Orbán und Schüssel – und politische wie publizistische Mainstream-Rituale

Wer seit fast drei Jahrzehnten im politischen Journalismus tätig ist – und dies seit 18 Jahren in Wien – kennt die Rituale der mainstream-publizistischen Verdammnis. Wolfgang Schüssel, der dies zumindest seit dem Jahreswechsel 1999/2000 als politisch Handelnder und reformerisch Gestaltender selbst leidvoll erfahren hat, kennt sie umso mehr.

Man hätte sich daher geradezu wundern müssen, wenn jetzt, da sich der österreichische „Altkanzler“ zur Halbzeit der Regierung Orbán im Nachbarland Ungarn in erfrischender – und zutreffender – Weise löblich geäußert hat, dieses Ritual, das der Philosoph Rudolf Burger einst mit dem schmückenden Beinamen „antifaschistischer Karneval“ versah, ausgeblieben wäre. Schüssel hat mit seiner Laudatio auf Orbán im ungarischen Fernsehen sowie in der Nachrichtenagentur MTI dankend Solidarität mit dem Nachbarn bekundet, der ihn seinerzeit – mit nur wenigen anderen – gegen die EU-Sanktionen des Jahres 2000 in Schutz genommen hatte. So weit, so gut.

Vor zwei Jahren hat die nationalkonservative Regierung Orbán in Ungarn die Macht übernommen. Sie beendete damit eine sozialistisch-liberale Herrschaft, die – erstmals im Nachwende-Ungarn – zwei parlamentarische Legislaturperioden währte. In diesen acht Jahren, in denen Gordon Bajnai, der parteilose, aber von den Sozialisten gestützte Ministerpräsident des Übergangs, schließlich zwischen 2009 und der Parlamentswahl im Frühjahr 2010 die wirtschafts- und finanzpolitische Reißleine zog, war das Land beinahe zugrunde gerichtet worden. Entsprechend fiel das Erbe aus, welches Orbán übernahm und, vom Wähler mit einer komfortablen Zweidrittelmehrheit im Parlament ausgestattet, seit Sommer 2010 zu beseitigen sucht – mit reichlich unkonventionellen Mitteln. Das schafft ihm Verdruss, außerhalb Ungarns weit mehr als daheim.

Es sind besonders Stimmen aus Deutschland und Österreich, politische wie publizistisch-massenmediale, die in Ungarn so etwas wie die schleichende Abschaffung des Rechtsstaats wähnen. Es schwoll der Chor jener an, die, wie Martin Schulz (SPD), heute Präsident des Europaparlaments, Orbán der „Säuberungspolitik“ bezichtigten und schon während des ungarischen EU-Vorsitzes im ersten Halbjahr 2011 den ominösen Artikel 7 des EU-Vertrags ins Spiel brachten, wonach ein Mitgliedsland mit Sanktionen bis zum Stimmrechtsentzug in den Unionsgremien belegt werden kann, so es „gegen demokratische Grundsätze verstößt“.

Ähnlich die Österreicher Hannes Swoboda (SPÖ) und Ulrike Lunacek, seine Parlamentskollegin von den Grünen. Ungarn nannte der luxemburgische Außenminister Asselborn einen „Schandfleck“. Unter Beifall des Liberalen Guy Verhofstadt sieht Daniel Cohn-Bendit Orbán „auf dem Weg, ein europäischer Chavez zu werden, ein Nationalpopulist, der das Wesen und die Struktur der Demokratie nicht versteht". Vergleiche mit der „gelenkten Demokratie“ des russischen Präsidenten Putin oder gar des Autokraten Lukaschenko in Minsk sind wohlfeil.

„Das ist unverständlich und ungerecht", sagte Schüssel in Budapest zu Recht. Unübersehbar ist, dass es die hauptsächlich im links der Mitte angesiedelten Spektrum politisch korrekten Moral- und Tugendwächter stört, dass in Budapest eine nationalkonservative Regierung im Amt ist. Dass die Magyaren im Frühjahr 2010 Sozialisten (MSZP) und Liberale (SZDSZ), die nach acht Jahren Regierungszeit ihren Nachfolgern ein abgewirtschaftetes und vor dem Abgrund stehendes Land hinterließen, nicht einfach nur abwählten, sondern politisch marginalisierten und Orbáns Bürgerallianz (Fidesz) sowie deren festen Bündnispartner Christdemokratische Volkspartei (KDNP) mit einer satten Zweidrittelmehrheit im Parlament ausstatteten. Die er seitdem unbeeindruckt von Kritik nutzt, um das Land von Grund auf umzubauen. Worin ihm – man darf sich von so genannten Massendemonstrationen nicht den Blick verstellen lassen – die Mehrheit der Bevölkerung (noch immer) folgt, was ihn aber im politisch korrekten Europa verdächtig macht, wo man ihn – im günstigsten Fall – des „Cäsarismus“, „Bonapartismus“ oder „Horthyismus“ zeiht.

