafür signalisiert auch die SVP-Führung Sympathie. Insofern ist „die doppelte Staatsbürgerschaft für Südtiroler nur noch eine Frage des politischen Willens", den aber SVP und österreichische Regierung „doch nicht aufzubringen gewillt“ seien, lassen die Oppositionsparteien verlauten.

Im Vorjahr hat die Süd-Tiroler Freiheit zudem in der Gemeinde Ahrntal – sie besteht aus mehreren Ortschaften und hat knapp sechstausend Einwohner – ein „Selbstbestimmungs-Referendum“ organisiert. Dabei sprachen sich 95 Prozent derer, die daran teilnahmen, für die Einforderung und Anwendung des Selbstbestimmungsrechts aus. Bei einer Beteiligung von nur 31 Prozent der Wahlberechtigten kann zwar von Repräsentativität nicht gesprochen werden, zumal sich der Wahlerfolg der Partei Süd-Tiroler Freiheit bei der Kommunalwahl in der Gemeinde (2010) prozentual mit diesem Ergebnis nahezu deckt; woraus hervorgeht, dass offenkundig lediglich ihre Anhänger am Referendum teilnahmen.

Doch so anfechtbar das Ergebnis auch sein mag, es gänzlich zu negieren wäre fahrlässig. Denn den Charakter eines Stimmungsbarometers trägt es. Würden auch die beiden anderen Oppositionsparteien bei einem landesweiten Referendum mitmachen, so es in Italien nicht zu einer wirtschafts- und finanzpolitischen Erholung käme, so geriete auch die SVP unweigerlich in den Sog des Begehrens „Los von Rom“.

Sie könnte sich dem Selbstbestimmungsverlangen wohl nicht länger mit der Begründung entziehen, Voraussetzung dafür sei erstens, dass Rom völkerrechtliche Verträge missachte; und zweitens sei zu seiner Durchsetzung – nach positivem Ausgang – der Wille und die Kraft Österreichs vonnöten, des Vertragspartners Italiens. Beides ist nicht gar so irreal, wie es noch scheinen mag. Montis ungenierte Zugriffe auf Südtiroler Geld und mühsam errungene Autonomie setzen die SVP zusehends ins Unrecht.

Wenn die SVP in diesem  Gärungsprozess nicht mehr zu bieten hat als die Proklamation der „Vollautonomie“ – womit sie eingesteht, dass es sich im stets gepriesenen „Modell Südtirol“ allenfalls um eine Halb- oder Teilautonomie handelt – so erlebt sie womöglich ein „blaues Wunder“.

Herrolt vom Odenwald ist deutsch-österreichischer Historiker und Publizist

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