Ukraine-Krieg oder: Es kommt meist ganz anders, als man denkt

Der russische Vormarsch scheint zu stocken, teils aus taktischen, teils aus materiellen Ursachen. Es fehlt an Waffen, an Munition und auch an Soldaten. Und die Gegenwehr der Angegriffenen "vor Ort" dürfte von den Russen, von ihrer Zentrale und deren Subzentralen, arg unterschätzt worden sein. Man hielt sich vorzeitig für überlegen – ein rascher Durchmarsch nach Kiew, und schon ist das Nazitum in der Ukraine erledigt. Erstens kommt es anders, als man will, zweitens anders, als man denkt.

Man sollte meinen, eine "Spezialoperation" könne eine "edle Befreiungsnation" (als die sich das neue Russentum im Kreml neuerdings versteht), doch wohl ohne "Gesichtsverlust" abbrechen und absagen.

Noch sind Ukrainer für die wahre Freiheit nicht reif genug, wie die ganze Welt bestätigen kann. Tiefere und längere Aufklärung sei nötig, ehe ein zweiter Versuch unternommen wird.

Und hätte das Putin-System einen neuen Code civil im Köcher, der weit über das System von Marx und Engels, Lenin und Stalin hinausgehen müsste, wäre die neue Aufklärung à la Kreml vielleicht auch außerhalb von Moskau glaubwürdig, es wäre vielleicht sogar das neue dritte Rom, für das es von Kyrill I. immer schon gehalten wurde.

Jetzt besteht für Moskau nur noch die Aussicht, den "Spezialkonflikt" (eine das Russentum bedrohende Ideologie in einem Nachbarstaat so rasch wie möglich zu entsorgen) zu einem Generalkonflikt zu erweitern: zu einem Krieg gegen NATO und EU oder am besten gleich gegen die USA.

Doch diese erklären standfest, weder in der Ukraine noch im heiligen Russland irgendwelche Eroberungsabsichten zu haben. Woraus für Russland folgt: Ein glaubwürdiger Anlass zu einem "erweiterten" Konflikt muss außerhalb gesucht werden: in der Arktis, auf dem Balkan, besser vielleicht in der Türkei, noch besser im Nahen Osten, wo man mit Syrien und vor allem mit den Mullahs bereits einen Verbündeten hat, der mit dem potentiellen Großfeind USA in Fehde liegt. Also haben wir schon einen Freund, der ein Feind unseres (Groß-)Feindes ist.

Wenn wir nun diesen in die Schranken weisen, wird auch der Kleinfeind Ukraine seinen Widerstand aufgeben. Und Deutschland und die EU werden ihren Widerstand möglicherweise schon früher aufgeben. Die wahre Sache der wahren Freiheit – Code civil hin oder her – kann nicht kaputt gehen. Putin und Kyrill haben den Sekt, um auf ihren Triumph anzustoßen, bereits vorgekühlt. Aber erstens kommt es anders, als man will, zweitens anders, als man denkt.

Leo Dorner ist ein österreichischer Philosoph.

Kommentieren (leider nur für Abonnenten)
Teilen:
  • email
  • Add to favorites
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Twitter
  • Print



© 2024 by Andreas Unterberger (seit 2009)  Impressum  Datenschutzerklärung