Die angebliche Zensur der Medien

Wogegen verstößt Orbán in den Augen seiner in- und ausländischen Kritiker? Er gängle die Medien, kneble sie und wolle sie unter seine Kontrolle bringen, behaupten sie. Dass in Ungarn ein Regulieren und Zurechtstutzen seiner nicht ohne Zutun ausländischer Verlagshäuser und Privatsender wild wuchernden Medienlandschaft nach dem Vorbild westlicher Gebräuche vonnöten ist, können nicht einmal die jetzt opponierenden Sozialisten und die von diesen abgespaltene „Demokratische Koalition“ (DK) des vormaligen Ministerpräsidenten und MSZP-Chefs Ferenc Gyurcsány – ein milliardenschwerer Großunternehmer, der gegenwärtig seine mutmaßlich plagiierte Doktorarbeit nicht finden kann – ernsthaft bestreiten, die es selbst versucht hatten.

Außerhalb Ungarns  macht(e) sich kaum jemand die Mühe, über Zustand, Reichweite, den enormen Verschuldungsgrad der ungarischen „Staatssender“, den sie seit Jahren vor sich herschieben, und über deren Reformresistenz Bemerkungen zu verlieren. Oder etwa einen durchaus angebrachten Vergleich beispielsweise mit dem ORF  anzustellen, wo – bei einer Bevölkerung von achteinhalb Millionen potentiellen Zuschauern respektive Zuhörern gegen zehn Millionen in Ungarn – unter dem amtierenden „Spar-General“ 500 Beschäftigte ausscheiden mussten. Wogegen sich kaum Stimmen regten. Betretenes Schweigen herrschte unter westlichen Kritikern, die sich in Sachen Ungarn zum Richter aufschwingen, auch über den Murdoch-Medienskandal, darein beide britischen Traditionsparteien verwickelt waren/sind. Dagegen ist die medienpolitische Suppe im Pannonischen Becken recht dünn.

Die Ungarn wollten nach ihren in den Jahren 2002 bis 2010 gesammelten Erfahrungen eine Regierung haben, die eine „grundlegende politische Wende“ versprach. Orbán ist angetreten, sie auch zu vollziehen. Dass die Bevölkerung die – in den Augen europäischer Sozialisten, Sozialdemokraten, Grüner und Liberaler  – „falsche Regierung“ wählte, dürfte der eigentliche Grund für die Maßregelung der Regierung Orbán und seiner ursprünglich „liberalen“ Partei sein, die er in den letzten 15 Jahren konsequent in eine Mitte-rechts-Sammlungspartei umformte.

An Bertolt Brechts Diktum anlässlich der niedergeschlagenen Erhebung rund um den 17. Juni 1953 mag man sich erinnert fühlen: „Da sich herausgestellt hat, dass unser Volk eine dumme Hammelherde ist, empfehlen wir der Regierung, sich ein anderes Volk zu wählen“; doch in Ungarn ist das 56 Jahre nach den Erfahrungen von 1956 geradezu umgekehrt. Die Verwandlung des Landes und der gesamten politischen Landschaft im Sinne einer Wende, welche nicht mehr leicht rückgängig zu machen sein könnte, die Orbán mit der höchstwahrscheinlich einmaligen Zweidrittelmehrheit vorantreibt, ist der eigentliche Grund für die Erregung und für Feindseligkeiten seiner Gegner im Land, deren Kritik draußen gern übernommen wird.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die US-amerikanische Botschafterin in Ungarn, Eleni Tsakopoulos Kounalakis, bezüglich des Zustands der ungarischen Demokratie ihren Gesprächspartnern aus der ungarischen Opposition und aus kritisch-intellektuellen Kreisen entgegenhielt: „Solange eine Regierung im Rahmen demokratischer Wahlen abgewählt werden kann, kann nicht von einem Ende der Demokratie gesprochen werden.“ Und Außenministerin Clinton, die während einer Stippvisite aus Anlass der Gründung des Lantos-Instituts im ungarischen Parlament durchaus deutliche Worte an Orbán richtete, ihren Gesprächspartnern aus der ungarischen Opposition aber gleichermaßen ausrichtete: „Die Zweidrittelmehrheit der Regierung ist das Ergebnis von freien Wahlen.“

Gott, Volk und Stephanskrone in der neuen Verfassung

Was macht Orbán noch verdächtig? Dass seine Regierung als erste massiv gegen die Zigeuner-Hatz eigentlich verbotener paramilitärisch in Erscheinung tretender „Garden“ vorgeht? Gewiss nicht, nur blenden seine Kritiker dies geflissentlich aus. Dass es während des ungarischen EU-Vorsitzes auf Initiative Ungarns zur Festlegung einer verbindlichen Roma-Strategie gekommen ist? Das wird meist ebenso übergangen wie die Zusage, trotz Reduktion redaktionellen Personals 15 entsprechend Ausgebildeten aus der Roma-Minderheit den Weg in die öffentlich-rechtlichen Medien zu ebnen.

