Warum die Ukraine zum Balkan passt - und damit zur EU

Wie kann die Ukraine die EU-Mitgliedstaaten davon überzeugen, dass die Zukunft der Ukraine in der EU liegt und zwar konkret in den 2020er Jahren gemeinsam mit den Balkanstaaten und nicht im 22. Jahrhundert? Viele Entscheidungsträger in der EU fehlt der Glaube an die Irreversibilität der Westintegration der Ukraine. Sie misstrauen der Regierung in Kiew und sprechen den Reformbestrebungen der Post-Maidan-Ukraine die notwendige Ernsthaftigkeit ab, um glaubwürdig die tiefgreifende Veränderung zu bewältigen, die es braucht, um die Ukraine EU-reif zu machen.

Deswegen scheuen viele speziell westeuropäische Politiker und Diplomaten vor der Verantwortung, der Aufgabe und den Kosten, die Ukraine auf EU-Beitrittsniveau zu heben. Diese Skepsis der Elite steht im krassen Widerspruch zu der immer positiver werdenden Einstellung der europäischen Öffentlichkeit, des Europäischen Parlament und der meisten Analysten und Experten, die immer deutlicher für die EU-Zukunft der Ukraine sind – viele schon seit der Revolution von 2004 und noch mehr seit der Revolution 2014 und speziell seit der Besetzung der Krim und dem Krieg in Donbas.

Manche im Westen sind aber besorgt wegen des immer unberechenbaren Russlands und der Reaktion Moskaus auf eine EU-Integration der Ukraine. Es wird nicht leicht werden für die Ukraine und die Freunde der Ukraine in der EU, diese Ängste und die negative Einstellung der politischen Klasse und Öffentlichkeit zu überwinden.

Ein Weg diese Widerstände zu überwinden, ist die Kooperation mit den neuen Mitgliedstaaten wie Kroatien und Bulgarien und den aktuellen EU-Kandidatenländern, um gemeinsam den EU-Prozess in der Ukraine zu beschleunigen.

Die Ukraine kann auf den Erfahrungen der Westbalkanstaaten aufbauen, von den Fehlern der Balkanstaaten lernen und diese vermeiden. Und durch die Kooperation innerhalb der südosteuropäischen (SEE-)Reformstrukturen den gleichen Status erreichen wie die exjugoslawischen Republiken und Albanien, die nun alle am Weg in die EU und Nato oder schon Mitglied sind.

Seit dem Kosovokrieg von 1999 hat Europa ein dichtes Netzwerk von regionalen Reform-Organisationen aufgebaut, die entscheidend – wenn auch oft einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt – zur Europäisierung des Balkans beigetragen haben. Oft unspektakulär aber effektiv. 

Die Ukraine sollte versuchen, in diesen Mechanismen mitzumachen, die Beitritts-Dynamik und den Wettbewerb der Mitgliedsstaaten nutzen. Die Ukraine ist zu sehr nach innen fokussiert und tendiert, sich selbst zu zentral zu nehmen und hat schon die SEE-Entwicklung in den 2000er Jahren versäumt. Sie hat viel aufzuholen, wenn wirklich eine EU-Mitgliedschaft das nationale strategische Ziel ist.

Es war eine gemeinsame europäische und amerikanische Initiative, nach den Balkankriegen den Stabilitätspakt für SEE zu gründen. Aus diesem sind alle SEE Reformstrukturen hervorgegangen, wie Regional Kooperation Council (RCC), Central European Free Trade Agreement (CEFTA), Regional Anti-Korruption Initiative (RAI) und South Eastern Europe Health Network (SEEHN) und noch rund zwölf andere. All diesen sollten nun die Ukraine und auch Georgien beitreten, wiederum mit EU- und US-Hilfe und Unterstützung. Es gilt Teile Europas gemeinsam zu sichern, zu stabilisieren und wiederaufzubauen. Alle erfolgreichen Strukturen dazu sind schon vorhanden und im Einsatz in SEE. Warum nicht für die aktuelle Krise nutzen und der Ukraine damit helfen?

Die Republik Moldawien ist in fast allen SEE-Strukturen schon dabei. Sie ist institutionell schon viel weiter als die Ukraine.

Sollte es der Ukraine gelingen, zumindest einigen der 16 SEE-Reforminitiativen beizutreten, könnte dies Kiew helfen, einen nationalen EU-Reformkonsens zu formen und sich als EU-Kandidat quasi neu zu erfinden und schließlich ein bedingtes EU-Beitrittsangebot ähnlich dem der Westbalkanstaaten zu erhalten.