Mit der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit ist das von Orbáns Regierung eingebrachte neue Grundgesetz beschlossen worden. Darin wird nicht nur die „Heilige Krone“ zur Wahrung der historischen Kontinuität der Nation verehrt, sondern auch der „Segen Gottes“ für deren Gedeih erfleht. Ungarn gehört damit vom 1. Januar 2012 an zu jenen wenigen Ländern in Europa, die einen Gottesbezug in der Verfassung haben. Was soll daran schlecht sein, zumal es sich um eine wörtliche Sentenz aus der Nationalhymne handelt, an der in der EU, so weit bekannt, seit Ungarns Aufnahme 2005 niemand Anstoß genommen hat?

Außer, dass die Anrufung Gottes aus dem Blickwinkel religiös Indifferenter und all derer, die sich „freisinnig“ dünken, als geradezu provokative Regelverletzung ausgelegt wird. Im übrigen sind von der EU seinerzeit an der Mediengesetzgebung verlangte Korrekturen längst umgesetzt und soeben auch Passagen, die der ungarische Verfassungsgerichtshof (laut Kritikern angeblich „Orbán-hörig“) für nichtig erklärt hatte, geändert worden.

Sodann das Bekenntnis zur einen Nation, im wohlverstandenen Sinne ihrer historisch, sprachlich und kulturellen Bande über die Grenzen des 1920 um zwei Drittel des damals verlorenen Territoriums Ungarns hinaus. Antieuropäisch ist das ebenso wenig wie eine Gefahr für die Grenzen in Europa, die doch wohl seit den Kriegen nach der Auflösung Jugoslawiens feststehen und als unverrückbar gelten können. Nichts ist verwerflich daran, dass sich das Vaterland Ungarn – fern jedweden territorialen Verlangens – für beträchtliche magyarische Volksgruppen in seiner Nachbarschaft verantwortlich fühlt. Auch nicht, dass es für deren kulturelle Autonomie und regionale Selbstverwaltung eintritt. Und sich, wie all jene, die darin das geeignete Mittel zur Eindämmung und Überwindung historisch bedingter Minderheitenkonflikte sehen, für einen wirksamen, EU-weit rechtlich verbürgten Volksgruppenschutz einsetzen.

Außerhalb Ungarns erregt schließlich auch das Bekenntnis der Regierung Orbán zur Familie Unmut, besonders deswegen, weil die neue Verfassung die Gleichstellung der Gemeinschaft aus Mann und Frau mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften ausschließt. Auch damit fordert Orbáns Ungarn den Zeitgeist heraus und setzt ihm ein Stück christlich geprägten Wertekanons entgegen. Womit es sich wie in vielem anderen der politischen Korrektheit entzieht, welcher sich all jene bedienen, die ständig das Wort vom „Verstoß gegen die europäischen Werte“ im Munde führen.

Vorwurf mangelnder Haushaltsdisziplin

Im Streit über das Budgetdefizit waren die EU-Finanzminister der Kommissionsvorgabe gefolgt, Budapest wegen „unsolider Haushaltspolitik seit Beitritt zur Union 2004“ 29 Prozent der Mittel, die es aus dem EU-Kohäsionsfonds erhielte – das sind 495 Millionen Euro – zu entziehen, sollte Ungarn nicht bis Mitte des Jahres durch geeignete Maßnahmen ersichtlich machen, dass es künftig bei der Defizitgrenze von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bleibe. Die Entscheidung darüber steht im Juni an.

Das Brüssler Vorgehen hat in Budapest zu großem Unmut geführt. Nicht allein, dass just die konservative Regierung Orbán alles getan hat, um die unter ihren sozialistischen Vorgängern extrem ausgeweitete Staatsverschuldung – von 52 Prozent BIP 2002 auf 83 Prozent BIP 2009 –  einzudämmen. Zu Recht sagt Schüssel daher, dass die berechtigte Kritik hinsichtlich des ungarischen Budgets „an die Vorgängerregierung zu richten“ sei, die die massive Verschuldung überdies in einer Phase „prosperierender Weltwirtschaft" angerichtet habe. Damals habe niemand Kritik erhoben.

Viele Magyaren bringt auch der Umstand gegen „das EU-Diktat“ auf, dass die Kommission dem Eindruck nach „mit zweierlei Maß misst“, wie es etwa die österreichische Finanzministerin Maria Fekter im Kreise ihrer Ressortkollegen zum Ausdruck brachte, unter denen die Daumenschrauben gegen Ungarn höchst umstritten waren. Denn parallel zum an Ungarn statuierten Bestrafungsexempel wurde das gebeutelte und gegenwärtig zudem an einer Banken-Krise laborierende Euro-Land Spanien „für begonnene Reformen“ belohnt, weshalb Madrid 2012 sogar mehr neue Schulden machen darf als ihm ursprünglich erlaubt gewesen sind. Und zur selben Zeit schüttete dieselbe EU abermals 140 Milliarden Euro ins bodenlose Fass Griechenland, wo sich jetzt die radikale und gemäßigte Linke anschicken, die EU zu erpressen.

Selbst Martin Schulz, alles andere als ein Freund Orbáns, kritisierte die EU-Kommission für deren Entscheidung, die sich als „kontraproduktiv erweisen“ könnte. Immerhin: Soeben hat Brüssel signalisiert, dass der Freigabe der Mittel für Ungarn aus dem Köhäsionsfonds nichts mehr im Wege stehe, da Budapest die drei-Prozent-Auflage der Maastricht-Kriterien halten respektive sogar unterschreiten werde.

Ungarn fühlt sich von der EU ungerecht behandelt

Dass sich die große Mehrheit der Magyaren auch aus anderen Gründen ungerecht behandelt fühlt, geht aus Erhebungen des Instituts „Nézöpont“ hervor, wonach drei Viertel aller Befragten mit Aussagen Orbáns übereinstimmen, insbesondere mit jenen, wonach Ungarn „keine Kolonie“ sei und sich „Druck und Diktat von außen" nicht beugen werde. Ein Diktator ist Orbán beileibe nicht, sondern – vor allem anderen – ein ungarischer Patriot.

Schüssel hat im ungarischen Fernsehen auch unter Bezug darauf von der Wichtigkeit eines „modernen, besonnenen Patriotismus" in den europäischen Ländern gesprochen: Es müsse eine neue Perspektive geboten werden, „in deren Mittelpunkt Freiheit und Unabhängigkeit stehen" und die zugleich „die Dazugehörigkeit zur Heimat betont".

Doch mit Patriotismus, Vaterlandsliebe, eckt man an in der schönen neuen Welt. Schon als junger Mann hat Orbán – damals noch hinter dem Eisernen Vorhang – den Abzug der Sowjettruppen aus Ungarn und die Rehabilitation der Revolutionäre von 1956 verlangt. Die Magyaren sind ein freiheitsliebendes, geschichts- und nationalbewusstes Volk. Das haben sie nicht nur damals bewiesen. Deswegen schätzen sie es auch, wenn sich Orbán „Einmischung von außen“ verbittet. Auch mit der Festlegung des 22. Juli zum (nunmehr vierten) Nationalfeiertag – im Gedenken an den Sieg eines christlichen Heeres über die Türken 1456 – fordert Orbáns Ungarn den Zeitgeist heraus und entzieht sich der politischen Korrektheit, welcher sich alle bedienen, die ständig das Wort vom „Verstoß gegen die europäischen Werte“ führen.

Weshalb bei der Betrachtung des „unbotmäßigen Ungarn“ durchaus die Parallelität zum Nachbarland Österreich auf der Hand liegt. Die Szenerie erinnert an das – letztlich gescheiterte – Vorgehen gegen Wien anno 2000, wobei sich nicht wenige Politiker und Publizisten, die seinerzeit die „besonderen Maßnahmen“ („Sanktionen“) der damals 14 Regierungen gegen die fünfzehnte guthießen, heute dazu versteigen, die angeblich „von Orbán ausgehende Gefahr“ um „ein Vielfaches“ höher zu bewerten als das „Vergehen“ der „Schüssel-Haider-Koalition“. Vor zwölf Jahren wurde gegen die Entscheidung zur Regierungsbildung in Österreich kampagnisiert, heute trifft es der Ungarn „falsche“ Wahl.

Dr. Reinhard Olt ist  Korrespondent der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mit Zuständigkeit für Österreich und Ungarn, zeitweise auch für Slowenien und die Slowakei, seit 1994 mit Sitz in Wien.

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