Die Strukturen, die die Ukraine für eine Mitgliedschaft in Betracht ziehen könnte, sind

Darüber hinaus gibt es ein hochrangiges zwischenstaatliches Dialogformat, den sogenannten "Berlin-Balkan-Prozess", der politische Führerebene des westlichen Balkans und interessierte EU-Mitgliedstaaten regelmäßig zusammenbringt.

Diese informelle, aber wirkungsvolle Veranstaltungsreihe wurde von Deutschland 2014 initiiert, um die politische Stabilität, den EU-Beitritt und die nationale Sicherheit der südosteuropäischen Kandidatenländer zu fördern. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Initiative als Antwort auf die Ukraine-Aggression Russlands zu verstehen ist. Ohne diese Ereignisse von Februar und März 2014 hätte es den Berlin-Balkan-Prozess sicher nicht gegeben. Aber die Ukraine ist nicht dabei, obwohl die Lage am Balkan der in der Ukraine durchaus ähnlich ist. Nur die glaubwürdige Beitrittsperspektive kann Abhilfe schaffen für die gesamte EU-Peripherie. Hier geht es nicht um Geographie, sondern um Geostrategie

Die Ukraine, die sich selbst als südosteuropäisches EU Land neu erfindet und sich an verschiedenen Integrationsmechanismen Südosteuropas beteiligt, kann sich in den Augen von westeuropäischen Politikern, Diplomaten und Intellektuellen sowohl in praktischer als auch in symbolischer Hinsicht "europäisieren".

So wurde 2001 das Exzellenzzentrum für Finanzen von der slowenischen Regierung in Zusammenarbeit mit anderen ehemaligen jugoslawischen Ländern und Albanien im Rahmen des Stabilitätspakts für Südosteuropa eingerichtet. Seit 2015 ist die CEF eine vollwertige internationale Organisation mit Sitz in Bled (Slowenien) und profitiert von der Unterstützung der Niederlande. Sie konzentriert sich auf die Verwaltung der öffentlichen Finanzen, die Steuerpolitik sowie das Zentralbankwesen und bringt politische Entscheidungsträger und Finanzexperten für Kapazitätsentwicklung und Peer Learning zusammen. Zu den 12 Mitgliedsländern gehören nicht nur die westlichen Balkanstaaten, sondern auch Rumänien, Bulgarien, Moldawien und die Türkei.

Doch trotz der großen Bandbreite seiner Mitglieder und der offensichtlichen Relevanz für die Wirtschaft derjenigen Länder, die sich stärker in die EU integrieren wollen, schließt die CEF wie die anderen oben genannten Formate die Ukraine bisher nicht ein.

Tatsächlich hat Kiew bereits einschlägige Erfahrungen bei der Erlangung der Mitgliedschaft in einem ursprünglichen SEE-Format, da es – zusammen mit den westlichen Balkanländern, Georgien und Moldau – Vertragspartei des EU-Vertrags über die Energiegemeinschaft geworden ist (https://www.energie-community.org/). Die Mitgliedschaft war die Grundlage für den Erfolg der Energiereformen in der Ukraine seit 2014.

Wenn der große östlicher Nachbar Moldawiens, die Ukraine, deren Weg folgen würde, würde dies den SEE-Institutionen noch mehr Gewicht verleihen und auch Moldawien helfen. Die Ukraine würde die Bedeutung der Südosteuropäischen Integrationsstrukturen aufgrund ihrer Marktgröße und geopolitischen Relevanz als ein entscheidendes Land zwischen Russland und dem Westen erhöhen – eine Relevanz, die den Balkanländern fehlt.

Allerdings könnten einige Balkan-Eliten eine Mitgliedschaft der Ukraine in diesen Strukturen als eine Bedrohung für ihre Dominanz des derzeitigen SEE-Integrationsrahmens der EU sehen. Jedoch ist SEE nicht das Ziel, sondern nur das temporäre Trainingszentrum für die EU.

Allen Balkanpolitikern und -diplomaten, die die Annäherung ihres Landes an den Westen fördern, sollte jedoch klar sein, dass die Unterstützung der Ukraine in den letzten Jahren für viele Entscheidungsträger in Washington und Brüssel ein Zeichen für eine prowestliche Haltung geworden ist. Die westlichen Balkanländer sollten daher den Beitritt der Ukraine zu ihren Strukturen fördern, und zwar nicht nur aus Solidarität mit dem angeschlagenen östlichen Partner der EU, sondern auch angesichts ihres eigenen nationalen Interesses an engeren Beziehungen zu den USA, der EU und Deutschland.

Die Ukrainer tendieren dazu, aus einer etwas manichäischen Weltanschauung heraus für ihre Aufnahme in die EU zu argumentieren. Sie präsentieren sich oft als ausdrücklich nichtrussisch, anti-eurasisch und pro-westlich und bewerben die Relevanz ihres Landes als das Bollwerk der europäischen Zivilisation gegen die östliche Barbarei. Dieses Argument könnte wahr sein oder nicht - es ist aber keine Rhetorik, die in der EU auf Zustimmung trifft.

Die EU ist vielleicht so entstanden. Aber heute definiert sich die EU nicht mehr als antirussische Union - wie es Kiew gerne hätte. Das kann man bedauern oder nicht aber Kiew muss auf die Usance des Clubs eingehen und nicht die EU auf die Ukraine.

Brüssel will den Kontinent durch vertiefte wirtschaftliche Integration, partielle kulturelle Annäherung, kumulative bürokratische Standardisierung, immer mehr Demokratisierung, durch Antikorruptionsdialog und Rechtsstaatlichkeit befrieden und politisch vereinen. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses ist der geopolitische Ausgleich und eine nichtmilitärische Verteidigung – vor allem durch die wirtschaftliche Hebelwirkung der EU. Das ist oft unspektakulär und erzielt wenig Beachtung, aber wirkt auf Dauer erstaunlich erfolgreich, wie die ersten vier Erweiterungsrunden seit dem Ende des Kalten Kriegs beweisen.

Der Modus operandi der EU ist eine Häufung von Minischritten, die im Laufe der Zeit zu qualitativen Veränderungen in Richtung EU führen. Es geht halt nur Schritt um Schritt. Und der nächste Schritt für die Ukraine ist die Kooperation mit den anderen Partnern am Weg in die EU, die dann auch gemeinsam in der EU als Partner zur Verfügung stehen werden.

Ukrainische Diplomaten und Experten sind natürlich mit der besonderen postmodernen Natur der europäischen Integration und ihren Auswirkungen über die Grenzen der EU vertraut. Doch die breitere politische und intellektuelle Elite der Ukraine und insbesondere ihre Meinungs- und Parteichefs haben noch nicht ausreichend verinnerlicht, dass die Ukraine nur durch eine ernsthafte Anpassung an diesen Prozess Teil dieses Prozesses werden kann. Die oft bombastische Rhetorik der ukrainischen Vertreter, verschiedene PR-Kampagnen, übermäßig emotionale Appelle, weitreichende historische Bezüge und viele symbolische Gesten sind verständlich.

Sie sollten vor dem Hintergrund der epischen Konfrontation der Ukraine mit dem russischen Imperialismus, des enormen Leidens und Tausender Toten durch Moskaus anhaltenden Krieg gegen Kiew, der Rücksichtslosigkeit des internationalen Verleumdungskrieges des Kremls gegen den ukrainischen Staat gesehen werden. Für die Ukraine ist die EU daher heute sowohl als wirtschaftlich attraktives Projekt wie auch als ein impliziter Sicherheitsanbieter doppelt attraktiv.

Dennoch kann und wird die EU die bürokratische und geostrategische Logik ihrer Operation wegen des russisch-ukrainischen Krieges nicht ändern. Weitere Erfolge bei der europäischen Integration der Ukraine werden daher langwierigen Verfahren folgen müssen, die der komplizierten Formulierung und Ratifizierung des Assoziierungsabkommens durch die Ukraine oder der langwierigen Aushandlung und Umsetzung des Aktionsplans zur Visaliberalisierung mit der EU ähneln.

Die verschiedenen Kooperationsrahmen der westlichen Balkanstaaten mit Brüssel und Berlin bieten vorgefertigte Wege, um eine Strategie der schrittweisen Annäherung und Integration durch pragmatische statt rhetorische Mittel zu verfolgen. Neben der Förderung des laufenden Assoziierungsprozesses mit der Europäischen Union sollten die transnationalen SEE-Partnerschaftsprogramme und andere ähnliche Instrumente für die Umsetzung von Wissen, Regeln und Praktiken von Kiew und seinen westlichen Freunden aktiv studiert, angegangen und genutzt werden.

Es ist daher Zeit für einen neuen SEE-Politik der Ukraine – gemeinsam mit den SEE Partners in EU. Und manchmal ist ein kluger Umweg schneller als die Autobahn nach Westen, speziell, wenn die noch im Bau ist. 

Günther Fehlinger ist Vorsitzender der Nichtregierungsorganisation "Europäer für Steuerreformen" und Vorstandsmitglied der Aktionsgruppe für europäische und wirtschaftliche Integration des südlichen Balkans.

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